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Alles auf Anfang

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Hier im Hotel Böll, habe ich ein Zimmer gebucht, im Essener Norden, an meinem alten Schulweg. Eine billige Absteige. Hier soll ich mein neues Leben beginnen. Lächerlich.

Die Straßen sind regennass. Der Wind treibt Müll vor sich her. Die Häuserflucht, ein Schwarz-Weiß-Foto mit roter Ampel.

Zerzauste Erinnerungsfetzen, fossile Gefühle von Kindheit. Wusste nicht, wohin. Also nach Hause. Ist es nicht mehr. Zu lang war das andere Leben:

Frankfurt, da wo die Bücher wohnen, in den Kulturpalästen der großen Verlage. Buchkritiken und Lektoratsarbeit, Lesungen und Interviews, mitten im Leben eben. Dann Francoise, die Lebensliebe, zeigte mir, wie Leben geht, und Lust. Wir: Kopf und Zahl der gleichen Münze. Zwei Schuhe machen ein Paar. Dann kam Hannah, unsre kleine Fee. Glück pur.

An der Rezeption checke ich ein, nehme Schlüssel und Rollkoffer, sollte aufs Zimmer, ein wenig schlafen, kann aber nicht. Wenn ich da jetzt hochgehe … nein. Lasse meinen Koffer an der Rezeption, gebe den Schlüssel zurück und eile hinaus.

Später Nachmittag, Anfang November. Schieferwolken hängen tief. Der Wind will mir an den Hut, drücke ihn fest. Hände tief in den Manteltaschen gehe ich zügig die Hauptstraße lang. Biege in die Erste rechts in die Albstraße ein. Die Straße meiner Kindheit. Drei Kopftuchfrauen in schwarzen, langen Mänteln hasten vorbei, mit weißen Plastiktüten beladen. Kinder an Rockzipfeln. Der Regen setzt wieder ein. Ich stehe vor dem Haus Nummer 3, meinem alten Zuhause. Plötzlich rieche ich das Gusseisen der Werkzeugfabrik, die es nicht mehr gibt. Jäh fliegt mich das Gefühl von Kindheitsglück an. Ich schaue nach oben zum zweiten Stock rechts, unsere Wohnung. Links hat Tante Mia gewohnt. Hat mir erste Stücke auf dem Klavier beigebracht: „Der fröhliche Landmann“. Mein Gesicht ist nass von Regentränen. Spüre Scham.

Wenn ich es damals, in Frankfurt, wenigstens so stark gespürt hätte, dieses kolossale Glück. Aber es strahlt erst hell, wenn man im Dunkeln steht. Diese Unbeschwertheit, das leichte Leben, lange Abende mit Freunden bei Rotwein und Lammkeule, Kaffee-Orgien mit Kollegen im Büro, bei Erfolgen gab’s Prosecco. Und immer Hannah und Francoise, rund um die Uhr. Alles verschmolz zu einem großen Klumpen Gold.

Den Hut tief ins Gesicht gezogen, gehe ich zurück zur Hauptstraße. Weiß nicht, wohin. Halte ein Taxi an.

„Zur Rüttenscheider Straße“, sage ich.

„Ein bisschen früh für die Rü“, sagt der Fahrer und lacht. Lache auch, kurz und schmerzlos, will ihm nicht die Laune nehmen. Es reicht, wenn für mich die Welt untergeht. Die Rü, Kneipenmeile in Essen. Erkenne sie kaum wieder. Coole Lounge-Bars, hippe Restaurants. Glitzerwelt auch bei Regen. Ich gehe ins „Lorenz“, setze mich an die Theke, bestelle ein Bier.

Bis dann im schönsten Frankfurter Sommer das Licht ausging. Seelenfinsternis: Eine kleine Fee gegen ein großes Auto. Das war einfach nicht fair. Die Willkür saß am Steuer. Ihr war es egal, dass ein kleines Kind nicht mehr lachen, ein junges Mädchen nicht mehr heranwachsen durfte, zur Frau, die jemanden fände für die Liebe. Eine verbeulte Motorhaube gegen ein Bündel Kleidung mit was drin, was komplett zerbrochen war.

Nach dem zweiten Bier hänge ich Mantel und Hut an die Garderobe. Bestelle mir zum nächsten Bier einen Calvados. Er durchflutet mich mit einer Erinnerung an Sommerabende. Mit dem nächsten Bier merke ich, wie mir der Alkohol in den Kopf steigt und mich entspannt. Draußen faucht der Wind den Regen an. Menschen suchen rettenden Halt an Thekengeländern.

Francoise und ich legten unsere Herzen mit in den kleinen weißen Sarg. Herzlos, wie wir dann waren, trennten wir uns. Jeder trauert anders. Schmerz verbindet nicht. Geteiltes Leid ist halbes Leid, eine Lüge. Nach dem Desaster hatte ich wieder angefangen zu rauchen. Auch egal, alles egal.

Ich gehe vor die Tür und stecke mir eine an. Klopfe an die Scheibe und lass mir ein Bier bringen. Eine Frau steht neben der Tür, raucht auch. Will reden:

„So ’n Bierchen mit Kippe kommt gut, nee?!“

„Jau“

„Scheiß Wetter, was?“

„Mh.“

„Versteh’ schon.“

Sie geht hinein.

Die große Stadt am Main, ihr Rhythmus war mein Puls, ihre Energie lud meine Batterie. Sie, die mir die Chancen zu Füßen legte, mich nährte mit Arbeit, Geld und Ruhm, die mich Fremden aufgenommen und mir Freunde geschenkt hatte, diese großartige Stadt wollte mich nicht mehr. Sie spuckte mich aus wie einen alten Kaugummi. Und das nur, weil ich mein Lächeln verloren hatte. Mein Lächeln war die Währung für sie, mein Lächeln, mit dem ich mich dankbar zeigte für alles. Es ist mir aus dem Gesicht gefallen, direkt in die Grube.

Die Kneipe wird immer voller, immer lauter. Stimmen, Lachen, Gesichter und Körper, junge, schöne Männer und noch viel schönere Frauen, die lächeln und flirten und küssen und trinken und, und, und … Nichts macht einsamer, als allein in einer vollen Kneipe zu sein. Ich zahle und gehe. Es ist kalt, aber es regnet nicht mehr.

Die Kollegen mieden mich aus Unsicherheit. Ich mied sie aus Wut auf ihre heile Welt. Am liebsten hätte ich draufgehauen. Ich weiß, das ist nicht fair. War das große Auto fair? Wenn man in einem Verlag nicht mehr redet, ist man tot. Mein Chef fühlte mit mir, ich nicht mit ihm. Es ging nicht. Also ging ich. Hatte dann viel Zeit. Time for passion. Wieso bedeutet dieses Wort Leidenschaft und Qual zugleich?

Ziellos schlendere ich durch die Straßen meiner fremden Heimatstadt. Die Lichter der Cafés, Kneipen und Galerien kämpfen mit grellen Farben gegen das grantige Grau der Fahrbahnen und Fassaden. Der tief depressive Himmel fällt auf den nassen Asphalt. Ich suche nach Gefühlsankern und Wiedererkennen.

Trieb mich rum im Frankfurter Bahnhofsviertel, versuchte es mit Tränen. Einer, der auszog, um das Weinen zu lernen. Ein Märchen. Nach zehn Bier und sechs Korn ging’s manchmal. Dann war ich stolz. Ich stank nach Bier und Trauer. So hörte die Stadt auf mich zu lieben und machte mich zum einsamsten Menschen des Planeten. Mir waren die Mitleidsumarmungen der Frauen unangenehm. Mir erschien ausgesprochenes Mitgefühl als Lüge, als Obszönität. Der Einzige, den ich ertragen konnte, war mein Bruder. Der wohnte in Essen. Immer schon. Ein Fels in der Brandung. Ich fuhr zu ihm. Wir tranken Bier und erzählten uns Geschichten von früher. Manchmal weinte ich. Dann ging er in die Küche, holte den Ouzo aus dem Eisfach und schenkte ein.

Hier werde ich vielleicht eine neue Arbeit finden, als Verlagsassistent. Kann nichts anderes. Ich lache kalt auf.

„Montag: Vorstellungsgespräch! Reiß dich zusammen!“, rufe ich mir zu. Vor einer Eckkneipe stehen einige Taxen. Ich steige in eine und nenne dem Fahrer die Adresse meines Bruders.

Wir sitzen zusammen und erzählen uns Geschichten von früher und Neues von heute. Zwischendurch geht er nach Nebenan, um das Gästebett zu beziehen. Das Bier ist kühl, der Ouzo wärmt. Den Koffer kann ich ja morgen noch holen.

An Brüdern wie Felsen in der Brandung zerschellt man nicht. Sie retten einen vor dem Ertrinken. Bestenfalls.

Seelenzerrung

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