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Kapitel 2

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Dedra

In den Tagen des frühen Septembers des Jahres 826 wurde der Greisin bewusst, dass sie in wenigen Jahren zu alt sein würde, um so weiterzuleben, wie sie es bisher getan hatte.

Die alte Dedra lebte seit Jahrzehnten in diesem abgelegenen Landstrich der Ostmark. Ihre rustikale Hütte war inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt. Sie stand versteckt am Rande der Wälder, welche die östlichen Grenzlande markierten. Es war damals eine gute Entscheidung gewesen, sich hier niederzulassen. Eine, die ihr mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet und die sie nie bereut hatte.

Seit einigen Jahren schon mied sie die unzugänglicheren Gebiete der Wälder, die sie im Stillen als die ihren betrachtete. Das dichte, wurzelige Unterholz war ihr im gleichen Maße zur Qual geworden, in dem die Arthritis in ihren Fußgelenken und Knien voranschritt. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt als Kräuterfrau, und ihre Künste dienten in erster Linie den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes Flusswalde. Doch auch aus weiter entfernt gelegenen Ortschaften wie Grenzfelde oder Waldesrast kamen ab und an Menschen zu ihr. Es gab nicht mehr viele Frauen wie sie, und sie verstand ihr Handwerk trefflich. Die Knappheit an fähigen Heilerinnen lag in dem Erstarken der Kirche in den letzten zweihundert Jahren begründet.

In der heutigen Zeit führte man als weise Frau, wie man ihresgleichen in den alten Tagen genannt hatte, mit Glück und Geschick ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Und selbst das nur, wenn man so vorausschauend war, sich einen Platz zum Leben in ausreichender Entfernung zu größeren Ortschaften oder gar Städten zu suchen. Achtete man nicht auf diese Dinge, war es oft ein kurzes Leben. Eines mit einem frühen und höchst unerfreulichen Ende dazu.

In den ländlichen Gebieten waren die alten Traditionen oft noch ebenso gegenwärtig wie der Aberglaube. Die Lichtbringer waren weit genug weg, um keine unmittelbare Bedrohung darzustellen. Auch die Erinnerungen an den Segen, den eine Kräuterfrau für ein kleines Dorf darstellen konnte, war vielerorts bewahrt geblieben. Und doch bewegte man sich immer im trügerischen Schutz einer Grauzone zwischen dem Gesetz der Religion und dem Nutzen, den man für die Menschen darstellte. In den Ortschaften und Städten hatte die Kirche sich ebenso schnell und nachhaltig etabliert, wie sie den alten Glauben vernichtet hatte. Dort, wo Macht und Reichtum erwuchsen, waren Priester und andere Schmarotzer naturgemäß nicht weit.

Unter George II, dem Erleuchteten, hatte sich die Welt geändert. Den von der Kirche verliehenen Beinamen hatte er sich ebenso blutig wie eifrig verdient. Bis zu seinem Amtsantritt war der Glaube an den Lichtbringer vielerorts nur die Religion der Herren gewesen, kaum mehr als eine elitäre Sekte. Während seiner Regentschaft und mit seinem Segen aber begann eine Missionierung von nie dagewesener Kompromisslosigkeit. George ließ die von ihm auserkorene Glaubenslehre zur einzig wahren erklären, und er beließ es nicht bei einem Lippenbekenntnis. Er trieb die Verbreitung der kirchlichen Lehre mindestens ebenso eifrig voran, wie die Priester selbst. Dabei stand er ihnen weder in Ungeduld noch in Rücksichtslosigkeit nach. Die Lehren der alten Glaubensrichtungen erklärte man kurzerhand zur Ketzerei. Gleiches galt für die Anwendung von Magie, deren Ausübung in allen Reichsstädten verboten wurde. Der erste Schritt zu Ausrottung jeder Form von Magie im Königreich, die sich nicht der Kirche unterwarf.

Die Vernichtung der Magiergilden war nur eine von vielen berüchtigten Taten des Königs, der als der Erleuchtete in die Geschichte eingehen sollte. In den blutigsten Kämpfen seit den Gründerkriegen des Reiches zerschlugen die Truppen von König und Kirche schließlich die Gilden und schliffen ihre Türme. Alsbald galt jede Form nichtkirchlichen Wunderwirkens als Blasphemie. War der vor den Magierkriegen gegründete Templerorden Schwert und Schild der Kirche, so war die später ins Leben gerufene Inquisition ihr Dolch.

Diese Entwicklung, die mit einem enormen Machtgewinn für die Kirche einherging, sollte sich als unumkehrbar erweisen. Derartig tiefgreifende Veränderungen mussten über viele Jahre hinweg in einer Gesellschaft Wurzeln schlagen, um von Dauer zu sein. Ein baldiger Machtwechsel, ein neuer und weniger frommer König, hätte die Lage im Reich unter Umständen wieder verändern können. Die Zeit war jedoch auf der Seite der Kirche. George bekleidete mit knapp einem halben Jahrhundert die längste Regierungszeit in der Reichsgeschichte. Als er schließlich hochbetagt starb, war die Macht der Geistlichen unumkehrbar konsolidiert gewesen.

Heute, etliche Generationen später, gab es in jeder größeren Ortschaft zumindest eine Kapelle. Dort konnte man für die Gesundung von Krankheit und Verletzungen beten und spenden. Immerhin den Jüngern des Lichtbringers war damit geholfen, und mit ein wenig Glück fand man sogar einen Priester, der ein wenig von Heilkunde verstand oder gar dazu fähig war, echte Heilmagie anzuwenden. Es gab durchaus noch Geistliche, die über die Gabe der alten Magie verfügten. Diese gesegneten Brüder fand man allerdings eher in den Städten und Burgen der Reichen und Mächtigen.

In den ländlichen Gebieten war eine Präsenz der Kirche weniger gewinnbringend. Hier war das Leben als Kräuterfrau dieser Tage relativ sicher. Ohne Frage musste man trotzdem eine gewisse Vorsicht walten lassen. Sonst konnte es einem auch in dünn besiedelten Landstrichen passieren, dass man als Hexe auf dem Scheiterhaufen oder an einen Baum genagelt endete. Die Gefahr hierfür war natürlich viel geringer geworden, nachdem vor einigen Jahrzehnten das Grau über die Welt gekommen war.

Wenn man damit beschäftigt war, um das nackte Überleben zu kämpfen, gab es für gewöhnlich wichtigere Dinge zu tun, als alte Frauen an Bäume zu nageln.

Dedra war nicht alt genug, um sich an die Zeiten des religiösen Umbruchs vor zwei Jahrhunderten zu erinnern. Sie gehörte jedoch zu den wenigen Menschen, die noch wussten, wie direkter Sonnenschein aussah und sich anfühlte. Sie hatte eine ganze Weile vor dem Grau gelebt, das vor sechzig Jahren über die Welt gekommen war. Auch wenn diese Erinnerungen zunehmend verschwommen und unzuverlässig wurden. Das Phänomen, das alten Menschen ihre Jugenderinnerungen lebhaft erhalten blieben, während ihr Kurzzeitgedächtnis immer schlechter wurde, traf auf sie nicht zu. Die Vergangenheit schien für sie mit jedem weiteren Winter tiefer in einem Nebel zu verschwinden. Im Gegenzug wurde sie von der Vergesslichkeit verschont, die so viele Alte in den letzten Jahren befiel. Ihr Geist war klar und ihr Gedächtnis so gut wie eh und je. Eine kleine Entschädigung der Götter, die es nicht gab, dafür, dass die Arthritis langsam aber sicher ihre Gelenke auffraß, vermutete Dedra. Sie hatte vor dem Grau lange Zeit als Kräuterfrau gearbeitet, ohne als Hexe behelligt zu werden. Durchaus auch in größeren Städten. Das gelang, damals wie heute, vielen echten Hexen. Verbrannt wurden für gewöhnlich Frauen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Bevor sich der Himmel und damit die Welt verändert hatte, war Dedra bereits recht alt gewesen. Selbst in ihrer Jugend hätte sie wohl kaum ein Mann als hübsch bezeichnet. Aber sie war eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Als offensichtlich wurde, dass das Grau nicht auf ebenso plötzliche und mysteriöse Weise verschwinden würde, wie es gekommen war, begannen die Unruhen. Dedra beschloss damals, dass es an der Zeit war, sich einen ruhigen Platz zu suchen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie reiste eine Weile durch die dunkel gewordene Welt, wobei sie mit Glück, Erfahrung und Glamour die Wirren der ersten Jahre des Hungers und Blutvergießens überlebte.

Schließlich führte sie ihr Weg nach Flusswalde. Die vorherige Kräuterfrau, im Gegensatz zu ihr in der Tat nur eine einfache Kräuterkundige, war kurz zuvor gestorben. Sie war eine gute Heilerin gewesen, was es Dedra erleichtert hatte, das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Der meisten jedenfalls. Es waren einfache, aber für ihren Stand beinahe wohlhabende Leute, die hier lebten. Das Land war trotz des Grau noch fruchtbar, wenn auch der Überfluss alter Tage der Vergangenheit angehörte. Die Nähe zum Grenzland sowie der Fluss, an dessen Ufern das Dorf lag und dem es seinen Namen verdankte, trugen ihr Übriges zu dem hier herrschenden Wohlstand bei. Der Handel, der früher mit einigen Siedlungen aus dem Umland betrieben wurde, war freilich längst versiegt. Inzwischen wurde entweder nicht mehr genug Überschuss produziert um ihn als Handelsware anzubieten, oder es gab anderswo keine lohnende Bezahlung.

Dedra lies ihre Gedanken in die hinter ihr liegenden Jahrzehnte schweifen, während sie sich durch den Wald arbeitete. Ihr Stock, seit vielen Jahren ihr ständiger Begleiter, war hier kaum eine Hilfe. Sie merkte, dass sie sich dieser Tage immer öfter mit der stetig nebulöser werdenden Vergangenheit beschäftige. Aber was, zum Teufel, sollte es schon. Das war schließlich ein Anrecht der Alten.

Nach ihrer Ankunft in Flusswalde hatte Dedra geholfen, wo immer sie es vermocht hatte. Außerdem hatte sie nur das Nötigste für ihre Dienste verlangt und stets ein freundliches Wort für die gehabt, die zu ihr kamen. Natürlich gab es auch Menschen, die der alten Frau skeptisch gegenübergestanden. Sie hatte etwas Merkwürdiges, nicht Greifbares in Benehmen und Aussehen, das auf einige Leute abstoßend wirkte. Was die einen als die exzentrische Schrulligkeit einer ansonsten umgänglichen Greisin betrachteten, erschien anderen als unheimlich und befremdlich.

Diese misstrauischen Menschen gab es allerorts und sie stellten stets ein Problem dar, dessen man sich sorgfältig annehmen musste. Kirche und Inquisition mochten auf dem Land weit weg sein, doch eine Hexe war auch in den traditionellen Mythen durchweg als gefährliche und düstere Kreatur dargestellt worden. Im Grunde lief es immer wieder darauf hinaus, dass ein Verdacht gegen eine Frau schnell ausgesprochen war. Dass letztendlich niemand einen Furz um eine tote alte Vettel mehr oder weniger gab, war ebenfalls eine Tatsache.

Dedra war beständig in ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, und da außer ihr kein Heiler verfügbar war, kamen auch die Misstrauischen und Feindseeligen schließlich zu ihr. Früher oder später wurde jeder krank, und wenn nicht, hatte man als Hexe Möglichkeiten, dafür zu sorgen. Auf diese Weise konnte sie das Problem langsam aber nachhaltig lösen.

Dedra wusste genau, welche der Dorfbewohner ihr misstrauten. Sie kannte bald jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Sie wusste, wer sich vor ihr ängstige, ebenso wie sie einzuschätzen vermochte, wer ihr regelrecht feindselig gegenüberstand. Die Ängstlichen ließen sich meist mit behutsamer Freundlichkeit, Können oder Glamour überzeugen. Bei einigen aber war jede Liebesmüh vergebens. Es gab immer ein paar dieser Sorte, wohin man auch kam. Deshalb wurden manche Menschen nach ihrer Behandlung gesund und andere starben kurz darauf. So war das nun einmal in der Welt. Krankheiten waren tückisch und oft unberechenbar, Kinder ertranken beim Spielen am Fluss oder brachen sich die Knochen, wenn sie von einem erkletterten Baum fielen. Es gab so vieles, was im dörflichen Alltag passieren mochte, und auch die beste Kräuterfrau konnte nicht überall sein und jedes Leben retten. Auf einen der starb kamen neun oder mehr, die durch Dedras Hilfe wieder gesund wurden. Die Dörfler schätzten sich glücklich, eine so fähige Heilerin zur Verfügung zu haben.

Etwa zwanzig Jahre nach ihrer Ankunft, sie lebte längst in der Hütte am Waldrand, gab es keine Menschen mehr in Flusswalde, die ihr feindselig gegenüberstanden. Diese Sorte war meist jung, zumindest aber am Ende kinderlos, verstorben. Ein Lächeln, das die uralte Ruine ihres Gesichtes in tausend Falten legte, zog sich über die Züge der Greisin. Es hielt sich jedoch nur kurz, bis eine frische, siedende Welle Schmerz von ihrem linken Knöchel aus ihr Bein hinauf floss, nachdem sie auf eine Wurzel getreten war.

Inzwischen behandelte sie die dritte Generation von Dorfbewohnern und war längst ein fester Bestandteil des Lebens in Flusswalde geworden. Schon die Großeltern waren zu ihr gegangen. Dass bereits diese die weise Frau vor fünfzig Jahren als die alte Dedra bezeichnet hatten, mochte vielleicht manch einem befremdlich erscheinen. Aber so war eben der Lauf der Dinge, einige Menschen starben jung, andere hielten sich länger. Davon abgesehen wollte sich niemand ausmalen, wie es sein würde, wenn die erfahrene Kräuterfrau nicht mehr da war. Schließlich kannte sie Medizin gegen unzählige Leiden und Gebrechen. Ob Magenverstimmung, gebrochene Knochen oder Fieber. Ob eine schwere Geburt anstand, oder Kinderkrankheiten umgingen, die alte Dedra wusste Rat. Und sie nahm noch immer kaum mehr als das Nötigste für ihre Dienste. Nicht wenige Menschen sahen in ihr den guten Geist des Dorfes. Sie mochte mit den Jahren etwas wunderlich werden, aber so waren alte Leute nun einmal.

Dedra sah an diesem frühen Herbstnachmittag tatsächlich ein wenig wie ein Geist aus, und wie ein erschöpfter dazu. Sie schleppte sich gerade schnaufend über den Boden des Waldrandes vor ihrer Hütte. Mit einem erleichterten Grunzen nahm sie die letzten paar Schritte zur hinteren Veranda in Angriff. Sie war eine Hexe, eine der wenigen echten, die es noch gab, aber sie war ebenso eine leidenschaftliche Kräuterfrau, und zwar eine hervorragende.

Alchemie und Kräuterkunde hatten ihr immer Freude bereitet, obgleich Menschen für sie nicht viel mehr waren als Nutztiere. Es war erheiternd, einem von ihnen einen Trank zu verabreichen, der ihn in Krämpfen verenden ließ. Es konnte jedoch auch durchaus befriedigend sein, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Bei all dem war es für eine Hexe unabdingbar, über ein fundiertes Wissen in der Naturheilkunde zu verfügen, wenn sie längere Zeit an einem Ort leben und arbeiten wollte.

Wer das, was die Ignoranten die dunkle Kunst nannten, öfter als unbedingt nötig gebrauchte, blieb nicht lange unentdeckt. Und dann waren immer rasch Leute mit Fackeln und Mistgabeln oder Hammer und Nägeln zur Stelle. Eben diese Kräuterheilkunde aber war in den Jahren seit dem Grau ständig schwieriger geworden. Durch die anhaltend kälteren Temperaturen und das Fehlen von direktem Sonnenlicht hatten sich Fauna und Flora verändert. Dabei schienen ihr die Veränderungen der Pflanzenwelt bis vor kurzem am gravierendsten zu sein. Vor den vielen Eichhörnchen und den Hirschen. In jedem Fall aber waren sie für ihre Arbeit problematischer. Sie hatte die neuen Umstände das eine um das andere Mal verflucht. Zum Glück war sie dank ihrer Kunst nicht ausschließlich auf die Natur angewiesen.

Einige Kräuter waren während der kühlen Jahrzehnte einfach nur selten geworden oder ausgestorben. Andere Pflanzen wiederum gab es zwar noch, doch verloren sie im Laufe der Zeit teilweise oder vollständig ihre Wirkung. So heilte Dedra seit fast dreißig Jahren eine Blasenentzündung nicht mehr mit Grelenwurz, wie es in diesem Teil der Welt üblich war. Sie verwendete die Pflanze nicht mehr, weil sie früher in den warmen Monaten von Mitte Juni bis Mitte August geblüht hatte. Nur wenn es in seiner Blüte geerntet wurde, entfaltete das Kraut seine Heilkraft. Nun gab es aber seit sechzig Jahren keine warmen Sommermonate mehr. Und damit natürlich auch kein wirksames Grelenwurz. Sie heilte die Blasenentzündungen trotzdem, obgleich ihre übernatürlichen heilerischen Fähigkeiten vergleichsweise bescheiden waren. Sie war jedoch eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Es gab schließlich genug Kraut, das so ähnlich aussah. Die Dorfbewohner kannten sich mit diesen Dingen ohnehin nicht aus. Den meisten war es auch egal, was sie nahmen, solange es nur half. In jedem Fall wäre es für eine halb so alte Frau wie Dedra heuer mühsam gewesen, dieser Arbeit nachzugehen. Ob Hexe oder nicht.

Sie erklomm die schmale Treppe zur Veranda mit kurzen, leisen Stoßseufzern, die sie im Takt ihrer Schritte ausstieß. Jede der drei Stufen war wie ein Messer in den Kniegelenken. Erleichtert schnaufend erreichte sie schließlich den verblassten Holzboden. Sie ließ den Korb mit den gesammelten Kräutern, den sie an einer Lederschlaufe über der Schulter getragen hatte, auf ein Tischchen aus grob gezimmertem Holz gleiten. Dann machte sie zwei weitere Schritte und plumpste mehr in ihren alten Schaukelstuhl, als sie sich hineinsetzte. Dedra war eine kleine Frau, knochig gebaut und vom Alter ausgemergelt. In jungen Jahren hatte sie durch ihre geringe Körpergröße und den grobschlächtigen Körperbau korpulent gewirkt, ohne es zu sein. Jetzt schien es, als zöge sich nur noch lederartige, faltige Haut über ihre Knochen und die meist geschwollenen Gelenke. Sie war spindeldürr, krumm wie ein alter Dornenbusch und runzlig wie eine blasse Rosine.

Den knorrigen Stock in der Linken, die von der Arthritis gekrümmte Rechte auf der Stuhllehne, saß sie da und wartete darauf, dass sie wieder zu Atem kam. Sie war tiefer in den Wald hineingegangen, als sie es vorgehabt hatte. Weiter durch die nasskalte Luft, als sie es vor einigen Jahrzehnten für die spärliche Kräuterausbeute hätte tun müssen, die nun in dem Korb neben ihr lag. Das Leben wurde stetig härter und sie wurde immer älter und schwächer. Sie saß mit rasselndem Atem leise keuchend da und versuchte so viel der schweren, feuchten Waldluft in die Lunge zu ziehen, wie sie konnte. Die krampfartigen Schmerzen in jedem Gelenk und Muskel unterhalb der Körpermitte ließen langsam etwas nach. Sie rieb sich vor und nach ihren Ausflügen den Körper mit einer dicken Salbe ein, was zumindest ein wenig Abhilfe schaffte. Dass die Wirkung gleichermaßen immer länger auf sich warten ließ, wie sie kürzer anhielt, war eine andere Geschichte. Mit jedem mühsamen Atemzug entspannten sich ihre verdorrten Muskeln ein wenig mehr. Die Bronchen fühlten sich freilich nach wie vor so an, als wollten sie ausgekotzt werden. Aber das taten sie inzwischen jeden Morgen, obwohl Dedra seit Jahren fast völlig auf die Kräuterpfeife verzichtete, die sie so liebgewonnen hatte.

Ihre alten, zu einer verwaschenen Farblosigkeit verblassten Augen streiften über den Wald, der einige Schritte vor der Veranda begann. Dieser Wald, die Hütte und das kleine Stück Land, auf dem sie stand, waren der einzige Ort, an dem sie sich je zu Hause gefühlt hatte.

Obgleich sie auch im letzten Lebensabschnitt nicht zur Rührseligkeit neigte, schlich sich eine schmerzhafte Traurigkeit in ihr altes Herz, wenn sie daran dachte, dass sie ihr bescheidenes Glück bald verlieren würde. Denn das war das Leben hier gewesen, eine Zeit der Zufriedenheit, ihrem Verständnis von Glück so nahe, wie sie es sich vorzustellen vermochte.

Sie lebte einfach und einsam, aber sie lebte gern. Das hatte sie schon immer getan, ganz gleich wie widrig ihre Lebensumstände gewesen waren. Sie hatte sich daran gewöhnt, für ihre Dörfler zu sorgen und wenn sie auch im Grunde wertlos waren, genoss Dedra doch den Respekt, den sie ihr entgegenbrachten. Sie mochte ihr einfaches Essen, das in den letzten Jahren zumeist aus Suppen bestand. Gemüse, teils wild gewachsen, teils von den Dörflern angebaut, selbst gesammelte Kräuter und Pilze und das eine oder andere Eichhörnchen oder Stück Fleisch aus dem Dorf. Schlicht und doch reichhaltig genug für eine alte Frau. Die nachmittäglichen und abendlichen Kräutertees, die immer öfter auch dazu dienten, die Schmerzen zu dämpfen und ihren Geist ein wenig zu entspannen. Und natürlich ihre Katze, ihren kleinen, pelzigen Schatz.

Besagtes Tier kam, nachdem Dedra leise seinen Namen gerufen hatte, aus einer nur ihm zugänglichen Ecke der Veranda geschlichen. Eigentlich mehr gehumpelt, wenn sie ehrlich war. Die Katze schnurrte laut und strich für einen Moment um ihre krummen alten Beine. Schließlich sprang sie mit einem leisen Miauen, das dem Keuchen seiner Besitzerin beim Erklimmen der Verandastufen nicht unähnlich war, auf Dedras Schoß. »Ach Grumpel, mein zerlumpter kleiner Liebling«, seufzte sie mit einer Stimme, so brüchig wie altes Laub, und begann den mageren Körper des Tieres behutsam zu streicheln. Das Fell war einmal pechschwarz und von seidigem Glanz gewesen. Aber Grumpel war für eine Katze so alt, wie es ihre Herrin für einen Menschen war und nun war ihr Pelz von einem verwaschenen, schmutzig wirkenden Eisgrau. Schuppig und mit der einen oder anderen kahlen Stelle verunziert war es ebenfalls. Grumpel war Dedra als junges, wildes Kätzchen zugelaufen, halb verhungert, zerkratzt und zerschunden. Keine zwei Monate war sie damals alt gewesen. Das war nur kurze Zeit nach dem Bau der Hütte, erinnerte sich die alte Frau. Wie schnell ein halbes Jahrhundert dahinflog.

Sie hörte auf das Tier zu streicheln, als es sich schnurrend in ihrem Schoß zusammenrollte und mit einem Schnaufen die Augen schloss. Ja, Grumpel und sie hatten beide lange über ihre Zeit gelebt, und sie würde bald nichts mehr für die Katze tun können.

Als Hexe hatte man Möglichkeiten, aber die Zeit war gnadenlos und unerbittlich. Sie war ein geduldiges, gemeines altes Miststück. Möglichkeiten und greise Frauen waren ihr ebenso gleichgültig wie Katzen, Hexen und alles andere. Irgendwann kam sie einen holen, und dann brachte sie einen zu ihrem alten Liebhaber, dem Gevatter Tod. Das war so unabwendbar, wie die Nacht dem Tag folgte.

Ihr Atem hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Der saure, beißend riechende Schweiß klebte an ihrer pergamentartigen Haut und trocknete langsam. Grumpel schien bereits eingeschlafen zu sein, und sie fühlte die Wärme des Tieres im Schoß und die nasse Kälte am Rücken. Ihr Blick wanderte von dem dunklen, unwirtlichen Wald zu dem Inhalt des alten Weidenkorbes. Sie beugte sich zu dem Tischchen, auf dem er stand, und untersuchte die Ausbeute. Ein wenig Malorikraut gegen Sodbrennen und diverse andere Magenbeschwerden. Ein kleines Bund Bleichminze und wilder, immer seltener werdender Knoblauch. Er half gegen Fieber und Entzündungen, vor allem aber schmeckte er ganz vorzüglich und wärmte von innen. Daneben etwas Heckenwurz für die Behandlung mannigfaltiger Frauenleiden. Das Zeug verlor mit jeder Saison mehr von seiner Wirkung.

Sie hielt bei der Handvoll Eisschlehen inne, die fast am Boden des Korbes lagen. Die Pflanze wuchs erst seit wenigen Jahren in diesen Wäldern. Eigentlich gehörte sie in nördlichere Gefilde. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Veränderungen durch das kältere Klima auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Grau noch nicht beendet waren. Wie es wohl heutzutage dort sein mochte, wo das Wetter früher bereits kalt und lebensfeindlich war, fragte sie sich beiläufig. Aber es waren inzwischen nicht mehr nur die Pflanzen, die ihre Aufmerksamkeit erregten.

Sie sah in letzter Zeit Tiere, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Einige Nagetiere waren so selten, dass manche Arten völlig verschwunden zu sein schienen. Seit dem Herbst vorletzten Jahres hatte sie mehr Eichhörnchenkadaver gefunden als in den zehn Jahren davor zusammen. Besonders aber das Aussehen der Tiere beunruhigte sie zunehmend. Eichhörnchen waren eine feine Fleischbeigabe für ihre Suppen, außerdem liebte Grumpel sie. Daher genossen diese kleinen Tiere seit jeher ihre Aufmerksamkeit. Grumpel und sie hatten beide eine Vorliebe für einfaches Essen und waren nicht wählerisch. Wobei das heutzutage kaum noch jemand war, dafür hatte das Grau gesorgt. Nun war es aber eine Sache, ein schon etwas mürbes Eichhörnchen zu verspeisen. Wenn die vermeintliche Nahrungsergänzung Ohren und Finger hatte, die deutlich zu lang für seine Art waren und die Augen wirkten, als wären sie seitlich am Kopf nach unten gerutscht, sah das völlig anders aus. Sie wusste nicht, ob diese Missbildungen mit den vielen Kadavern zusammenhingen, die sie fand. Die meisten von ihnen schienen von anderen kleinen Tieren totgebissen worden zu sein. Aber natürlich konnte man eine Krankheit nie ausschließen. Seit einigen Monaten gab es jedenfalls nur noch sehr selten Eichhörnchen bei Dedra und Grumpel, und sie bevorzugte die mageren jungen Hühner aus dem Dorf.

Die Beeren der Eisschlehe hingegen stellten eine der erfreulichen Veränderungen dar. Leicht bitter und nussig im Geschmack, konnten sie im getrockneten Zustand rasch zu einem feinen Pulver gemahlen werden. Roh oder frisch zubereitet waren sie in einer Speise schmackhaft. Als dünner Tee aufgebrüht wirkten sie beruhigend auf die Nerven. Getrocknet und in Pulverform verstärkte sich diese Wirkung um ein Hundertfaches. Das führte dazu, dass aus einer Medizin ein tödliches Gift wurde. Wie so oft machte nur die Dosis den Unterschied aus. In einem Getränk oder einer Speise war das Pulver nahezu geschmacklos und hervorragend geeignet, Mensch oder Tier binnen weniger Minuten zu töten. Sekunden nach der Einnahme setzte eine tiefe Müdigkeit ein, der die Bewusstlosigkeit folgte. Kurz darauf erstarb die gelähmte Atmung und alles war vorbei.

Dedra seufze erneut und schaute auf das gleichmäßig atmende, zottige Bündel Fell in ihrem Schoß hinunter. Es war ein bitterer Gedanke, unter Umständen einen solchen Trunk für das Tier oder sich selbst bereiten zu müssen. Die Katze war ebenso ein alter Sack voll Knochen, wie sie einer war. Der Pelz eine stumpfe, struppige Entsprechung ihres eigenen eisgrauen, spinnwebenfeinen Haares. Vielleicht blieben ihnen ja noch der eine oder andere Sommer, dachte sie wehmütig. Zunächst einmal stand der Winter bevor.

Wenn sich auch Vieles geändert hatte, seit das Grau über die Welt gekommen war, der Winter machte seinem Namen nach wie vor alle Ehre. Er kam jetzt statt im frühen Dezember bereits im späten Oktober und blieb für gewöhnlich bis Mitte oder Ende April. Außerdem war er, wie jede andere Jahreszeit, ungleich kühler als zuvor. Aus dem Frühling war der Herbst geworden, aus dem Sommer der Frühling und aus dem Herbst der Winter. Der Winter selbst hatte sich in etwas Dunkleres und Kälteres verwandelt, als man bis dahin gekannt hatte.

Dedra schauderte, wenn sie an die Beschwerlichkeit des Weges von ihrer Hütte bis zum Dorf dachte, die ihr in den kommenden Monaten bevorstand. Ihre Knochen fühlten sich langsam aber sicher so alt und spröde an, wie sie waren. Die Schmerzen in den Morgenstunden und nach ihren Ausflügen wurden immer hartnäckiger und unerträglicher. Über das Blut, das sie inzwischen ständig im Abort fand, dachte sie nicht weiter nach. So etwas musste man verdrängen, oder man wurde verrückt. Ab und an überlegt sie, eine Hütte im Dorf zu beziehen. Willkommen war sie dort, das wusste sie wohl, aber stets verwarf sie den Gedanken wieder. Die Dorfbewohner waren nicht ihresgleichen. Die Bequemlichkeit und vermeintliche Sicherheit der Nähe zu den Menschen barg mehr Gefahren, als sie wert war. Außerdem konnte sie nach über einem halben Jahrhundert der Einsiedelei eine Gesellschaft, die nicht aus Grumpel bestand, kaum ertragen.

Es war besser hier zu bleiben, und das Beste aus der verbleibenden Zeit zu machen. Wenn es denn nicht mehr ging, wenn alles zu unerträglich wurde, hatte sie Möglichkeiten. Die hatte jede Kräuterkundige. Und erst recht jede Hexe. Sie schloss die Augen, sog den Waldgeruch tief in ihre alten Lungen, und lies eine klauenartige Hand sanft auf dem dürren aber warmen Körper von Grumpel ruhen.

Die Rückkehr des Wanderers

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