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Nach dem Dessert

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Es ging um ihn. Er war gestern fünfzig Jahre alt geworden. Jetzt wurde gefeiert. Es ging nicht anders. Herrmann Bomburg, Staatsanwalt, stand ungern im Mittelpunkt. Vor Gericht ja, aber nicht für Lobesreden.

Ein Geburtstag ist weder Verdienst noch Leistung, dachte er.

Etwa vierzig elegant gekleidete Menschen bildeten einen Halbkreis um den Redner. Herrmann stand am rechten Rand und ließ die Ode seines Ältesten über sich ergehen. Nicht ohne Stolz und einem Anflug von Peinlichkeit. Der Salon seiner Villa war festlich hergerichtet. Alle waren bewaffnet mit Sektflöten und Feierlächeln. So viele schöne Menschen.

Ihm gegenüber sah er sie. Grazil und geschmeidig zugleich, die Schönste von allen. Immer wieder flog sein Blick zu ihr hinüber. Er konnte es nicht lassen. Sie lächelte leise.

„… und ich bin stolz darauf, in deine Fußstapfen getreten zu sein. Nein, du hast mich nicht gezwungen, nicht genötigt gar, nur geführt in meinen wilden, hormongeschüttelten Zeiten als Gymnasiast, weder mit harter Hand noch mit Handschellen … (Vereinzeltes amüsiertes Kichern) …, sondern mit Verständnis und Beharrlichkeit hast du mich an meine Pflicht erinnert, ein nicht nur gutes, sondern das beste Abitur zu schaffen und mich auf mein Studium der Jurisprudenz zu konzentrieren.“

Ja, dich habe ich immer im Griff gehabt, Lutz. Nur ein folgsamer Sohn ist ein guter Sohn. Wenn du auch weiterhin auf mich hörst, wird es dir gut gehen. Fleißig bist du ja, aber dir fehlt die Fantasie. Rebecca ist da ganz anders, dachte er.

„Wie oft habe ich mir bei dir Rat geholt in schwierigen Fragen und wie oft hast du mich motiviert, nicht auf-, sondern alles zu geben. Getreu deinem Motto: Nicht das Vergnügen sei des Menschen Pflicht, sondern die Pflicht sei des Menschen Vergnügen.“

Herrmann musste grinsen: Wunderschön formuliert. Reden kannst du. Das muss ich dir lassen.

„Dadurch habe ich zwar eine Reihe von Besäufnissen mit meinen Kommilitonen verpasst … (wieder leichte Heiterkeit in der Runde) … aber wenn das meinem Ruf geschadet hat, dann nur bei den Zechern unter meinen Weggefährten. So konnte ich mit deiner moralischen und gleichwohl fachkompetenten Unterstützung schon in diesem Frühjahr mein erstes Staatsexamen summa cum laude feiern.“

Diese Selbstlobhudelei! Lutz, du bist so peinlich! Rebecca lächelte nicht mehr. Sie stieg ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

Herrmanns Blicke waren wieder bei ihr. Was hatte sie nur verärgert? Er lächelte sie an, schlug die Augen nach oben und hob leicht die Schultern. Da zeigte sie Grübchen und blitzte keck herüber. Sie verstanden sich wortlos.

Ein langes, silbernes Kleid mit einem hohen seitlichen Schnitz floss um ihre schlanke Gestalt. Das dunkle Haar war hochgesteckt, die Lippen signalrot.

Rebecca, seine kleine Prinzessin, achtzehn Jahre jung, seit gestern, am gleichen Tag geboren wie er. Das Collier hatte sie von ihm bekommen. Lutz, Bemerkung, so etwas schenke man doch eher seiner Frau und nicht der Tochter, hatte ihn getroffen.

„Und dieses Fest war, wie du weißt, im wahrsten Sinne des Wortes nicht von schlechten Eltern. Doch obwohl du in deiner so eigenen Bescheidenheit deinen runden Geburtstag lieber im Schoße deiner Familie feiern wolltest, hat Mamá die Organisation in ihre preußischen Hände genommen und diese „Festkutsche“ zu einem gesellschaftlichen Ereignis gelenkt, bei dem die Garde deiner beruflichen Weggefährten nicht fehlen durfte.“

Wie schön du bist. Seine Gedanken schweiften ab in die Zeit, als sie noch klein war. Das war die Phase, in der er an seiner Karriere arbeitete und selten zu Hause war. Doch wenn, dann spielte und tollte er mit ihr herum. Wenn er mit ihr Karussell spielte, juchzte sie vor Glück. Das war auch sein Glück. Er hatte sie schon immer gerne in den Armen gehalten, angefasst und sie war bei jeder Gelegenheit auf seinen Schoß geklettert. Das hatte sich auch in der Pubertät kaum geändert. Mit Bewunderung und heimlichem Schmerz hatte er das Knospen ihrer Brüste wahrgenommen, das Runden ihrer Hüften. Doch sie waren sich immer noch sehr nah gewesen, auch heute noch.

Auch heute noch? Kleine Schweißperlen einer unbestimmten Angst krochen leise auf seine Stirn.

„Und wir, die Familie, sind froh darum, dass sie alle gekommen sind, deine langjährigen Kolleginnen und Kollegen, die Mitstreiter für Recht und Ordnung und gegen das Verbrechen. Sie hätten sonst auch kein privates Wort mehr an dich gerichtet, im Gericht.“

Das fröhliche Lachen der Gäste auf die gelungene Pointe nahm Herrmann nicht mehr wahr. Er hatte immer häufiger ihre unschuldige Nähe gesucht. Sie hatte nie Angst vor ihm empfunden, warum auch? Doch er hatte Angst vor sich selbst, denn er wusste um die Erregung, die sie auslöste. Manchmal war er nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, nur um sie anzusehen, gelegentlich ihr Haar zu berühren, um dann schnell wieder hinauszuschleichen, gepeinigt von schlechtem Gewissen und noch schlechteren Wunschträumen. Völlig verstört hatte er dann nach solchen Besuchen stundenlang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich selbst nicht mehr verstanden, nicht mehr vertraut.

„Meine bescheidene Ode an dich, Papá, soll auch bald ein Ende finden, aber nicht ohne dein besonderes Engagement zu erwähnen, dass du in deiner Karriere als Staatsanwalt in deiner dir eigenen Beharrlichkeit gezeigt hast. Besonders am Herzen lagen dir, neben all den Opfern der Verbrechen aus Habgier und Gemeinheit, die Frauen und Kinder, die gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt wurden von perversen Psychopathen und brutalen Kinderschändern. All die Menschen, denke ich, sind dir, bei all ihrem Leid, zu ewigem Dank verpflichtet für deinen konsequenten Einsatz.“(Applaus)

Herrmanns Erinnerungen brachen sich Bahn, unaufhaltsam: Eines Abends, etwa vor einem Jahr, war sie spät zu ihm ins Wohnzimmer gekommen und hatte sich neben ihm auf die Couch gesetzt.

„Paps, wir müssen mal reden“, hatte sie begonnen und ihm fest in die Augen gesehen. Die gleiche Panik, die er auch jetzt spürte, hatte seinen Brustkasten umschlossen.

„Du, wir sind doch nicht nur Paps und Rebecca, wir sind doch auch … gute Freunde.“

„Na sicher, mein Schatz.“ Die Spannung löste sich aus seinen Muskeln.

„Hör mal, du weißt doch, dass ich einen Freund habe, den Jonas.“

„Das ist dein Freund? Ich dachte, es sei nur ein, na ja, netter Mitschüler.“

Er hatte seine Kränkung nicht verbergen können.

„Nein, wir gehen schon ein halbes Jahr miteinander. Guck nicht so traurig. Ja, und … gestern ist es passiert. Wir haben miteinander geschlafen. Und jetzt bin ich ganz durcheinander, ich kann gar nicht mehr denken, so richtig, ich bin so glücklich, das war so … wie ins All fliegen und einmal um den Mond. Ich glaube, ich liebe ihn, kann ich denn mit siebzehn schon lieben? Was ist das eigentlich: Liebe? Ist das die Liebe?“, kam es aus ihr herausgesprudelt.

„Was?“ Mehr hatte er nicht sagen können. Der Schmerz hatte ihm den Atem genommen und gleichzeitig die Ahnung einer Erlösung geschenkt.

Er hatte sie angestarrt, ohne zu wissen wie lang.

„Paps, ist das denn so schlimm?“ Der Zauber ihres Lächelns hatte ihn ganz eingenommen.

„Nein, Schatz, komm mal her!“ Und sie war ihm um den Hals gefallen, er hatte sie umarmt, sie wieder gespürt, gestreichelt, auf den Hals geküsst, sie hatte aufgeschaut, ihr Gesicht ganz nah bei seinem, ihn auf den Mund geküsst, „armer Paps“ hineingelächelt. Er hatte ihren Kuss erwidert, auf den ach so blühenden Mund, und nicht mehr aufgehört, war immer fordernder geworden, hatte seine Hände wandern lassen, immer gieriger, bis sie ihn sanft, aber bestimmt zurückdrückte, „Lass gut sein, Paps“, murmelnd. Er starrte sie an, sie schlug die Augen nieder.

„Entschuldige, ich wollte nicht …“, hatte er gestammelt, mit abgewandtem Kopf. Und sie war grußlos verschwunden.

Die ersten Tage danach hatten sie kaum miteinander sprechen und sich nicht anschauen können. Dann einmal doch, nach Wochen, hatte sie ihn gefragt, ob er böse auf sie sei. Nein, aber sie auf ihn, hatte er erstaunt gefragt.

„Ach was, Paps, ich lieb dich doch“, hatte sie gesagt mit ihrem koketten Grübchenlächeln. Die Erleichterung ließ ihn durchatmen.

„So lasst uns das Glas erheben auf dich, den großen Oberstaatsanwalt, den verständigen Kollegen und lieben Freund, auf dich, meinen und unseren Papá, auf den Gatten dieser wunderschönen Frau, die ich mit Stolz meine Mamá nennen darf, die ihrem Mann immer den Rücken frei gehalten hat und die dafür gesorgt hat, dass du bei all deiner Arbeit auch noch Zeit für uns Kinder gefunden hast.“

Seine Hände waren so feucht, dass er glaubte, das Glas nicht halten zu können. Er kramte ungeschickt ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Er spürte den strafenden Seitenblick seiner Gattin. Die anderen schienen nichts zu merken. Sie hörten Lutz zu, der immer noch redete.

Vater und Tochter hatten ihre alte Vertrautheit im Gespräch wiedergefunden, aber nur da. Wenn sie ihn jetzt einmal umarmte, spürte er die Erregung jedes Mal wie einen Stromstoß, der ihn so durchzuckte, dass er zu zittern glaubte, nach dem er sich aber immer wieder unendlich sehnte. So stahl er sich Blicke auf Bauch und Busen, unbemerkt. Lauerte ihr auf, jagte nach der Beute der Berührungen, beim Zähneputzen im Bad, beim Sonnenbaden im Garten, beim Auskleiden abends in ihrem Zimmer. Nachts ließ er seinen Fantasien freien Lauf, einsam und schuldbewusst. Bis heute war das so. Er litt.

„Ich erinnere mich noch wie heute an das Leuchten deiner Augen, als meine Schwester Rebecca geboren wurde. Und dieses Strahlen hast du bis heute bei ihrem Anblick nicht verloren. Ich muss zugeben, dass mich das hier und da auch mal mit Neid erfüllte. Doch die Liebe des Vaters zur Tochter ist eben eine zärtliche und zum Sohn eine helfende.“

Was hatte Lutz da gesagt? Hatte er etwas bemerkt? Will er mich jetzt hier vor allen Leuten … Kein klarer Gedanke war mehr in ihm. Er spürte die Nässe der Angst unter seinen Achseln. Das Hemd klebte am Rücken. Er roch den Gestank seiner Panik. Das Haar lag klatschnass am Kopf.

Hatte Rebecca nicht gesagt, sie wolle auch noch vor den Gästen sprechen? Irgendwas mit Überraschung? Will sie mich hier öffentlich hinrichten?

Panik ließ seine Hände flatterten wie kleine Vögel, die man kopfüber an den Füßen hält.

„Und, Papá, verstehe das nicht als Vorwurf, sondern als Zeichen eines besonderen Glücks, das ich dir zu genießen von Herzen gönne.

Ein Prosit, verbunden mit allen guten Wünschen für die nächsten fünfzig Jahre von mir, von uns, für dich, lieber Papá!“

Ein Brausen in seinen Ohren. Es wuchs und wuchs. Was war passiert? Die Gäste applaudierten, das war alles. Sie prosteten ihm zu. Langsam fand er zu seiner Fassung zurück und erwiderte die Geste, ein um das andere Mal, wie eine Marionette. Das Klingeln eines Löffels an ein Glas ließ den Beifall verebben. Rebecca trat vor. Es war noch nicht vorbei. Sie ergriff das Wort:

„Lieber Paps, ich nenne dich auch heute so, obwohl wir nicht alleine sind. Ich will es kurz machen, mein großer Bruder hat schon großartig genug geredet. Von mir auch alle lieben Wünsche für die Zukunft. Und …“

Jetzt wird sie mich an den Pranger stellen, vor aller Augen den Staatsanwalt der lüsternen Gier nach dem Körper seiner eigenen Tochter anklagen, von sexueller Belästigung, Nötigung und psychischer Qual sprechen.

„… dir meine Überraschung offenbaren. Zu unser beider Geburtstag lade ich dich ein, mit mir die Reise anzutreten, nach der du dich immer gesehnt hast, die Reise nach Venedig. Mamá musst du nicht um Erlaubnis bitten. Alles ist schon geklärt. Sie interessiert sich ja eh nicht so für Kunstgeschichte. Ich freu mich darauf, Paps. Ich liebe dich!“

„Rebecca, mein Liebes, ich … ich … bin sprachlos vor Überraschung. Ich kann jetzt gar nichts sagen“, stammelte Herrmann.

Seine Tochter rannte in seine Arme, sie umfingen und hielten sich wie damals und früher und vor einem Jahr. Er spürte ihren Kuss auf seiner Wange und roch den Duft ihres Haars, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub, und fühlte ihre Schenkel an den seinen und die alte Erregung und Sehnsucht und Sucht.

Die Gäste applaudierten gerührt. Sie lösten sich voneinander. Dann entschuldigte sich Herrmann, er wolle sich frisch machen vor dem Essen, während die Gäste Platz nahmen zum Diner.

Plötzlich war er ganz ruhig. Er ging hinauf in sein Arbeitszimmer, zog die Smokingjacke und das Hemd aus, streifte sich einen Pullover über und öffnete die alte Segelkiste. Er nahm ein starkes Seil heraus und, als ob er es gestern noch getan hätte, schlug er geschickt den Henkersknoten.

Er spürte die Tränen angenehm über seine Wangen laufen.

Langsam stieg er die Treppe hinauf zum Dachboden.

„Venedig, nur mit dir!“, flüsterte er lächelnd.

Sie fanden ihn nach dem Dessert.

Seelenzerrung

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