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Wir müssen leider draußen bleiben

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Es klopft.

Es klopft an der Tür.

Es klopft an der Tür des alten Bruchsteinhauses.

Die dicken Mauern halten die eisige Kälte des Winters draußen. Das Thermometer zeigt vier Grad unter null.

Es klopft an der Tür des alten Bruchsteinhauses, das ganz einsam an der Landstraße steht, mitten in der Natur am Ufer der Ruhr zwischen Essen-Werden und Kettwig.

Es klopft an der schweren Tür des Hauses, in dem Herr Dr. jur. Arnold Overbeck im behaglich warmen Wohnzimmer sitzt. Er genießt seit drei Jahren seinen Ruhestand, der pensionierte Richter. Kurz vor siebzig macht er noch was her mit seinem gepflegten grauen Haar, seinem noblen Hausrock alter Schule, trotz später Stunde. Es ist 23 Uhr 43.

Und es klopft.

Es klopft und er will es nicht hören, wünscht sich weg, will woanders sein, wo niemand klopft. Nein, er wünscht das Klopfen weg aus seinem Abend, aus seinem Leben. Er will bleiben, wo er ist, nur ohne dieses Klopfen.

Aber es ist da, unüberhörbar.

Jetzt ärgert er sich, dass er sich gegen eine Klingel entschieden hat und für diesen schweren Messingklopfer mit Löwenkopf. Stilvoll fand er es und so urig. Eine Klingel könnte er jetzt einfach abstellen.

Es klopft laut, das liegt an diesem Messingring.

Herr Overbeck hat es sich in seinem hochlehnigen Ohrensessel mit einem Roman – vielleicht Fontane – und einem außerordentlich guten Rotwein vor dem Kamin gemütlich machen wollen, nachdem er noch mit seinem Sohn telefoniert hat, übrigens auch ein Jurist, der auf den Malediven Urlaub macht, mit seiner schönen Julia und der kleinen Jolina, als das Klopfen begann.

Es klopft wieder gegen die Tür mit dem schweren Messingring, der stilgerecht im Maul eines Löwen schwingt.

Er ist froh, dass er im letzten Jahr diese stabile Haustür mit dem breiten Stahlriegel einbauen und die Fenster sichern ließ. Ihm kann nichts passieren. Er kann höchstens in seiner Ruhe gestört werden. Und das ist ja schon schlimm genug. Er hat keine Angst. Er ist bei sich zuhause. Er ist im Recht, der Richter.

Für den Notfall gibt es noch den alten Revolver seines Vaters im Nachttisch.

Es klopft immer lauter gegen diese Panzertür. Erste Rufe nimmt er wahr: „Hilfe, helfen Sie mir!“

Overbeck ist genervt, in seiner Leseruhe gestört und glaubt kein Wort. Er geht zur Tür, schiebt die straff gespannte Scheibengardine vor dem kleinen, vergitterten Kontrollfenster wenige Zentimeter zur Seite und sieht einen jungen Mann im hellen Licht seiner Bewegungsmelder gesteuerten Eingangsbeleuchtung. Er scheint so um die dreißig zu sein, kräftig gebaut, mit schwarzen Augen, dunklen Haaren, üppigem Bart und dem Teint von grünen Oliven.

In Overbecks Gehirn läuft eine Jahrzehnte erprobte, routinierte Rasterfahndung ab:

Südländischer Typ, krimineller Nordafrikaner oder serbo-kroatischer Kosovo-Albaner, früher hieß das Jugoslawe, vielleicht auch Rumäne, Bulgare, Sinti, Roma, früher sagte man einfach Zigeuner, vielleicht auch Araber, Perser, Türke, wahrscheinlich Salafist, alles möglich. Spricht erstaunlich gut Deutsch. Hundert Prozent verdächtig, kaum bedrohlich, solange er draußen bleibt.

Wir müssen leider draußen bleiben, denkt er. Diese Schilder an den Türen von Metzgereien, gibt es die noch?

Seine Leseruhe ist unwiederbringlich dahin. Doch seine missmutige Neugier ist geweckt. Er täuscht erst einmal Abwesenheit vor, merkt aber schnell, dass ihn das Licht durch das Türfenster schon verraten hat.

„Hallo, hören Sie? Ich brauche Hilfe!“, hört Overbeck, ohne zu reagieren.

„Hallo, bitte helfen Sie mir. Ich weiß, dass jemand zuhause ist. Sie haben doch die Gardine bewegt.“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, ruft er durch die Tür.

„Wir brauchen einfach Hilfe!“

„Was heißt jetzt plötzlich: wir? Ich sehe nur eine Person. Und zwar eine, die unbescholtene Bürger belästigt.“

„Hören Sie, meine Frau und ich sind mit dem Wagen liegen geblieben. Keine fünfzig Meter von hier. Wir haben vergessen zu tanken.“

Wie viele Trickbetrüger, Diebe und Gewalttäter hat Overbeck in seinen fünfunddreißig Jahren als Richter schon vorgeführt und abgeurteilt. Das Letzte, was man ihm vorwerfen könnte, ist Naivität. Er weiß, dass der Mensch schlecht ist. Ob er brav ist oder kriminell wird, ist nur eine Frage seines relativen Wohlstands. Ja, so denkt Overbeck.

Er könnte auch ins Wohnzimmer zurückgehen, an seinen knisternden Kamin, aber das Spiel mit drinnen und draußen vor der Tür reizt ihn.

„Wo ist Ihre Frau, ich kann sie nicht sehen?“, fragt er.

„Haben Sie vielleicht einen vollen Benzinkanister? Wir müssen dringend weiter.“

Die Stimme des Zwielichtigen klingt verzweifelt, gut gespielt. Die trainieren das ja, die Betrüger- und Bettlerbanden, wie man besonders verzweifelt klingt. Oder sie täuschen Behinderungen vor, dass man denkt, das gibt es ja gar nicht, so täuschend echt sieht das aus. Aber Overbeck lässt sich nicht vorführen. Overbeck ist ein Fuchs, ein alter Hase, kennt alle Tricks.

„Ich will zuerst Ihre Frau sehen“, sagt er und fühlt sich wie in einem Krimi.

„Sie sitzt im Auto, ist hochschwanger“, kommt es von draußen.

„Ach, das soll ich Ihnen glauben? Sie bedienen doch alle Klischees eines Standardbetrügers. Wissen Sie eigentlich, dass ich Richter bin?“, trumpft Overbeck auf.

„Nein, das ist mir auch völlig egal. Bitte, wir sind auf dem Weg zur Klinik in Kupferdreh. Ich habe nicht auf die Tankuhr geachtet, ich Trottel. Ich und besonders meine Frau brauchen Ihre Unterstützung, Ihre Menschlichkeit.“

„Wer’s glaubt, wird selig. Jetzt erzählen Sie mir nur noch, dass bei Ihrer Frau schon die Fruchtblase geplatzt ist. Ich lach mich tot. Lassen Sie mich endlich in Ruhe“, antwortet Overbeck mit allem Nachdruck, wobei er gar nicht will, dass das endet. Er sitzt am längeren Hebel und das tut ihm gut. Das ist Macht.

„Nein, das nicht. Aber, es ist bitterkalt.“

Overbeck hat jetzt die kleine Gardine vor dem Fenster in der Tür ganz zur Seite geschoben, sodass beide sich sehen.

„Das ist alles nur ein simpler Trick. Ich rufe jetzt die Polizei!“, ruft Overbeck mit Nachdruck.

„Ja, liebend gerne. Genau! Bitte tun Sie das, ja! Rufen Sie einen Krankenwagen für Sarah!“ Overbeck sieht die dunklen Augen des Mannes, der hier nicht hingehört, aufleuchten und ist vollkommen irritiert.

„Und wieso haben Sie das noch nicht gemacht, wenn Sie so in Not sind?“, fragt Overbeck verwirrt.

„Ich habe vor lauter Aufregung mein Handy vergessen. Das ist unser erstes Kind, wissen Sie?“

„Ich glaube Ihnen kein Wort. Zuerst will ich Ihre Frau sehen. Sonst passiert hier gar nichts.“

Overbeck merkt, wie seine Theorie vom Betrugsversuch krimineller Bandenmitglieder mehr und mehr zerbröselt. Aber immer noch sind es Fremde, die hier nichts zu suchen haben.

„Bei dem Wetter, dem Schnee, der glatten Straße? Und was ist, wenn sie fällt?“, erwidert dieser Mann.

„Zuerst die Frau! Ich will Ihre Frau sehen“, schreit Overbeck durch die Tür.

Er ist ganz außer sich, versteht sich selber nicht, will sich nicht verstehen, will, dass er gehorcht, dieser Störfaktor, will an seiner schwindenden Macht festhalten, sie spüren. Sein Sohn ist so weit weg, obwohl Overbeck ihm sagte, dass er krank und gebrechlich sei. Das liegt an Overbecks Frau. Sie ist im letzten Jahr gegangen, ohne sich von ihm zu verabschieden, aus dem Haus gelaufen, auf dem Gehsteig gestolpert, auf die Straße gefallen, unter die Räder gekommen. Eine Gehsteigplatte stand etwas vor. Das war’s dann, unwiderruflich, Ende und aus. Dafür muss doch jemand büßen, warum nicht der Fremde da draußen, warum nicht der?

„Na gut, wenn’s sein muss.“ Die Resignation in der Stimme des Fremden klingt nicht gespielt.

Overbeck zieht sich einen Küchenstuhl an die Haustür, stellt das große Weinglas mit dem guten Roten daneben und wartet auf das, was da kommt.

Ja, und da kommt er, der Dunkelmann mit einer Frau, von ähnlich zwielichtigem Zigeunerdunkel. Sie sieht wirklich ziemlich schwanger aus.

– Na ja, das muss ja nichts heißen –, denkt sich der Richter mit bitterem Grinsen und hat längst einen gewissen mürrischen Spaß an dem Spiel entwickelt, das er für sich, wir müssen leider draußen bleiben‘ getauft hat. Ja, dieses Schild von früher an den Türen von Metzgereien, um Hunde fernzuhalten. Seine Frau blieb ja auch draußen, kam nicht mehr rein, nie mehr.

Ja, Hunde sind sie. Dieses penetrante Betteln, diese Unterwürfigkeit. Und wenn du nicht aufpasst, dann haben sie dich, beißen dir ins Genick oder ins Gesicht. Stand neulich wieder in der Zeitung: Pitbull beißt Dreijährige ins Gesicht. Jolina, ist jetzt auch drei. Um Gottes willen!, geht es Overbeck durch den Kopf.

„Bitte helfen Sie uns, rufen Sie einen Krankenwagen, ich muss dringend in die Klinik, sonst …“, ruft diese junge Frau, schaut in das kleine Türfenster und trifft Overbeck mit einem unausweichlichen Blick. Dieser Blick ist so fest, so ehrlich, so verzweifelt und trotzdem noch so schön, dass es ihn schaudert.

„Ich schau mal …, wo ist denn mein Telefon?“, stammelt er.

„Bitte machen sie doch die Tür auf und lassen meine Frau in Ihr warmes Haus!“

„Nix da. Ihr Gesindel kommt mir nicht in mein Haus. Es reicht ja wohl, wenn ich die Feuerwehr anrufe“, erwidert er und spürt seine Scham vor sich selbst.

„Was ist? Sarah hält das hier draußen nicht mehr aus. Lassen Sie uns endlich rein!“

„Ich finde den Apparat nicht. Wo ist der nur?“

„Sie haben bestimmt ein Festnetz-Telefon mit einer Ladestation.“

„Ja, Sie Klugscheißer.“

„An dieser Ladestation ist ein Knopf, der ein Klingelsignal im Telefon auslöst und Ihnen hilft, das Gerät zu finden. Bitte, schnell, Sarah geht es wirklich nicht gut.“

„Ja, ich hab’s.“ Und nach kurzem Telefonat: „Der Wagen ist unterwegs.“

Overbeck setzt sich auf den Stuhl hinter der Tür, trinkt einen Schluck von seinem teuren Wein und fühlt nur Unglück.

Es klopft wieder an die Tür, ganz laut, nicht mehr bittend, ganz fordernd, ganz verstörend, ganz zerstörend, seine Ruhe, seine Harmonie, seine Idylle. Alles ganz klein zerhackt im Häcksler der Realität.

Das Klopfen klagt ihn an.

„Lassen Sie uns solange in Ihr Haus! Sarah kann nicht mehr.“

Overbeck sieht diesen Mann seine Frau stützen, die wohl Sarah heißt. Er sieht den Fremden, der sie kaum halten kann, er sieht sie zittern, nicht nur wegen der Kälte.

Overbeck öffnet schließlich die Tür, führt beide ins Wohnzimmer vor den Kamin, geht in die Küche, setzt Wasser auf, für Tee, sucht eine Decke, macht alles, um nur nicht zurück zu müssen, in sein Wohnzimmer, wo zwei Fremde sitzen, denen er nicht in die Augen schauen kann, die er nie hereinlassen wollte und jetzt sind sie drin, in seinem Haus, in seinem Leben. In seiner Schuld.

,Wir müssen leider draußen bleiben‘ hat nicht funktioniert.

Sein kümmerlicher Rest an Menschlichkeit hat gewonnen, gegen ihn, den verbitterten alten Richter.

Drei Wochen später bringt der Postbote Overbeck einen Brief. Er öffnet ihn und liest:

Wir laden Sie herzlich ein

zur Taufe unserer Tochter Maria!

Die stolzen und glücklichen Eltern

Yusuf und Sarah Yildirim-Neumann

Er geht nicht hin.

Die Scham ist zu groß.

Seelenzerrung

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