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Wie in Amsterdam, nur ohne Japaner

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Eine Stunde zu früh war er am Bahnhof, für ihn als Autofahrer ein fremdes Terrain. So selten, wie sein Auto ausfällt, so selten hat er einen Außentermin, aber gerade jetzt …

Am Automaten zieht Frank eine Fahrkarte: Köln hin und zurück. Viel zu früh ist er auf dem Bahnsteig, noch 43 Minuten Zeit bis zur Einfahrt seines Zuges.

Der Wind pfeift über die Gleise und durch die Haare der Wartenden. Frank zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu und schlägt den Kragen hoch, lässt seine Blicke schweifen und genießt die Anonymität. Fremde Frauen an den Gleisen werden Beute seiner Fantasie, schwebend zwischen Wünschen, Klischees und Wirklichkeit:

Zwei alte Frauen pflegen das Ritual ihrer Wiederholungen über Wetter und Fahrplan, wie ein altes Ehepaar.

Eine graue Frau ohne Alter in Bundfaltenhose und rosa Anorak mit Prinz-Eisenherz-Frisur, mager und flachbrüstig, sitzt auf der harten Bank, ein Buch in der Hand, die schmalen Lippen lesen leise mit.

Eine hübsche Frau, fast noch Mädchen, fließend in ihrer Bewegung, wie sie gerade in der Hüfte leicht abknickt und in das Gesicht ihrer Freundin lacht, die das Lächeln kokett zurückwirft, mit schräg geneigtem Kopf auf langem Hals. Zwei Welpen, die Ballerina spielen, oder umgekehrt. Leichtes Leben, charmante Scharmützel, Augenweide.

Eine junge Ordensschwester, blassgesichtig, im grauen Kittelkleid mit schwarzem Häubchen und schwarzem Mantel, blickdichte dunkle Strümpfe und flache Schuhe. Ihr Blick klebt am Boden, in Geduld geübt, mit Jesus verheiratet. Sie kennt den Gehorsam und versucht nie aufzufallen. Demut tut gut. Sie wartet auf das andere Leben. ,Dann geht’s aber rund, Schwester Oberin.‘ Sie wird es verlernt haben, jetzt schon.

Eine mondäne Erscheinung im offenen Mohair-Mantel mit blutrotem Futter. Auf schwarzen High Heels stehen sie, die Beine, bis zum Himmel. Der fließende Fall ihres Seidenkleides betont den Reiz ihrer Kurven. Blasse Brüste im gewagten Dekolleté. Das Haar schwarz und streng, geschminkte Blässe hinter rotem Mund mit exakter Kontur. Der Blick unter dunklen Wimpern verschleiert Geheimnisse. Unnahbar, gefährlich und beeindruckend schön, aus sicherer Entfernung.

Der Großstadtbahnhof: Die Atmosphäre vibriert voller fremder Leben und Lieben, Trennung und Tränen, Aufbruch und Abschied. Und Frank mittendrin.

Plötzlich sieht er nichts mehr. Kleine, kalte Finger kommen von hinten und nehmen ihm die Sicht. Er schreckt herum, war unvorbereitet. Genauso ahnungslos schaut er in ein Gesicht, das er gut kennt, nur dessen Namen er nicht mehr weiß. Es gehört einer Freundin von früher, Jahrzehnte her. Sie umarmen sich aus unverhoffter Freude, zeigen ihre Überraschung in den üblichen Fragen, ob es denn so was gebe und welch ein Zufall das sei. Jetzt fällt ihm ihr Name wieder ein und seine Verlegenheit weicht. Katharina! Nun freut er sich wirklich. Er schaut sie an: Ihr Lachen ist immer noch jung und findet sich auch in ihren Augen wieder. Ob sie noch Zeit habe auf einen Kaffee? Ja natürlich, eine gute halbe Stunde. Er, eine schlechte …, sie lachen ausgelassen über den kleinen Witz, haken sich ein und schlendern zum Stehimbiss auf dem Bahnsteig.

Wie es ihm und ihr denn so ginge und ergangen sei, Beruf, Familie und hin und her.

„Verheiratet, eine Tochter, wird bald achtzehn“, sagt sie.

„Und dein Mann?“, fragt er nach.

„Oberarzt im Klinikum, selten zu Hause, lebt sich im Job aus, schon in Ordnung, insgesamt so là-là“, ist die Antwort.

Das habe er schon hinter sich, sagt er.

„Was, die Tochter oder den Oberarzt?“

„Die Ehe, du Clown.“

„Und wie ist das?“

„Was?“

„So allein?“ Ihre Stimme klingt gespielt zerknirscht.

„In meinem Alter, meinst du wohl!“

„Nein, das stimmt nicht, das hast du gesagt. Das käme nie über meine Lippen, ich meinte …“

Und sie lachen sich wieder in ihre frohen Gesichter.

Wohin sein Zug fahre, will sie wissen. Nach Köln. Er müsse über Verträge verhandeln, vertrete seinen Chef, sei eigentlich Ingenieur und baue Maschinen. Und wohin sie denn unterwegs sei? Sie wolle nach Hannover, Bilder ansehen und vielleicht kaufen. Sie sei Bilder An- und Verkäuferin. Warum sie nicht Galeristin sage? Weil das so versnobt klinge und sie wolle nicht angeberisch sein, jedenfalls nicht bei ihm.

So reden sie und reden, gleichgültig, worüber, Hauptsache, es hört nicht auf. Sie stehen sich gegenüber an diesem Stehtisch im Imbiss und lassen sich nicht los mit ihren Augen, lassen sich nicht gehen.

Er war einmal verliebt in sie, traute sich aber nicht. So blieb es platonisch, aber in der Vertrautheit etwas Besonderes. Das sagt er ihr jetzt. Und sie wirft den Kopf in den Nacken mit einem erstaunten Lachen.

„Du bist so süß!“, meint sie.

Ihr Haar ist immer noch so blond, nicht mehr so lang, aber mit diesem Glanz. Er zahlt den Espresso, sie nimmt seine Hand.

Hand in Hand, ist das schön kitschig, denkt er und lächelt. Sie fragt, warum er lächle, und er sagt es ihr. Ob er wisse, was noch kitschiger ist? Sie zieht ihn heran, hält ihm ihre Lippen entgegen, zum Kuss. Er nimmt ihn an. Der Kuss wird lang und nass und schmeckt so gut. Er bittet sie um noch mehr Kitsch. Sie ist bereit und willig.

Sie halten sich bei den Händen, als er sagt, dass sein Zug längst weg sei. Ja, ihrer sei auch schon durch. Und nun? Sie wisse es nicht. Alles ist offen und sie sind sich sehr nah.

So schlendern sie über den Bahnsteig. An der Hinweistafel „Abfahrt“ bleibt sie stehen. Er fragt sie, ob sie nach ihrem nächsten Zug schaut.

„Nicht nach meinem, nach unserem.“

„Was?“

„Wir verreisen, und zwar jetzt. Wusstest du das noch nicht?“

„Jetzt weiß ich’s ja. Ist ja früh genug.“

„Wir fahren nach Amsterdam!“, lacht sie, hakt sich bei ihm ein und drückt ihm einen Gute-Laune-Kuss auf die Wange. So steuern sie auf den Fahrkartenschalter zu.

Ihm ist windig zumute, ihr ist flau und beide wissen um die Unmöglichkeit. Aber keiner will dieses Spiel beenden. Es ist so schön.

Frank verlangt zwei einfache Fahrten Erster Klasse nach Amsterdam. Die Frau am Schalter meint, der Zug stehe bereits auf Gleis 7 und fahre in vier Minuten ab.

„Unser Gleis!“, ruft Katharina. „Komm!“

Sie rennen durch die Halle hinauf auf den Bahnsteig, erreichen das Gleis und den Zug, finden ein leeres Abteil und lassen sich jubelnd und lachend in die Sitze fallen. Der Zug ruckt an. Das Lachen bremst.

„Was machen wir hier eigentlich, Frank?“

Er habe nicht gedacht, dass sie das ernst meine mit ihrem gemeinsamen Zug. Und sie habe nicht geglaubt, dass er wirklich die Fahrkarten kaufe. Und er habe nie gedacht, dass sie tatsächlich in den Zug einsteige.

„Jetzt sitzen wir in der Patsche!“ Frank schaut aus dem Fenster, während er das sagt.

„Ja, das ist die erste fahrende Patsche, die mir über den Bahnsteig geschwappt ist“, sagt sie neben ihm. Ihre Blicke treffen sich und beide prusten los, ja, schreien vor Lachen, japsen nach Luft und heulen wie die Schlosshunde vor Spaß.

Unvermittelt unterbricht Frank sein Lachen mit der Frage: „Steigen wir an der nächsten Station wieder aus oder gönnen wir uns einen Tag und eine Nacht in Amsterdam?“

„Ich krieg das hin. Schaffst du das auch?“

„Ja.“

Beide sind hektisch, ihre Gesichter fleckig, die Finger flattrig, vor Angst, aus ihrem Traum zu erwachen. Sie suchen nach Handys. Frank stürzt in den Gang, lügt dem Kunden einen Unfall vor, sie bleibt im Abteil und schwindelt ihre Mutter todkrank ins Sterbebett. Sie melde sich wegen neuer Termine. Gleichzeitig drücken sie auf „AUS“. Und nichts ist aus, nur ihre Handys.

Sie atmen immer noch schwer, als sie schweigend nebeneinander sitzen und die Bäume vorüberstürzen sehen. Sie haben es geschafft, sie sind in ihrem Bahnhofstraum geblieben. Kuss um Kuss tanken sie einander auf. Ihnen hilft das Geschnäbel und ihr Fingerspiel, so leicht wie Ringeltaubengeflatter. Frei, vogelfrei, Freiwild füreinander.

Er fragt sie, ob sie Amsterdam gut kenne. Er sei erst zweimal da gewesen, lange her. Ja, nein, sie sei nur einmal dort gewesen, vor fünf Jahren erst, mit ihrem Mann. Die Stadt habe sie verzaubert, ihr Mann nicht. Jetzt wolle sie mit dem Richtigen in der richtigen Stadt etwas Richtiges erleben.

Ja, sie wollten Touristen der schlimmsten Sorte spielen, eine billige Kamera kaufen und sich vor Grachten, Brücken und Kirchen von anderen Touristen knipsen lassen, am besten von Japanern. Und am Ende würden sie die Kamera feierlich in einem Kanal versenken. So reden sie. Und sie würden sich immer spüren und halten, an den Händen, in den Armen und am Abend dann lieben in einem feinen, kleinen Hotelzimmer mit Teppichen auf den Tischen, in der Altstadt, an einer Gracht mit Zugbrücke und Hausbooten gelegen. Dann würden sie nobel essen gehen und … So reden sie weiter und lachen und witzeln und hören gar nicht mehr auf, bis sie einschlafen, erschöpft von der Aufregung ihrer Begegnung und der Freude über die Einigkeit ihrer Wünsche.

Als sie erwachen, kreuzt der Zug langsam über einen breiten Strom paralleler Gleise und Weichen. Sie fahren in den Amsterdamer Hauptbahnhof ein. Auf dem Weg zum Ausgang scherzt und lacht Frank und merkt nicht, dass sie verstimmt ist, bis sie unter der großen Anzeigetafel stehen bleibt.

Was denn mit ihr sei? Sie könne nicht, was sie nicht könne, Amsterdam mit ihm. Wo das Problem sei? Ihr Mann sei da, unsichtbar und schlecht gelaunt, neben ihr, nicht abzuwimmeln.

Frank schaut auf die große Tafel, sieht: Scheveningen, Gleis 14, Abfahrt – ein Blick auf die Uhr – in drei Minuten.

„Komm, wir fahren ans Meer.“

Wieder sitzen sie im Abteil eines Zuges. Ihr Kopf lehnt an seiner Schulter, sie weint. Er lässt sie eine Weile. Dann küsst er ihre Wangen trocken und fragt, ob sie zurück wolle. Nein, es gehe schon wieder, dann fahre sie eben mit dem Richtigen ans richtige Meer, antwortet sie mit schiefem Lächeln. „Ist recht.“ Sie lachen wieder.

In Scheveningen finden sie einen Fahrrad-Verleih. So radeln sie hinaus aus dem Menschengedränge über den Deich am Meer entlang, dann durch die Dünen bis nach Kijkduin. Dort kaufen sie die Kamera. Nur Japaner finden sie nicht. Sie wandern barfuß über den Strand und an den auslaufenden Wellen entlang, liegen in den Dünen und tauschen salzige Küsse.

In Kijkduin finden sie ein Zimmer in einer kleinen Pension am Strand-Boulevard. Von beiden unbemerkt fällt der rote Ball der Sonne ins Meer, während sie sich lieben im Rhythmus der Brandung, die sie hinausträgt, bis sie kein Land mehr sehen.

Nach dem Essen trinken sie Sekt aus hohen Gläsern und auf dem Zimmer dann aus ihren Nabeln und Mündern und ertrinken fast in ihrer Sucht und Gier nacheinander. Sie geben nicht Ruh’, bis sie lahm vor Erschöpfung, geben nicht Ruh’, aus Angst vor dem Abschied, geben nicht Ruh’, bis nichts mehr geht. Als der Orkan vorüber ist, wissen sie erst, dass es so etwas gibt.

Am nächsten Morgen lachen sie erst noch über ihre schmerzenden Glieder, auf dem Rückweg mit dem Rad nach Scheveningen. Sie haben nicht ein einziges Foto geknipst. Im Zug lacht keiner mehr. Kein Wort fällt mehr zwischen ihnen. Sie sitzen nebeneinander, die Finger ineinander verschränkt. Die Flügel zweier toter Tauben. Ihre Seelen sind verkatert vom Rausch der Lust. Es war eine Überdosis.

Am Bahnhof, wo der Zufall sie zusammenführte, gestern Morgen, gehen sie auseinander. Der Kuss beim Abschied schmeckt nach Scham. Die Sehnsucht ist ohne Zukunft, hat nur noch die Erinnerung. Doch sie wohnt in beiden, so schön, dass sie wehtut.

Auf dem Bahnhofsvorplatz bleibt Frank stehen. Er spürt sein Kinn zittern, dreht sich um und geht den Weg wieder zurück Richtung Gleise. Weder Trauer noch Ohnmacht, sondern Wut lässt sein Kinn zittern.

Du gehst zurück zu deinem Mann, suhlst dich in der Sicherheit deiner Ehe. Ja, dein schlechtes Gewissen wird dir leichte Übelkeit bereiten. Er wird dich trösten mit Salbei-Tee und Umarmungen. Das Vertrauen der Jahre ist stärker als eine Nacht der Leidenschaft, wirst du denken und melancholisch lächeln über das ach so verrückte Leben. Und der Stolz auf deinen Mut wird das schlechte Gewissen überdecken und als einziges Gefühl übrig bleiben. Unsere Begegnung wird vor deinen Augen schrumpfen zur Anekdote der kleinen Verrücktheit, die du nach ein paar Wochen deiner besten Freundin anvertrauen wirst, wieder mit dem stolzen Blick, und nach ein paar Jahren wirst du sie deinem Mann um die Ohren schlagen, wenn du eine Revanche brauchst für seinen Seitensprung mit Schwester Saskia.

Mich wird meine leere Wohnung mit dunklen Fenstern erwarten. Ich werde mit meiner Nase deinen Geruch in meinen Händen suchen und es wird nichts nützen, nichts helfen, nichts lindern.

Jetzt steht Frank wieder auf dem Bahnsteig, dicht hinter Katharina, die auf den Zug nach Hause wartet.

Wenn du mich jetzt spürst, mich in deinem Rücken spürst und dich umdrehst, dann wird alles gut.

Doch sie wendet sich nicht um.

Ein Mann ruft immer wieder: „Hasso, bei Fuß!“ Der Riesenschnauzer verweigert den Gehorsam.

Der heranbrausende Zug lässt die Gleise zittern und die Oberleitungen surren. Das Tosen schwillt an. Der Zug ist da, fast.

Hasso, dieser riesige Hund, hetzt über den Bahnsteig, streift schattenhaft Franks Ärmel und prallt aus vollem Lauf, ungebremst, gegen Katharina.

Ihr Körper stürzt auf die Gleise zu, Frank erhascht im Sprung ihr linkes Bein. Kopfüber droht der Fall ins Gleisbett. Er reißt sie ein Stück zurück. Der Arm schlägt hart gegen das Führerhaus. Die schweren Eisenpuffer der Zugmaschine rauschen vorbei. Katharina schreit. Frank schreit. Ihre Schreie bleiben lautlos im Kreischen der Bremsen und Menschen. Und der große Hund bellt.

Katharina liegt halb auf Frank. Er kann ihr Gesicht nicht sehen. Er hat den metallenen Geschmack von Blut auf der Zunge. Sieht ihr Handgelenk im verdrehten Winkel zum Unterarm, riecht ihr Blut. Spürt, dass sich ihr Brustkorb senkt und hebt, spürt, dass sie lebt. Spürt seine Erleichterung tief in ihm drin.

Seelenzerrung

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