Читать книгу Die Rückkehr des Wanderers - Wolfe Eldritch - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

Snaergarde

Die Wolken hingen so schwer und tief über Snaergarde, dass sie die höchsten Türme der alten Festung beinahe zu berühren schienen. Leichter Schneefall läutete den Beginn des Winters ein, was für den September nicht ungewöhnlich war. Die Schneewacht machte ihrem Namen seit Jahrzehnten fast ganzjährig alle Ehre. Mit dem Bau der Heimstatt derer av Ulfrskógr war lange vor dem des Walls begonnen worden, und sie galt als die älteste Burg Norselunds. Vor dem Grau hatte sie noch ein gutes Stück von der Schneefallgrenze entfernt gelegen. Dieser Tage begann der ewige Winter, welcher den Norden der Insel überzog, kaum zehn Landmeilen weiter nördlich und das Umland der Feste war nur wenige Monate im Jahr frei von Schnee und Frost.

Von den dorfähnlichen Gemeinschaften, die sich im Laufe der Zeit um jede größere Wehranlage formten, war hier nichts mehr zu sehen. In den letzten Jahrzehnten war in der Umgebung von Snaergarde weder Ackerbau noch Viehzucht möglich gewesen. Die Wohnhäuser und Bauernhöfe waren schließlich großflächigen Gebäuden aus dunklem Stein gewichen, die der Jarl hatte errichten lassen. Wie ein Teil der Festung schmiegten sie sich von außen an die dicken Mauern, wo sie sich auf bis zu drei Stockwerke erhoben. Trotz ihrer oberflächlichen Schlichtheit boten diese Unterkünfte den Menschen nicht nur Geborgenheit und Schutz, sondern auch eine gewisse Lebensqualität.

Wer hier lebte, litt keinen Hunger, hatte warme Kleidung und war vor Übergriffen geschützt. Alles lag fest in der Hand des Jarls und es gab weder einen freien Handel noch Störungen von außerhalb. In nördlicher und westlicher Richtung gingen die mehrere Schritte dicken Mauern direkt in den natürlichen Wall über, der dort als Fundament diente. Snaergarde stand zum größten Teil auf einem Sockel aus massivem Felsgestein. Das hatte damals zum einen den Bau der gewaltigen Anlage erleichtert, zum anderen das Anlegen umfangreicher Kellergewölbe ermöglicht. Die hier lebenden Menschen gehörten ohne Ausnahme zum Gefolge des Jarls. Es war ein isoliertes Leben in einer verschworenen Gemeinschaft, in die man für gewöhnlich hineingeboren wurde. Die nächste Ortschaft war das mehr als hundert Landmeilen südlich gelegene Hovelvol. Es war ein relativ kleiner Ort, der von einigen Dutzend Bauernhöfen umgeben an den Ufern des Jernlodda lag. Von dort kamen die wenigen Rohstoffe und Produkte, die man von außerhalb benötigte, wie etwa Leder, Getreide oder Käse.

Etwas abseits der Mauern standen lange, flache Gebäude. Diese Handwerkshallen waren aus dem gleichen dunklen Stein gebaut, der hier überall Verwendung gefunden hatte. Sie beherbergten Ausschmiedeanlagen und Verhüttungsbetriebe. In gleichmäßigem Abstand zogen sich die mit Schiefer gedeckten Bauwerke zwischen Lagern für Roherz und zahlreichen Rennöfen über das karge Land. Der Hauptgrund dafür, dass auf dieser so weit im Norden gelegenen Burg so viele Menschen lebten, war ihre Nähe zum Eisgebirge. Die gewaltigen Berge des nördlichen Randes der Welt stellten die Schatzkammer des Jarltums und der gesamten Insel dar.

Snaergarde war der Dreh- und Angelpunkt des Stoffes, der Norselund seit den Tagen der Vereinigung der alten Clans Stärke, Sicherheit und Wohlstand verlieh. Dem Eisenerz, aus dem die Schmiede der Insel ein Metall formten, dass im Reich als Nordeisen bekannt und begehrt war. Bis zu einem gewissen Maß traf das auch auf die schwere, ölige Steinkohle zu, die man in den westlichen Stollen förderte. In mehreren, im ewigen Winter des Eisgebirges gelegenen, Minenanlagen wurden jedes Jahr Tonnen an Erz abgebaut und zunächst nach Snaergarde gebracht. Zum größten Teil geschah das mit Hilfe des Jernlodda, der im Osten knapp fünfhundert Meter an den äußeren Mauern der Festung vorbeifloss. Der Fluss war seit dem Grau über einen erheblich längeren Zeitraum hinweg zugefroren als in früheren Tagen. Trotzdem stellte er noch immer eine weniger aufwendige Transportmöglichkeit dar, als es Wagenzüge taten. An den Minen selbst war es so kalt, dass kaum ein Tier auf Dauer überlebte. Diese tödliche Kälte war auch der Grund, warum die Weiterverarbeitung des Rohstoffes so weit südlich stattfand, anstatt direkt dort, wo er gefördert wurde. Tag für Tag stieg der Rauch über den Schmelzöfen im Nordosten in den grauen Himmel hinauf. Tonne um Tonne wurde Erz zu Luppe und Luppe zu Eisen einer Qualität ausgeschmiedet, die im Königreich ihresgleichen suchte. Snaergarde war, Festung und Schmiede des Nordens, das kalte Herz, von dem aus das metallene Lebensblut von Norselund durch das Land floss.

Die Insel hielt nicht viele Schätze für sein von Mühsal und harschem Klima geprüftes Volk bereit. Die wenigen, die sie bot, gab sie jedoch reichlich. Allen voran Eisen und Steinkohle, aber auch mannigfaltige Arten von Holz, ebenso wie hochwertigen Stein. Ersteres war dabei ungleichmäßig verteilt. Die Erzvorkommen außerhalb der nördlichen Gebirgszüge zeigten sich spärlich und oft mit Erz von so durchschnittlicher Güte, dass ein Abbau heuer kaum noch lohnte. Es gab etwas Kupfer im Jarltum von Falksten und noch weniger Silber in Kråkebekk. Das Eisgebirge im Norden hingegen verfügte über einen scheinbar endlosen Vorrat an Eisenerz von größter Reinheit.

Dieser kostbare Rohstoff stellte eine der beiden Komponenten dar, die den Inselbewohnern die Herstellung des besten Eisens der bekannten Welt ermöglichten. Die andere war eine Tradition in der Schmiedekunst, die Jahrhunderte zurückreichte. Das Metall war heute der maßgebliche Exportartikel von Norselund. Es war die wertvollste und zugleich einzige bedeutungsvolle Münze, über welche die Jarle verfügten. Mit ihr wurden die Abgaben an den König geleistet, und sie war eine zahlungskräftige Währung für den Handel mit dem Rest der Welt. Das Eisen sorgte somit ebenso für die Versorgung des Volkes, wie dafür, dass die Truppen der Insel zu den am besten gerüsteten des Reiches gehörten. Seit einigen Jahren arbeiteten die Schmiede in Snaergarde mit Hilfe der Steinkohle auch an der Herstellung von Stahl. Dieses Geheimnis hatten die Jarle allerdings bislang vor den Festländern zu hüten gewusst.

Die Lage der Heimstatt des Jarl av Ulfrskógr hätte für eine schwer gesicherte Handwerkstätte nicht besser gewählt sein können. Die Abgeschiedenheit der Festung und die isolierte Lage der Ländereien selbst spielten dabei ebenfalls eine Rolle. Das Eisgebirge, dessen äußere Arme weit im Norden der Insel in mehrere hundert Schritte hohe Steilküsten ausliefen, umschloss das Land wie ein nach Süden offenes Hufeisen.

Die natürliche Grenze zum Landesinneren bildete der Kråkebekk, der größte Fluss von Norselund. Im Südwesten mündend, war er namensgebend für das dortige Jarltum. Drei massive, gut gesicherte Steinbrücken stellten die einzigen sicheren Wege über diese nasse Barriere dar. Schon in früheren Tagen gab es nur wenige schmale Furten über das ebenso breite wie schnell fließende Gewässer. Nach dem Grau war seine Wassermenge durch die vermehrten Niederschläge noch deutlich angewachsen. Heute gab es zu keiner Jahreszeit mehr eine Möglichkeit, den Fluss ohne Hilfsmittel zu überqueren. Viele der alten Brücken hatten sich in der starken Strömung im Laufe der ersten Jahre des Umbruches in wahre Todesfallen verwandelt.

Die Steinbrücken waren vor über zwanzig Jahren zur gleichen Zeit gebaut worden wie die Handelsstraße, welche die drei Jarltümer der Insel verband. Die gut befestigte Straße erstreckte sich auf der vollen Länge von Kråkeborg nach Falkehaven, den beiden südlich gelegenen Hauptstädten. In gleichmäßigem Abstand führten von dem Hauptstrang aus drei Straßenabschnitte auf den Brücken über den Kråkebekk und trafen sich kurz hinter dem Fluss. Von dort aus verlief der Handelsweg weiter, bis er in Høyby, der Hauptstadt des nördlichen Jarltums, endete. Die Straße, wie auch die Brücken, verdankte die Insel der engen Zusammenarbeit der drei Herrscherfamilien.

Von Høyby aus ging der Löwenanteil an Eisen direkt nach Falkehaven, dem Zentrum des Exporthandels des Nordens. Der Grund dafür, dass Snaergarde bei all dem mehr war, als nur eine Stätte des Handwerks und des Warenumschlages, war der Jarl selbst. Varg av Ulfrskógr, seit fast fünfundzwanzig Jahren der uneingeschränkte Herrscher des nördlichen Norselunds, war auf dieser Festung aufgewachsen. Snaergarde war der traditionelle Sitz der Familie, und er hatte das Leben hier dem in der Hauptstadt immer vorgezogen. Nach den ersten zehn Lebensjahren auf der Heimstatt seiner Ahnen war er danach gezwungen gewesen, einige Jahre in Høyby zu verbringen. Der alte Jarl hatte darauf bestanden, dass sein jüngster Sohn ein anderes Umfeld als das in der Abgeschiedenheit der Burg kennenlernte, und sich mit den Gepflogenheiten der Stadt vertraut machte.

Nach dem Tod des Vaters war der junge Jarl in die nördlichste aller Befestigungen von Norselund zurückgekehrt. Seitdem hatte er sie nur verlassen, wenn er es nicht vermeiden konnte. Auf die Zeit in Høyby schaute er im Nachhinein dennoch wohlwollend zurück. Er hatte sich dort nie so wohl gefühlt wie in Snaergarde, diesen Lebensabschnitt aber als lehrreich empfunden.

Darüber hinaus hatte er in besagten Jahren Lady Lifa av Skalenborg kennengelernt. Obgleich nicht die erste Liebe seines Lebens, war es bis zum heutigen Tag die Letzte geblieben. Wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Jarl wurden sie vermählt, und er hatte es nie bereut, selbst in den dunkelsten Stunden nicht, als alles verloren war.

Bei besagter Lady verweilten die Gedanken von Varg jetzt, da er den Bierschlauch, aus dem er soeben einen kleinen Schluck genommen hatte, auf einen niedrigen Hocker neben seinem altem Schreibtisch aus Eisenholz legte. Das taten sie dieser Tage nicht mehr so oft wie noch vor zwei oder drei Jahren, was ein Segen war.

Dass die Zeit alle Wunden heilte, war das Gewäsch von Narren. Man gewöhnte sich jedoch an den Schmerz, genau wie bei alten Narben, die man in der Schlacht davontrug. Damit mochte es auch zusammenhängen, dass er nur noch einen Schlauch Bier über den Tag hinweg leerte. In der Zeit nach ihrem Tod war es nicht bei einem geblieben, oft nicht einmal bei zwei oder drei, und damals war es statt Gerstensaft schwerer norselunder Met gewesen. Aus jenen Tagen stammten auch die gut zwanzig Pfund überflüssigen Fettes, die er fünf Jahre zuvor noch nicht mit sich herumgetragen hatte. Aber er zählte fast vierzig Winter und es gab schlimmere Gebrechen, die einem Mann dieses Alters widerfahren konnten. Der Jarl erhob sich von dem gepolsterten Lehnstuhl und ging zu der metallbeschlagenen Eisenholztür des Arbeitszimmers. Dort nahm er den Mantel von einem Haken und zog ihn über. Das dicke Leder war schwarz geölt und mit dunkelgrauem Klabauterfell gefüttert. Ein knöchellanges Bollwerk gegen die eisige Kälte seiner Heimat. Während er sich ankleidete, ließ er die Gedanken für eine Weile bei der verlorenen Liebe verweilen.

Trauer und Schmerz verblassten mit den Jahren. Das war eine der wenigen Gnaden der Götter, die vermutlich nicht existierten. Lifas Bild hingegen tat das nicht, noch nicht jedenfalls. Er dachte seltener an sie, aber wenn er es tat, war ihre Erscheinung so klar, als stünde sie leibhaftig und lebendig vor ihm. Nur einen Kopf kleiner als er, mit sommersprossiger, milchweißer Haut, lohfarbenem gelocktem Haar und ebensolchen stahlgrauen Augen wie den seinen, war sie eine klassische Nordlandschönheit gewesen. Ihre neugeborene Tochter hatte einen winzigen Schopf flaumigen Haares derselben Farbe gehabt. Man hatte es zwischen dem ganzen Blut kurz sehen können, als sie aus dem toten Leib ihrer verbluteten Mutter gezogen worden war. Auch die Kleine hatte wenige Minuten später aufgehört zu atmen. Der Jarl schloss den Mantel und schüttelte die alten Bilder ab. Das fiel ihm heute, vier Jahre nach dem Tod seiner Familie, bereits erschreckend leicht.

Er öffnete die Tür und durchquerte mit langen Schritten den rundum mit getränktem Holz vertäfelten Gang, der zu den verschiedenen Räumlichkeiten seiner Gemächer führte. Von hier aus gelangte man zum Arbeitszimmer, dem Schlafgemach, einem kleinen Waschraum sowie einem Kaminzimmer. Er trug außer dem Mantel und hohen, genagelten Stiefeln nur einfache, aber robuste Wollkleidung. Die einzige Rüstung, die er innerhalb der Festung benötigte, galt dem Schutz vor der Kälte. Die Menschen, die hier lebten, gehörten Familien an, die der seinen seit vielen Generationen dienten. An seiner Hüfte baumelte denn auch nur ein alter, unterarmlanger Dolch.

Der Jarl zog sich im Gehen die Handschuhe an, schlug den hohen, gefütterten Kragen seines Mantels hoch und trat durch die dicke Außentür aus dem Bergfried hinaus. Es war beinahe windstill, der Schnee fiel in winzigen, feinen Flocken und die Luft roch nach dem ersten Frost des Winters. Der Tag war erfüllt von den Geräuschen des morgendlichen Burglebens und dem allgegenwärtigen Klingen der Hämmer in den Schmieden. Er ging ein Stück in Richtung der Schildmauer im Süden, bevor er in eine leicht gewundene steinerne Treppe nach unten abbog. Dabei erwiderte er den einen oder anderen laxen Gruß der Wachen mit einem flüchtigen Nicken. Er war nicht sicher, ob er seinen Gast und Freund, den Jarl Stian av Falksten, der seit dem gestrigen Tage zu Besuch war, schon auf den Beinen vorfinden würde. Als er die Stufen, die in den geräumigen Haupthof führten, zur Hälfte hinter sich gelassen hatte, sah er jedoch, wie der alte Mann gegen einen Pfeiler gelehnt das morgendliche Treiben beobachtete.

Stian war kaum kleiner als der zwanzig Jahre jüngere Jarl, aber nicht ganz so kräftig gebaut. Das Haar, obgleich vollständig ergraut, war noch voll, die Gestalt gerade, mit breiten Schultern, die das Alter bislang nicht zu beugen vermocht hatte. Man sah ihm nur bedingt an, dass er in zwei Wintern sechzig Jahre alt sein würde. Er hatte den Großteil der Regierungsarbeit in Falkehaven vor wenigen Jahren an seinen Sohn Alfr abgegeben und verbrachte die Zeit seitdem zumeist damit, durch Norselund zu reisen. Varg hatte die Stufen zur Hälfte bewältigt, als der andere ihn bemerkte und sich zu ihm umdrehte.

»Endlich wieder Schnee, der Winter hat mir gefehlt«, rief der alte Nordmann lächelnd und kam ein paar Schritte auf den Fuß der Treppe zu.

Varg entging nicht, wie sehr er sich dabei auf den verzierten, eisenbeschlagenen Stock stützte. Er trug ihn seit einigen Jahren, bis zum letzten oder vorletzten Winter hatte er ihm allerdings eher als Schmuck gedient, denn als Werkzeug. Eine Jahrzehnte zurückliegende Verletzung seines Knies machte ihm offenbar mit jedem verstreichenden Jahr mehr zu schaffen.

»Dass ein von der Wärme langer Sommer verwöhnter Südländer unser nordisches Klima zu schätzen weiß, ehrt uns hier oben«, gab Varg in ebenso freundlichem Spott zurück. »Hast du dir unsere merkwürdigen Vorkommnisse schon angesehen? Oder hast du auf mich gewartet?«

»Ich habe auf dich gewartet, wie es sich für einen Gast gehört. Es soll ja niemand sagen können, dass wir Südländer alle nur Bauernlümmel sind. Lass uns gemeinsam sehen, ob wir es mit einem echten Problem zu tun haben, oder nur mit Jägern, die noch mehr trinken als ihr Burgherr.«

Der jüngere Jarl schnaufte nur ob dieses Seitenhiebes. In der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau war der Jarl av Falksten der einzige Mensch gewesen, den er zu ertragen vermocht hatte. Er allein wusste, wie schlecht es für eine Weile um ihn gestanden hatte, wie schmal der Grad zur unkontrollierten Trunksucht und Freitod war, auf dem er fast ein Jahr lang gewandelt war. Sie gingen nebeneinander gemächlichen Schrittes über den Hof, wobei der Jüngere sein Tempo dem des Älteren anpasste. Stian hatte sich bei einem Reitunfall in seiner Jugend das Knie gebrochen, eine Verletzung, die ihn in letzter Zeit ernsthaft zu plagen begann. Der betagte Jarl sah den Blick des Burgherrn und verzog das von den Jahren gezeichnete Gesicht zu einem schiefen Lächeln.

»Tut zum Glück nur weh, wenn es kalt und feucht ist. Sobald die götterverdammte Sonne wieder scheint, wird es sicher besser.«

»Ja, du warst schon einmal schneller unterwegs«, stimmte Varg ihm zu, »wenn auch nicht viel. Um auf Erfreulicheres zu kommen als die Gebrechen eines Greises, wie geht es eigentlich unseren Turteltauben, hast Du in letzter Zeit etwas von ihnen gehört?« Die älteste Tochter des Freundes und Bjorn av Kråkebekk, der dritte und jüngste Jarl im Bunde der drei Herren von Norselund, waren kürzlich vermählt worden.

»Der letzte Vogel brachte nichts Neues. Der verdammte Schlamm frisst immer mehr Ackerland, aber den beiden geht es gut. Das mit der Verschlammung hat hoffentlich ein Ende, wenn sie die ersten Erhebungen der südlichen Highlands erreicht. Sonst reicht das selbst angebaute Korn bald nicht einmal mehr für die dürren Gespenster, die wir Hühner nennen.«

Kråkebekk hatte vor dem Grau die Kornkammer der Insel dargestellt. Seit jeher machte der Fischfang einen guten Teil der Nahrungsmittelversorgung aus. Was man in den drei Jarltümern an Getreide für Mehl und Brot brauchte, kam zumeist aus den Äckern im ehemals fruchtbaren Südwesten. Die Felder im Südosten und vor allem im Norden von Norselund waren selbst vor dem Grau kaum für mehr zu gebrauchen gewesen, als Korn für die Geflügelzucht zu liefern.

Heute stellte der Fisch, der zum größten Teil bei Falkehaven aus dem Meer gezogen wurde, die mit Abstand wichtigste Nahrungsquelle der Insel dar. Die Getreideernte aus Kråkebekk war schon lange nicht mehr ertragreich genug, um die anderen beiden Jarltümer mitzuversorgen. Der kümmerliche Ertrag an Winterweizen, der im Osten und Norden noch angebaut wurde, reichte gerade einmal zur Haltung von anspruchslosem Federvieh wie Hühnern. Dazu kamen einige Schafherden und die Pferdezuchten in Kråkebekk. Für andere Nutztiere, wie Rinder oder gar Schweine, gab es bis auf wenige Ausnahmen einfach nicht mehr genug Futter und Weideland.

Das Überleben nach dem Grau verdankte das Volk in erster Linie dem engen Band, das während der letzten Generationen zwischen den Familien der Jarle entstanden war. In einer gemeinsamen Anstrengung strukturierten sie das Land nach der Katastrophe um, und verteilten die ihnen verbliebenen Ressourcen mit Bedacht und Voraussicht. Es hatte weder Dünkel noch Opportunismus gegeben, weder Neid noch Misstrauen. Anders als vielerorts auf dem Festland. Nur aus diesem Grund hatte das Volk die Auswirkungen des Grau überstanden, obwohl es die Insel ungleich härter getroffen hatte als die Gebiete im Süden der Welt. In Norselund herrschte seit jeher ein kaltes und lebensfeindliches Klima. Das Grau hatte weite Teile des Landes nahezu unbrauchbar gemacht. Vor allem im Norden waren ganze Landstriche inzwischen verwaist.

Diese enge wirtschaftliche Verbundenheit hatte sich bis heute gehalten. Ulfrskógr versorgte den Rest der Insel mit Eisen und Kohle und stellte mit dem Metall die Münze für den Außenhandel zur Verfügung. Kråkebekk konzentrierte sich fast völlig darauf, zum Wohle aller Jarltümer den bestmöglichen Ertrag aus seinen Feldern und Weiden herauszuholen. Falksten sorgte mit dem Fischfang für Nahrung und wickelte über Falkehaven den Export und Import ab.

Im Grunde war Norselund ein eigenes Großherzogtum, das von den drei Jarlen als Triumvirat regiert wurde. Eine Tatsache, die man vor dem Rest des Königreiches tunlichst zu verschleiern bemüht war. Groß genug waren bereits das Misstrauen und die Animositäten zwischen der Insel und dem Festland. »Immerhin ist die Küste im Südwesten durch die Sümpfe bestens geschützt. Da wird niemand eine erfolgreiche Invasion landen. Also keine Gefahr, dass uns in Zukunft irgendwer erschlägt, bevor wir in Ruhe verhungern können«, endete Stian schließlich.

»Solange wir uns alle ein Beispiel an deiner heiteren Sicht der Dinge nehmen, kann uns kein Leid schrecken«, lächelte der jüngere Jarl. »Ich war seit meiner Zeit in Høyby nicht mehr dort. Hast Du dir das in den letzten paar Jahren mal selbst angeschaut?«

»Vor drei Jahren«, bestätigte Stian. »Ich bin die ganze landungsfähige Küste abgefahren. Also das, was früher landungsfähig war. Ist kaum noch etwas übrig von den alten Stränden. Das Land dort ist für die Menschen verloren. Alles verschlammt und die Sümpfe haben sich in alle Richtungen ausgebreitet. In einem Moment kannst Du bis zu den Knien im Schlamm versinken und einen Meter weiter bis du, ohne es zu merken, im Sumpf. Das einzig Gute, was man noch von der Südwestküste sagen kann, ist, dass sie jetzt eine natürliche Verteidigung darstellt. Die dürfte ebenso effektiv sein wie die Steilküsten bei dir. Wer da unten landet, kann seine komplette Armee an den Sumpf verlieren, egal zu welcher Jahreszeit. Das Ackerland ist jedenfalls hin. Die ganzen Fischerdörfer sind auch weg, die letzten paar waren gerade am Verrecken, als ich da war.«

»Dann hoffen wir mal, dass die Fische weiterhin brav bei dir vorbeischwimmen«, meinte Varg, »weißt du schon, wann du wieder weiter willst?«

»Willst mich schon wieder loswerden, damit du in Ruhe saufen kannst, was?«, stichelte der alte Jarl.

»Das klingt natürlich verlockend«, gab Varg unbeeindruckt zurück, »aber ich dachte eher daran, dass hier bald der ungastlichste Ort südlich der Eisberge sein wird. Der Winter macht langsam ernst und so wie du jetzt schon lahmst, hätte ich dich längst von deinem Elend erlöst, wenn du ein Pferd wärst.«

»Vielleicht nächste Woche. Hätte nicht gedacht, dass mir die Kälte so zu schaffen macht hier oben. Götterverdammtes Bein. Schauen wir mal, was du hier für ein Problem hast. Oder ob du überhaupt eines hast und deinen Waldhütern nicht nur die gemütliche Atmosphäre hier zu viel geworden ist, so kurz vor dem Winter.«

»Wird schon so sein«, meinte Varg. »Waren nicht die Waldhüter, die zu mir gekommen sind. Die sind erst zu Leoric gegangen und der hat mir dann Bescheid sagen lassen.«

»Leoric? Lebt dieser alte Geier immer noch?«, brummte Stian, »habe ihn gestern gar nicht gesehen. Nicht, dass seine Anwesenheit meinem Wohlbefinden sonderlich zuträglich wäre. Was auch für die nutzlosen Salben gilt, die mir der alte Scharlatan letztes Jahr für mein Knie angemischt hat. Gab einen netten Ausschlag und hat dann nicht nur weh getan, sondern auch noch gejuckt.«

»Er ist jetzt über neunzig und verbringt die meiste Zeit in seinen Räumen im Turm. Er ist gebrechlich, aber nicht senil. Jedenfalls nicht mehr als in den letzten zwanzig Jahren. Wo wir bei Gebrechen sind, hast du mal daran gedacht, bei unserem nächsten Besuch beim König dein Knie von einem Priester anschauen zu lassen?«

»Aber sicher«, meinte Stian grimmig, »und wenn ich schon dabei bin, kann ich der Kirche auch gleich meine Jüngste für ihr beschissenes Noviziat übergeben. Bevor ich die Weißlichter an meine Knochen lasse, hacke ich mir das Bein lieber ab. Hat bei meinem Großvater auch fast zwanzig Jahre lang wunderbar mit einem Holzbein funktioniert. Hat der alte Geier dir nichts gesagt, außer dass du dir etwas anschauen sollst, was die Waldhüter angeschleppt haben?«

»Nay, kein Wort«, erwiderte Varg und nickte der Wache zu, die eine beschlagene Pforte öffnete.

Der Mann trat mit einer halben Verbeugung zur Seite und ließ die beiden Jarle den Durchgang passieren, der zu einem kleinen Nebenhof führte. Der alte Haushofmeister der Festung hatte ihm nur mitgeteilt, dass er sich ein Problem mit dem Wild anschauen solle. Es gab jedoch seit Monaten Gerüchte über verwachsene, missgebildete Tiere, die angeblich ab und an in den Wäldern auftauchten. Nicht nur in der Nähe von Snaergarde, obgleich solche Geschichten in Ulfrskógr, das von dunklen und düsteren Landstrichen beherrscht wurde, immer besser gediehen als anderswo.

Die beiden Jarle schritten hinter dem Tor zum Zentrum des Nebenhofes. Er war von dunkelgrauen Steinmauern eingefasst, die sich mehrere Mannslängen erhoben. Gegenüber der Pforte befand sich der Eingang zum Nordostturm, in dem Leoric seine Gemächer hatte. Eine kleine Gruppe Männer hatte sich in der Mitte des Hofes versammelt. In einer Ecke hinter ihnen sah man die Umrisse einiger großer Körper, die unter Tüchern verborgen waren. Eine Wache und zwei in grobes, ausgeblichenes Leder gekleidete Gestalten blieben zurück. Der Vierte im Bunde kam mit einer Verbeugung auf die Neuankömmlinge zu. »Seid gegrüßt, Mylords«, sagte der hagere Mann, der etwa so alt sein mochte wie der jüngere der beiden Jarle, und schlug sich mit der rechten Faust leicht gegen die linke Brustseite. Varg erwiderte den Gruß mit einem Nicken.

»Lass uns sehen, was deine Leute und meinen Majordomus so sehr beunruhigt, Jorge.« Das Unbehagen der Anwesenden war beinahe greifbar.

Die anderen beiden Waldhüter, welche die gleiche Kluft wie der Forstmeister trugen, kannte der Jarl nicht. Für gewöhnlich ließen sich Burschen, die den Großteil ihres Lebens in den Wäldern verbrachten, nur schwerlich ängstigen. Dafür neigten sie allerdings, ähnlich wie Seeleute, oft zum Aberglauben. Die kleine Gruppe ging zu den am Boden liegenden Körpern hinüber. Dann zog Jorge das Segeltuch vorsichtig zur Seite und bot den Neuankömmlingen einen auf Anhieb unspektakulären Anblick.

Auf dem kalten Pflaster lagen drei Kadaver, zwei Hirschkühe und ein Bock. Letzterer hatte eine Pfeilwunde und sah ansonsten aus wie jedes erlegte Tier. Von den beiden Kühen glich die eine auf den ersten Blick dem Bock. Der Körper der anderen jedoch war mit unzähligen kleinen Wunden überzogen, die aussahen, als habe jemand oder etwas Stücke aus ihrem Fleisch herausgerissen oder gebissen.

Varg ließ sich vor den Kadavern auf ein Knie nieder und schloss kurz die Augen, als ein reißender Schmerz durch seine linke Seite lief. Ein Andenken an den letzten Besuch am Wall, von dem er erst wenige Tage vor dem Eintreffen des Freundes zurückgekehrt war. Keine von den Klabautern zugefügte Wunde, aber eine schmerzhafte Zerrung, die von der Hüfte bis zur Schulter lief. Ein kleiner Preis für das berauschende Gefühl von Vitalität und Kraft, für den so selten erlebten Kampfrausch. In der Schlacht fühlte er sich noch wahrhaft lebendig. Wieder jung im Angesicht des Todes und im Rausch des bevorstehenden Blutvergießens. Die darauf meist folgende Depression war ein höherer Preis, aber auch der musste gezahlt werden. Schmerzen der Art, wie er sie nun empfand, zeigten ihm außerdem, dass dieses zeitweilige Gefühl der Jugend mittlerweile nicht mehr als eine Illusion war.

Der ältere Jarl trat von hinten heran und legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes, als er die am Boden liegenden Körper über ihn hinweg betrachtete.

»Ich habe nie besonders gerne Tiere gejagt, und es mag daher nicht viel heißen, aber diese Verletzungen sind von keinem Raubtier, dass ich kenne«, sagte Varg.

Die Löcher im Fleisch des Kadavers verliefen unregelmäßig über seinen gesamten Leib. Es war unmöglich zu erkennen, ob es einem oder mehreren Angreifern zum Opfer gefallen war. Stian murmelte zustimmend und humpelte zu der anderen Hirschkuh. »Schau dir das Vieh hier mal an«, sagte er, »da kann einem schlecht werden. Ich fange an zu verstehen, warum die beiden dort aussehen, als wären ihnen im Wald Klabauter begegnet.« Er deutete zu den Waldhütern hinüber, die mit blassen Gesichtern in einigen Schritten Entfernung standen.

Varg erhob sich langsam um daraufhin, sehr viel vorsichtiger als zuvor, neben dem zweiten Tier erneut auf ein Knie zu sinken. Es war ebenfalls eine Hirschkuh, und doch glich sie der anderen nur auf den ersten Blick. Je länger er den Körper anschaute, um so unbehaglicher fühlte er sich. Er verspürte deutlich den instinktiven Impuls, vor dem Kadaver zurückzuweichen.

Die Hinterbeine der Kuh waren an den Gelenken deformiert und offenbar gut zwei Handbreit länger, als bei ihrer Art üblich. Im ersten Moment hatte es ausgesehen, als wären die Gelenke beim Transport verdreht worden, doch dem war nicht so. Auf der Stirn, genau in der Mitte, hatte die Hirschkuh eine kleine Ausbuchtung. Es sah aus, als würde unter dem an dieser Stelle lichten Fell ein weiteres Horn herauswachsen wollen. Oder, wie dem Jarl fast augenblicklich in den Sinn kam, eine Geschwulst. Am schlimmsten aber waren die Augen. Zunächst hatte er gedacht, sie wären entzündet, wie das bei Wild eben manchmal vorkam. Wenn so eine Entzündung schwer genug war, konnten die Augen der Tiere regelrecht aus den Höhlen herausquellen. Das war jedoch nicht der Fall, auch wenn die Augen ganz offensichtlich nicht dort waren, wo sie hingehörten. Die Augäpfel selbst sahen normal aus, nur saßen sie gut zwei Finger breit weiter unten im Schädel, als sie es sollten. Es sah aus, als wären die Augenhöhlen ein Stück seitlich am Kopf heruntergerutscht. »Ich habe schon das eine oder andere missgestaltete Tier gesehen«, hörte Varg die Stimme des alten Jarls leise hinter sich, »aber von dem da würde ich nichts essen, und wenn ich am Verhungern wäre. Es ist ja nicht so, dass ihm ein zweites Geweih aus dem Arsch wächst, aber verdammt, diese Augen.«

Varg betrachtete das Tier noch einen Moment mit stetig wachsendem Unbehagen. Dann hob der den Kopf und suchte den Blick von Jorge. Im blassen, hageren Gesicht des Forstmeisters spiegelte sich tiefe Besorgnis. »Haben du oder deine Männer eine Ahnung, welches Tier die andere Hirschkuh angefallen haben könnte? Ist das hier das erste Mal, dass ihr so etwas gefunden habt? Und schließlich, wer beziehungsweise wie viele Leute wissen davon?«

Der Forstmeister schluckte hörbar und räusperte sich, bevor er antwortete. »Mein Lord, die Waldhüter haben seit letztem Herbst immer wieder mal ein Tier gemeldet, das etwas seltsam aussah. In diesen Fällen haben sie es geschossen und im Wald vergraben oder verbrannt.

Ich wollte Euch nicht wegen ein paar Missbildungen belästigen und die Leute auch nicht grundlos beunruhigen. So etwas kommt in manchen Jahren hier oben eben vor. Aber solche Wunden wie bei der zerbissenen Kuh haben wir vorgestern zum ersten Mal gesehen. Deswegen haben wie die Tiere mitgebracht. Meister Leoric war ebenso ratlos wie wir. Er wies uns an, euch zu rufen. Wir haben noch mit niemandem weiter darüber gesprochen.«

Der Mann schluckte erneut, verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und ließ sich dann ebenfalls neben dem verwachsenen Tier in die Knie sinken. »Wenn ihr erlaubt, mein Lord.« Er legte der Hirschkuh den linken Arm um den Kopf und drehte ihn so, dass beide Jarle die Schnauze sehen konnten. Dann griff er dem Tier mit seiner behandschuhten Rechten in das Maul und drückte es auf.

»Blødy Føke, wie mein Großvater gesagt hätte«, hauchte der alte Jarl av Falksten in nachdenklichem Tonfall, »was ist das für eine widernatürliche Scheiße, die sich da in deinen Wäldern herumtreibt?«

»Ich nehme an«, sagte Varg mit belegter Stimme, »die Größe vom Gebiss passt mit den Wunden bei dem anderen Tier?«

Der Forstmeister nickte. »Die Männer haben die eine Kuh geschossen, als sie über der anderen gestanden hat und an ihr fraß. Oder es versucht hat.«

Im ersten Moment hatte der Jarl geglaubt, ein blutverschmiertes Raubtiergebiss im Maul der Kuh zu sehen. Die Zähne waren allerdings so flach und stumpf, wie es bei einem Pflanzenfresser zu erwarten war. Dennoch war das Gebiss mit getrocknetem Blut verschmiert. Zwischen den breiten, plumpen Mahlzähnen hingen vereinzelte Fetzen Gewebe, bei denen es sich um Fleischreste aus dem Körper des zweiten Tieres handeln musste.

»Dann hat die Hirschkuh mit den verrutschten Augen sich wohl gedacht, dass immer nur Grünzeug auf Dauer langweilig ist«, meinte der ältere Jarl, »Die Artgenossen sehen doch auch ganz lecker aus. Was genau machst du noch mal in deinen Wäldern, Varg? Irgendetwas, dass du mir erzählen möchtest?«

Der besorgte Klang seiner Stimme strafte die Unbefangenheit der Worte Lügen. Was auch immer mit diesen Tieren geschah, mochte eine Gefahr für eine der wenigen Nahrungsquellen bedeuten, die Norselund nach dem Grau verblieben waren. Wild spielte kaum mehr eine Rolle bei der Ernährung. Aber Krankheiten konnten ansteckend sein und auf die wertvollen Nutztiere übergreifen.

»Lass uns das später bei einem Stück Hirschbraten besprechen«, gab Varg trocken zurück. Er wandte sich erneut dem Forstmeister zu. »Bringt den Kadaver von der Kuh mit den Missbildungen zum Eingang vom Turm und packt ihn wieder ein. Damit wird sich Meister Leoric noch eingehender beschäftigen. Verbrennt der Rest und vergrabt die Asche.«

Er stand auf und ging einige Schritte zu den beiden Waldhütern und dem Wachmann hinüber.

»Ihr drei, und das gilt auch für dich und jeden anderen, der bislang damit zu tun hatte, Jorge. Ihr werdet über diese Sache Stillschweigen bewahren. Es mag Gerüchte über merkwürdige Tiere im Wald geben, die gibt es vermutlich ohnehin schon länger. Wenn mir aber in den nächsten Wochen zu Ohren kommt, dass sich Raubhirsche in unseren Wäldern herumtreiben, werde ich wissen, wer nicht das Maul halten konnte. Haben das alle verstanden?«

Die Männer murmelten zustimmend, und es hörte sich durchaus aufrichtig an. Die Stimme des Jarls hatte einen metallischen Klang angenommen, der ihnen nur zu vertraut war. »Wenn ihr wieder auf solche Tiere stoßt, seien es missgebildete oder welche mit derartigen Wunden, dann lasst sie im Wald. Verbrennt sie wenn möglich und vergrabt die Asche. Wenn Feuer keine Option ist, dann vergrabt die Kadaver, aber macht es tief und ordentlich. Ich will von diesem Zeug nichts mehr hier haben, aber meldet sie Jorge, und nur ihm. Jeden einzelnen Fall. Es ist wichtig, dass ich mir ein Bild davon machen kann, wie oft das passiert. Und nach Möglichkeit auch wo. Jorge, du sammelst diese Meldungen und erstattest mir einmal die Woche Bericht, verstanden?«

Der Forstmeister nickte stumm.

»Gut, dann räumt hier auf. Stian kommst du mit zu Leoric? Die Treppe ist ein wenig steil, du weißt schon«, er deutete vage in Richtung des Beines seines Freundes.

Der nickte nur und machte eine wegwerfende Geste. Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Turmes, in dem der alte Haushofmeister lebte. Die Männer begannen stumm damit, die Kadaver der Tiere wegzuschaffen.

»Bald kannst du dir statt Hunden Wachhirsche halten, das hat sicher kein anderes Haus im Königreich zu bieten. Wird vielleicht endlich mal ein neuer Exportartikel. Eine Alternative zu den langweiligen Eisenbarren«, bemerkte Stian, während er auf den Stock gestützt neben dem Burgherrn zum Eingang des Turmes ging. Dieser warf einen kurzen Seitenblick auf den Freund und sah, dass er trotz seiner Worte blasser war als sonst. Die zahllosen Falten in dem alten, harten Gesicht schienen noch einen Millimeter tiefer geworden zu sein.

»Wenn uns das Wild verreckt«, meinte Varg leise, »oder sich gegenseitig auffrisst, wird die Nahrungsversorgung mancherorts vielleicht ein bisschen dünner. Das würde kein großes Problem darstellen. Darüber, dass dieses Zeug für die Nutztiere ansteckend sein könnte, möchte ich allerdings lieber nicht weiter nachdenken.«

»In der Tat«, stimmte Stian abwesendem Ton zu, »ich weiß noch, wie es sich anfühlt, wenn der Hungertod mehr ist, als nur ein Schreckgespenst. In meiner Kindheit war der Hunger der Schnitter, der fleißig sein Tageswerk um uns herum verrichtet hat. Ich war natürlich als Familienmitglied des Jarls besser versorgt als die armen Schweine da draußen, aber auch ich weiß noch recht gut, wie lecker wässriger Getreidebrei im Gegensatz zu Luft sein kann. Ich war heilfroh, als sich die Lage damals langsam normalisiert hat. In meinen späten Jugendjahren hatte ich jedenfalls wieder jeden Tag etwas zu essen und es ist nicht jede Woche jemand verreckt, den ich kannte.«

Als sie die schwere Eisenholztür des Turmes erreichten, ergriff Varg mit der behandschuhten Rechten den mit Holz verkleideten eisernen Bügel und drückte dagegen. Fast geräuschlos schwang der beschlagene Türflügel auf und gab den Blick in einen kleinen, dunklen Vorraum frei. Eine schmal gewundene Treppe führte steil nach oben.

Stian seufzte beim Anblick der zahlreichen, flachen Stufen.

»Ein alter Krüppel hinauf oder ein steinalter Tattergreis hinab, einen muss es treffen. Diesmal ist die Reihe wohl an dem alten Krüppel.«

»Wenn du das nächste Mal da bist, habe ich sicher schon ein paar von den Wachhirschen darauf abgerichtet, meine ältlichen Freunde durch die Gegend zu tragen«, meinte Varg. »Komm schon, jeder Heiler hat dir bis jetzt gesagt, dass Bewegung deine Beschwerden lindern wird. Wir gehen ja langsam.«

Der andere seufzte erneut und sie begannen den Aufstieg.

Leoric Holstodden war einer der letzten noch lebenden Magier, die den Krieg zwischen Norselund und dem Königreich vor achtzig Jahren miterlebt hatten. Die Hochzeit der Magie war schon seit Jahrhunderten vorbei. In den alten Tagen hatte jede Mark des Reiches über ihre eigene Magiergilde verfügt.

Schon bei der Reichsgründung vor über achthundert Jahren hatten die Verheerungen, welche die Kampfmagier anrichteten, die Saat der Angst und des Misstrauens in den Herzen der Menschen gesät. Nach der Zerschlagung der Gilden und der Verfolgung durch Kirche und Inquisition unter der Herrschaft von Gregor dem Erleuchteten war die Insel schließlich zur letzten Zuflucht für magisch Begabte geworden. Bei dem Krieg vor achtzig Jahren standen sie dann auch fast ausnahmslos hinter den Jarlen. Als die norselunder Armee die Invasionsstreitkräfte des Königs an der Küste aufzuhalten versuchte, fanden sie bis auf wenige Ausnahmen den Tod.

Leoric war bei dieser mehrere Tage dauernden Schlacht dabei gewesen. Ein junger Bursche noch, doch nach nur wenigen Jahren der Ausbildung wusste er schon damals, dass es um sein magisches Talent nicht sonderlich gut bestellt war. Als sich der Schlachtenlärm gelegt hatte, hatte er zu einer Handvoll überlebender Magier gehört. Ein Stümper wie er war in schweren Kampfhandlungen nutzlos. So war er im Chaos der Schlacht am Leben geblieben, ohne wirklich zu wissen, wie ihm geschah. Jeder Nachteil vermochte einem unter den richtigen Umständen zum Vorteil gereichen. Er stand seit fast sechzig Jahren im Dienste derer av Ulfrskógr und hatte das letzte halbe Jahrhundert zurückgezogen auf Snaergarde verbracht.

Er hatte immer Freude an der Alchemie gefunden, und hierauf beschränkte sich auch seine magische Tätigkeit. Jetzt siebenundneunzig Jahre alt, kümmerte er sich schon eine ganze Weile kaum noch um die Belange, die einem Haushofmeister eigentlich zukamen. Er pflegte die nach all der Zeit gar nicht mehr so kleine Bibliothek, braute die eine oder andere magisch verstärkte Medizin, und erfreute sich ansonsten, so gut es eben ging, seines hohen Alters.

Der Greis saß an dem Esstisch der Wohnstube, die zugleich den Flur zu den anderen Gemächern bildete. Von hier aus führten Türen zum Schlafgemach, dem Labor und zu einem Raum ein Stockwerk höher, seiner Bibliothek. Er hörte die Schritte auf der Treppe vor der Eingangstür und erhob sich langsam. Sein Gehör war der Sinn, der ihm am besten erhalten geblieben war.

Es war ihm weniger gut gelungen das Alter aufzuhalten, als es ein fähigerer Magier vermocht hätte, aber er war recht zufrieden. Ein paar Jahre würden ihm noch in einem lebenswerten Zustand bleiben, und er hatte die Schmerzen der alten Gelenke mit Hilfe der Tränke gut im Griff. Er erreichte die Eingangstür beinahe in dem Moment, als sie sich nach einem kurzen Klopfen langsam öffnete.

»Ah, mein Lord, ihr habt euch die Tiere angesehen, nehme ich an. Kommt doch herein, wenn ich auch fürchte, wenig Wissenswertes beisteuern zu können«, sagte er, wahrend die beiden Besucher eintraten, und fügte mit einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des älteren Jarls hinzu: »Lord av Falksten.«

Sie gingen hinüber zu dem Esstisch, wo sich der Greis erst an den Tisch lehnte, dann aber auf einen Wink von Varg behutsam wieder setzte. Stian, der nach dem Aufstieg der vielen Stufen kaum schneller ging als der Haushofmeister, ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken. Varg blieb vor den beiden älteren Männern stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Was kannst du mir dazu sagen?«, wollte er von Leoric wissen, »wie weit hast du die Tiere bislang untersucht? Ich habe dir die missgebildete Kuh aufgehoben, die anderen werden entsorgt.«

»Ich habe sie mir nur oberflächlich angeschaut«, gab der Greis zurück, »als ich sah, was offenbar passiert ist, habe ich angewiesen, dass ihr die Sache persönlich in Augenschein nehmt, bevor ich etwas daran verändere. Es ist, wie ich finde, ein wenig schwer zu glauben, wenn es man es nicht selbst gesehen hat. Ganz gleich, von wem es einem berichtet wird.

Leider kann ich dazu nur sagen, dass ich so etwas noch nie beobachtet oder davon gehört habe. Die Natur hat sich nach dem Grau verändert, und sie tut es noch, aber das dort draußen macht einfach keinen Sinn. Dass ein Tier vom Pflanzenfresser zum Fleischfresser wird, dazu noch zum Kannibalen, ist einfach widernatürlich.«

»Zumal dafür keine Notwendigkeit besteht«, stimmte der Jarl zu, »die Tiere haben in den Wäldern so viel Platz und Futter, das es keinen Bedarf für eine neue Nahrungsquelle gibt. Geschweige denn dafür, die eigene Art anzugreifen. Aber wie dem auch sei, dein Tier liegt vor der Tür, Leoric. Ich will, dass du es auseinandernimmst und alles in Erfahrung bringst, was du kannst. Schneid es auseinander, koch es aus, löse es in deiner Giftküche auf und verfüttere es an Ratten und schau, was passiert. Aber finde heraus, was mit dem Wild nicht stimmt. Wie die Missbildungen zustande kommen, und wie einige von ihnen so aggressiv werden konnten. Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr wir auf jede unserer bescheidenen Nahrungsquellen angewiesen sind.«

»Ich bin mir des Ernstes dieser Angelegenheit durchaus bewusst, mein Lord. Ich werde natürlich mein Möglichstes tun. Was habt ihr den Männern gesagt? Es wäre vielleicht besser, wenn sie die Sache vorerst nicht hinausposaunen würden. Der Winter wird bald über uns kommen«, er verstummte, als der Jarl die Hand hob.

»So lange wie irgend möglich wird niemand etwas davon erfahren. Wenn dich jemand fragt, was du mit dem Kadaver machst, sag ihm einen Gruß von seinem Jarl und er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Tu, was in deiner Macht steht und fang heute damit an. Jede Kleinigkeit an Information ist willkommen, im Moment habe ich nichts und kann dementsprechend auch nichts unternehmen. Wenn die Waldhüter weitere Fälle wie diesen zu Gesicht bekommen, werde ich davon erfahren.«

Leoric senkte den Kopf, »natürlich, mein Lord. Ich werde dafür sorgen, dass ihr umgehend benachrichtigt werdet, wenn ich etwas finde, das von Interesse sein könnte.«

»Das heißt dann wohl«, brummte Stian, »das ich nach den paar Minuten diese beschissene Treppe wieder herunter humpeln kann.«

»Dein Scharfsinn wird nur von deiner Leidensfähigkeit übertroffen«, gab Varg zurück. »Wenn wir unten sind, bekommst du einen Bierschlauch ganz für dich allein. Und ein warmes Feuer wartet auf deine alten verdrehten Knochen.«

»Na, wenn das keine lohnende Aussicht ist. Eine Einladung zum Bier ist ja bei dir gleichbedeutend mit Speise und Trank in einem. Aber immer noch besser als dein Wildbret dieser Tage.«

Auf dem Weg nach unten fluchte Stian vor Schmerzen leise in sich hinein. Sein Knie fühlte sich an, als hätte man ihm zerstoßenes Glas zwischen das Gelenk geschüttet. »In drei Tagen reise ich ab«, sagte er keuchend, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten und den Turm verließen. »Wenn ich dein schönes Jarltum vor dem Wintereinbruch hinter mich bringe, kann ich im Oktober mal schauen, was mein Schwiegersohn und meine Tochter für die kalten Monate vorhaben. Außerdem werde ich mir ein Bild machen, wie Tiere im Süden so aussehen, besonders das Wild.«

Der jüngere Jarl nickte.

»Ich glaube ja, dass du nur Angst vor meinen Wachhirschen bekommen hast. Aber es kann sicher nicht schaden, wenn wir in allen Jarltümern die Augen offen halten. Was immer hier passiert, mag ebenso gut anderswo im Gange sein. Dann lass uns Essen und Trinken und die nächsten Tage genießen. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.«

»Aye. Hoffen wir, dass dich dein Wild nicht gefressen hat, wenn ich im Frühjahr wiederkomme. Wie ich dich kenne, wirst du dich ja wie üblich nicht dazu bewegen lassen, deine Höhle hier mal für eine Weile zu verlassen und die Südländer besuchen zu kommen.«

»Du weißt doch, wie das ist«, meinte Varg, »Die Minen, die Schmieden, das Eisen. Jemand muss alles am Laufen halten. Außerdem muss ich mich um die Ausbildung meiner Rabengarde kümmern.«

Er lächelte, als der andere grunzend abwinkte. Was er gesagt hatte, entsprach den Tatsachen, aber beide wussten, dass er einfach gerne hier war und kein Verlangen verspürte, seine Heimstatt zu verlassen. Er hätte sicher für eine gewisse Zeit weg gekonnt, gerade im Winter. Für eine Weile war Sigvar Rothborg, einer seiner engsten Vertrauten, durchaus in der Lage, ihn zu vertreten. Der zweitälteste Sohn eines Thane aus dem Westen des Jarltums war vor fünfzehn Jahren als Anwärter für die Rabengarde nach Snaergarde gekommen. Inzwischen war er deren Hauptmann. Darüber hinaus hatte der Jarl den ebenso stillen wie intelligenten und kompromisslosen Mann zu einer Art Stellvertreter aufgebaut. Heute war der Dreißigjährige einer seiner wertvollsten Gefolgsmänner. Er kannte jeden Winkel des Jarltums und wusste über alle Abläufe Bescheid, die für die Minen, die Eisenverarbeitung und die Festung selbst von Bedeutung waren.

Doch der Jarl hatte den Winter in der Heimat immer geliebt. Diese langen, eisigen und dunklen Tage, die vielen anderen so sehr auf das Gemüt schlugen. Er war ein Sohn Norselunds durch und durch, ein Angehöriger einer Generation, die in das ewige Grau hineingeboren worden war. Darüber hinaus floss in seinen Adern das Blut von Hathagat Ohngesicht, dem Gründer der Dynastie aus den kalten, dunklen Wäldern des höchsten Nordens. Die beiden Jarle gingen einträchtig und so langsam, wie das Bein des älteren Mannes es nötig machte, zu dem Aufgang des Bergfriedes zurück.

Während sie wenig später gemeinsam vor dem Feuer eines großen, gemauerten Kamins saßen und tranken, schleppte Leoric sich die Stufen seines Turmes hinab. Als er schließlich aus der Tür in den feinen Schnee hinaus trat, hatte man das Tier bereits gebracht und lose wieder zugedeckt. Jemand war so vorausschauend gewesen, und hatte einen hölzernen Schemel neben den Eingang des Turmes gestellt. Daneben stand ein kleines Tischchen, kaum mehr als ein niedriger Hocker.

Der Greis ließ sich ächzend auf der Sitzgelegenheit nieder und legte die Umhängetasche, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er kramte eine Weile darin herum und lauschte dabei der allgegenwärtigen, leisen Musik der Hämmer der Ausschmieder, die rund um die Uhr arbeiteten. Es waren durch die dicken Mauern der Burg gedämpfte, vertraute und beruhigende Geräusche. Ein angenehmer Gegensatz zu dem missgebildeten Etwas, das so beunruhigend real vor ihm lag. Mit den Resten seines toten Artgenossen zwischen den Zähnen.

Seufzend beugte sich der Greis über den Kadaver und zog das Tuch beiseite. Dann nahm er ein gebogenes Messer mit einer kurzen aber scharfen Klinge in seine skelettartige Rechte. Langsam begann er, Teile von Horn, Fell und Fleisch herauszuschneiden. Irgendwo weiter im Norden schrie ein Tier im Wald.

Vielleicht, dachte Leoric, als er die ersten Gewebestücke in einem kleinen Tonschälchen verstaute, war es auch ein Waldhüter.

Die Rückkehr des Wanderers

Подняться наверх