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Kapitel 4

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Dedra

»Das sieht genauso aus wie der Baumstumpf, an dem wir schon vorhin vorbeigekommen sind. Ich will endlich nach Hause.«

Die Stimme war leise und schien aus einiger Entfernung zu kommen. Sie war jedoch deutlich genug zu hören, dass sie den zugleich quengeligen und besorgten Unterton darin erkennen konnte.

Dedra, die sich soeben langsam und ächzend aufgerichtet hatte, stützte sich mit der Linken an einen Baum und drehte den Kopf. Ihr alter Körper ließ sie heute wieder für jedes Stück Kraut und jeden Pilz, den sie vom Waldboden klaubte, teuer bezahlen. Sie streckte vorsichtig den leise knackenden Rücken und lauschte dabei in den Wald hinein, der sie zu allen Seiten hin umgab. Ihre Kniegelenke und Hüften fühlten sich nach einigen Stunden der Kräutersuche an, als hätte jemand Nägel hineingeschlagen. Sorgfältig zog sie den Riemen der Kräutertasche fester um die Schulter. Es war bereits Nachmittag und sie war schon seit einer Weile wieder auf dem Heimweg zu ihrer Hütte. Noch aber befand sie sich in einem dichtbewachsenen Teil des Waldes, in dem sie seit Jahrzehnten keine Fremden mehr getroffen hatte.

Hier gab es nichts, das irgendjemanden interessieren mochte und es war leicht, sich zwischen den alten Bäumen zu verirren. Sie vermutete, dass der oder die Besitzer der Stimmen, die nun leise an ihre Ohren drangen, genau das getan hatten. Sie ging behutsam in die Richtung, in der sie die ungebetenen Gäste zur hören glaubte. Hohe, verwitterte Birken zogen sich hier in einem etwa hundert Metern breiten Streifen auf fast zwei Landmeilen entlang. Ansonsten bestand dieser Teil des Waldes aus Pinien, Buchen und einigen Ahornbäumen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Stimmen erneut hörte. Diesmal etwas lauter und eindeutig die von Kindern.

»Ich weiß genau, dass wir da schon waren, der Baumstumpf hatte zwei Äste«, beharrte Clara quengelnd. Ihr Bruder merkte, dass sie schon wieder den Tränen nahe war. Thomas hatte selbst Angst, große Angst sogar, vor allem seit er die verendeten Tiere gesehen hatte. Es gab viel zu viele tote Eichhörnchen in diesem Wald. Am meisten aber hatten ihn die beiden Rehe beunruhigt, an denen sie vor einiger Zeit vorbeigekommen waren. Er wusste, wie das in der Natur war, dass manche Tiere andere töteten, um zu essen. Aber die aßen dann eben auch. Dass die Tiere totgebissen herumlagen und verwesten, weil sie niemand fressen wollte, war ganz sicher nicht in Ordnung. Thomas war aber auch zwei älter als die kleine Schwester und damit fast erwachsen. Das hieß, dass er auf sie aufpassen musste. Schließlich war sie gerade erst sechs Jahre alt geworden.

»Ich glaube dir ja«, erwiderte er und versuchte seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Wir gehen jetzt weiter in diese Richtung, bis die Birken aufhören. Dann bleiben wir am Rand, bevor der Wald wieder dichter wird. Das hätten wir von Anfang an machen sollen, aber ich wusste doch auch nicht mehr, wo wir waren.«

»Du hast schon zweimal gesagt, dass wir bald wieder nach Hause finden. Ich habe Hunger und bin müde.«

»Ich habe auch Hunger, Clara, und ich möchte auch nach Hause. Komm jetzt, wenn wir uns streiten, machen wir alles nur noch schlimmer.«

Der Junge nahm die Hand seiner Schwester und nach einem kurzen Zögern folgte sie ihm und drückte seine Hand ganz fest.

»Das ist alles nur die Schuld vom dummen Boschi. Ich spiele nie wieder mit Boschi«, erklärte sie mit der inbrünstigen Entrüstung, zu der nur Kinder und religiöse Narren fähig waren.

Boschi war die Katze eines Nachbarn, die sie heute Morgen getroffen hatten. Nach dem Frühstück waren sie hinter dem am Rand des Dorfes stehenden Haus ihrer Familie zum Spielen gegangen. Ganz so, wie sie es an fast jedem Tag taten. Boschi war nicht jeden Tag da, sie war eine kleine Streunerseele, die dort herumlief, wo es ihr gefiel. Manchmal gefiel es ihr auch, wenn die Kinder mit ihr spielten. Wenn Käsestücke im Spiel waren, so wie heute Morgen, tat es das fast immer.

Thomas und Clara hatten mit Bändern und dem Käse, den der Junge beim Frühstück in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, mit dem Tier herumgetollt. Dabei waren sie immer weiter vom Haus weggelaufen. Sie spielten öfter am Waldrand, meist mit den anderen Kindern des Dorfes. In der Gegend um Flusswalde herum hatte man schon seit Jahrzehnten weder Wildschweine noch andere gefährliche Tiere gesehen. Der Wald galt weiter draußen als tückisch, war in Dorfnähe aber licht und harmlos.

Die Kinder bekamen eingeschärft, nie weiter wegzulaufen als bis dorthin, wo sie die letzten Häuser noch sehen konnten. Viele von ihnen hielten sich sogar meistens daran. Dieses Mal reichte das nicht.

Boschi hatte ziemlich genau zu der Zeit, als die letzten Käsekrumen gefressen waren, plötzlich keine Lust mehr zum Spielen gehabt. Da hatten die Kinder sich bereits zwischen den ersten Bäumen des Waldrandes am südlichen Ende von Flusswalde befunden. Die Katze, die sich selbstverständlich überall auskannte, war fortgesprungen und tiefer in den Wald gerannt. Beide waren ihr nachgelaufen, bis Thomas schließlich irgendwann stehengeblieben war und nach seiner Schwester gerufen hatte. Sie hatten eine Weile verschnauft, Boschi war natürlich längst weg gewesen, und sich dann auf den Heimweg gemacht. Zumindest hatten sie das versucht. Und sich wenig später verirrt.

Thomas hatte sein bestes getan, wieder aus dem immer dichter werdenden Wald herauszufinden. Aber auch wenn er ein aufgeweckter Junge war, blieb er nur ein Achtjähriger, der noch nie so weit von zu Hause entfernt gewesen war. Jedenfalls nicht ohne Begleitung und abseits der Straßen und Wege. In den Tagen des Grau konnte man sich nie sicher sein, wo genau sich die Sonne gerade befand. Das Tageslicht war eine tückische Angelegenheit geworden. Es war bei dem schummrigen Licht schon für Erwachsene schwer genug, sich in der Wildnis zu orientieren.

Die beiden Kinder waren Stunde und Stunde herumgeirrt und hatten sich dabei immer tiefer in den Wald hineinbewegt. Ohne es zu bemerkten, waren sie dabei weit nach Süden abgekommen. Das war einerseits schlecht gewesen, weil sich ihr Dorf im Norden befunden hatte. Es war aber auch ihr Glück gewesen, weil sie ebenso gut nach Westen oder Osten hätten laufen können. Und in diesen Himmelsrichtungen gab es auf Tage hin nur dichten und dunklen Wald.

Thomas warf seiner Schwester beim Gehen einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte etwas Rotze unter der Nase, aber das sagte er ihr nicht. Wenn man seiner kleinen Schwester sagte, dass sie Rotze im Gesicht hatte, schämte sie sich oder wurde wütend. Oder beides. Dann würde sie wieder anfangen zu weinen, und das konnte er absolut nicht gebrauchen. Am liebsten hätte er sich selbst unter einen Baum gesetzt und geweint.

Es war kalt, ihre Stoffkleider waren inzwischen klamm und klebten an ihren Körpern. Er hatte schrecklichen Hunger und seine Beine schmerzten. Sie hatten aus ein paar Pfützen im Wald getrunken, aber irgendwelche Wurzeln, Beeren oder Blätter zu essen, hatte er sich nicht getraut. Er hatte auch darauf geachtet, dass Clara es nicht tat. Er war ein Kind, aber weder er noch seine Eltern waren dumm. So wusste er, dass man heutzutage nicht mehr sicher sein konnte, was man aus dem Wald essen konnte und was giftig war. Seine Eltern erklärten solche Sachen beiden Kindern, aber Thomas immer einmal mehr als seiner Schwester. Er war schließlich der Ältere. Sie wussten, dass er auf seine Schwester aufpasste. Sie wussten aber auch nur zu gut, was passierte, wenn man nachlässig wurde. Sie hatten es auf bittere Art und Weise lernen müssen.

Thomas und Clara stritten sich nicht oft für Kinder ihres Alters. Clara hörte öfter und besser auf ihren Bruder, als es kleine Mädchen für gewöhnlich taten. Das war ebenso ungewöhnlich wie die Sorgfalt des Jungen, mit der er auf die Kleine achtgab. Vor knapp zwei Jahren hatten sie noch eine Schwester gehabt. Sie hatte allein gespielt, hatte versucht auf einen Baum zu klettern und war gestürzt. Das passierte natürlich immer mal wieder und meist ging es glimpflich aus. Mit einem verstauchten Knöchel oder einem aufgeschürften Knie. An jenem vergangenen Tage hatte es das nicht getan.

Die Dörfler wurden von den gellenden Schreien des Mädchens alarmiert und erreichten sie kurze Zeit später. Sie hatte es im Fallen geschafft sich so zu drehen, dass sie auf den Füßen aufgekommen war. Aber sie war schon viel zu hoch in den Ästen gewesen, um sich dadurch retten zu können. Sie hatte vor dem Baum gelegen und geschrien wie eine Banshee, als die ersten Dorfbewohner sie fanden. Ihre Beinchen waren an den Knien abgeknickt und die Unterschenkel zertrümmert, Knochen staken aus blutigen Wunden. Als sie das Mädchen bewegten, war es zu Erleichterung aller bewusstlos geworden. Es ging danach sehr schnell. Als die alte Dedra einige Stunden später im Dorf eintraf, war die kleine bereits tot.

Von diesem schrecklichen Tag an ging man in der Familie sehr sorgsam miteinander um. Deswegen kämpfte Thomas seine eigene Angst nieder, so gut er konnte. Die Erwachsenen würden sicher versuchen sie zu finden, aber der Wald war groß und umgab das Dorf in drei Himmelsrichtungen.

»Na na, wohin seid ihr denn unterwegs«, ertönte plötzlich eine krächzende Stimme, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Clara und Thomas schrien vor Schreck zugleich auf und das kleine Mädchen umklammerte krampfhaft die Hüften ihres Bruders. Thomas sah die Greisin als Erster und ein Zittern lief durch seinen kleinen, erschöpften Körper.

»Dedra«, sagte er leise, »sie ist es wirklich. Alles ist gut, Clara, wir sind in Sicherheit, es ist die alte Dedra.«

Beide Kinder weinten jetzt ein bisschen. Thomas lautlos und Clara leise schluchzend, während die alte Frau auf sie zugehumpelt kam. Die krummgewachsene, magere Gestalt war an sich kein sonderlich vertrauenerweckender Anblick. Mit den graubraunen, geflickten Kleidern und dem zottigen eisgrauen Haar hätte sie ebenso gut eine Landstreicherin sein können. Aber wie alle Kinder im Dorf kannten die Geschwister sie natürlich von ihren zahllosen Besuchen. »Nun beruhigt euch erst einmal, ihr Lausekinder. Was macht ihr denn im Wald der alten Dedra? Seid beim Spielen zu weit rausgelaufen und habt euch verirrt, was?«

»Boschi war schuld«, rief das kleine Mädchen spontan und wieder klang dabei ihre Empörung ob der Gemeinheit des Tieres heraus.

»Ah, die Katze vom alten Cushing hat euch also in den Wald gelockt, ich verstehe«, meinte Dedra amüsiert und sah dem Jungen in die Augen.

»Ihr seid hier zu weit draußen, um es vor Einbruch der Nacht nach Hause zu schaffen. Das heißt, ihr würdet es schaffen, aber ich bin zu langsam und allein findet ihr den Weg nicht. Ihr werdet mit mir kommen und diese Nacht bei mir schlafen müssen. Morgen könnt ihr dann auf der Straße zurück ins Dorf gehen.«

Sie legte den Kopf schief, als sie die Reaktion in den Gesichtern der Kinder sah. »Schaut mich nicht so an, ich habe genauso wenig Lust auf die Gesellschaft von zwei kleinen Blagen, wie ihr darauf habt, bei einer verschrumpelten alten Frau zu übernachten. Aber ich schaffe den Weg zum Dorf im Dunkel nicht mehr. Außerdem bin ich müde und erschöpft, wenn ich den ganzen Tag im Wald war. Ich bin alt, falls es euch entgangen sein sollte. Also, was sagt ihr? Eine Nacht in der Hütte der alten Dedra, mit einem Teller Wurzelsuppe und einem warmen Feuer zum Schlafen oder im Wald verhungern. Ich bin nicht eure Eltern und hab euch nichts zu sagen, ist eure Entscheidung«, meinte sie lächelnd.

Clara nahm wieder die Hand ihres Bruders. Der Mund der Alten sah von so weit unten schrecklich aus, ein schiefes, dunkles Loch mit einigen wenigen Ruinen von Zähnen darin. Aber jedes Kind kannte die alte Dedra und wusste, dass sie den Leuten half. Andererseits war es eine Sache, sie zu Hause im Dorf zu sehen und eine ganz andere, stundenlang mir ihr durch den dunklen Wald zu laufen. Davon, in ihrer alten, unheimlichen Hütte zu schlafen ganz zu schweigen. Sie hatten noch nie wo anders geschlafen als bei ihren Eltern oder dem einen oder anderen Nachbarskind im Dorf. Im Wald zu bleiben und zu verhungern oder gefressen zu werden war allerdings eine noch schlimmere Vorstellung. »In Ordnung, wenn es nicht anders geht. Danke, dass du uns hilfst, Mama und Papa werden sie Suppe auch bestimmt bezahlen«, sagte das kleine Mädchen schließlich und machte einen Schritt auf die alte Frau zu. Die Greisin lachte, ein Geräusch, als zerfalle altes Laub.

»Mach dir darüber keine Gedanken, Clara. Und dein Bruder ist Tom? Thomas, ah ich erinnere mich. Die Kinder von Bertha und Greg seid ihr beiden. Na los schon, lasst uns gehen, ich werde zu langsam für euch sein, aber reißt euch zusammen und bleibt hinter mir. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn mir jemand vor den Füßen herumläuft.«

Thomas folgte der alten Frau, die sich humpelnd in Bewegung setzte, Claras Hand fest in der seinen. Er hoffte inständig, dass er nach dieser Sache nie wieder im Wald herumlaufen musste. Jetzt stand ihnen ein langer und trostloser Weg bevor. Aber alles war besser als die nagende, ständig wachsende Angst der letzten Stunden. Es wurde zunehmend dunkler, während sie hinter der alten Frau hergingen. Sie kam wirklich nur sehr langsam voran, viel langsamer, als die Kinder hätten laufen können. Angst und Erschöpfung nach einem ganzen Tag im Wald hielten die beiden jedoch im Zaum und sie überholten sie nie.

In der langen Abenddämmerung wurden die Schatten des Waldes allmählich lebendig, nicht nur für Kinderaugen. Die beiden konnten kaum noch etwas sehen, als sie die Hütte erreichten. Es war ein klobiger, verwinkelter Holzbau, im Laufe der Jahre verwittert und immer wieder geflickt und übergestrichen. Im düsteren Licht des sterbenden Tages schien das Holz durch die vielen Schichten Teerfarbe völlig schwarz zu sein.

»Ah«, seufzte Dedra auf, »endlich zu Hause. Ich muss besser aufpassen mit meinen Ausflügen, sonst schaffe ich es irgendwann nicht mehr, vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukommen. Kommt Kinder, und erschreckt meine Grumpel nicht, falls sie euch über den Weg läuft. Sie hat nichts gegen Leute, aber sie ist hier in ihrem Zuhause nicht an Fremde gewöhnt. Wenn sie kommt, macht keinen Krach, sie will nur ihre Ruhe. Sie ist alt und verbraucht, genau wie ich.«

Die Katze blieb tatsächlich verschwunden, was den Kindern nur recht war. Sie hatten das Tier nie gesehen, aber im Dorf erzählte man sich unter den Kindern, dass eine uralte Gespensterkatze bei der Kräuterfrau im Wald hauste. Angeblich war das Tier vor über fünfzig Jahren schon mit ihr hierhergekommen. Als sie die Hütte betreten hatten, standen sie in einem schmalen Gang, der das Gebäude in voller Länge teilte. An beiden Enden befanden sich Türen, ebenso wie in der Mitte des Ganges. Auf eine dieser beiden gegenüberliegenden Türen, dünnen Dingern aus dunkel getränktem Pinienholz, ging Dedra nun zu. Es schien so, als könne sie sich kaum noch auf den Beinen halten und ihr Stock schlug schwer auf den alten Holzboden, während sie vorwärtshumpelte.

»Kommt schon«, murrte sie, »das Feuer sollte zumindest noch Glut haben und die Suppe warm sein. Ich lasse immer irgendwas im Kessel köcheln, wenn ich mich morgens auf den Weg mache.«

Die Kinder folgten ihr in einen Raum, der so groß war wie das Schlafzimmer und die Wohnstube des kleinen Hauses ihrer Eltern zusammen. Die Zimmer dort waren allerdings nur spärlich möbliert, wovon hier keine Rede sein konnte. Die Wände wurden bis zur Decke hinauf mit völlig überladenen Regalen bedeckt. Bücher, Töpfe, Bündel, Stofflappen, Krüge und Kleidungsstücke. Eimer und Taschen, Figuren, Kästchen und Kisten stapelten sich auf durchhängenden Böden. Aller mögliche und unmögliche Krimskrams, hundert Dinge mit einem Dutzend oder gar keiner Funktion. Einige kleine Schätze und ungezählter Plunder, zusammengetragen in vielen Jahrzehnten, um dann größtenteils in Vergessenheit zu geraten.

An der von der Tür aus rechten Wand befand sich ein freistehender, in den Raum hineingemauerter Kamin. Er war fast groß genug, dass sich die alte Frau hätte hineinstellen können. Über der Feuerstelle in diesem Ungetüm aus dunklem Stein hing ein kleiner Kessel, in dem eine dunkle Flüssigkeit brodelte.

Die Alte nahm ein Holzscheit von dem Stapel, der lose neben dem Kamin lag, und legte ihn auf die dunkelrote Glut. Dann richtete sie sich schnaufend auf und deutete auf einen kleinen Tisch, an dem zwei Hocker standen.

»Setzt euch, setzt euch. Fasst nichts an und macht keine Dummheiten. Ich hoffe doch, ihr seid Müde genug, um nach dem Essen zu schlafen. Morgen früh werden wir, sobald es hell genug ist, zum Dorf aufbrechen. Eure Eltern werden ja schon außer sich sein vor Sorge.«

Bei der Erwähnung ihrer Eltern zuckten die Kinder zusammen, senkten die Köpfe und setzten sich wortlos an den Tisch. Es dauerte eine Weile, bis Dedra zwei hölzerne Schalen mit Suppe gefüllt und den Kindern hingestellt hatte.

»So«, seufzte sie, als sie neben jede Schale einen Holzlöffel gelegt hatte, »nun esst, ihr müsst hungrig sein. Und schaut es nicht so misstrauisch an, es ist einfach nur Wurzelsuppe. Ein paar Zwiebeln sind drin und ein halbes Huhn aus den Ställen eures Dorfes, keine unheimlichen Dinge aus dem Wald.«

Die Kinder probierten vorsichtig, aßen dann aber mit Heißhunger. Die Suppe war etwas dünn und mit Kräutern gewürzt, die sie nie zuvor gegessen hatten. Nach einem ganzen Tag ohne Essen waren sie jedoch hungrig genug, um jeder noch eine zweite Schale zu leeren.

»Im Gang liegen ein paar Decken, nehmt euch jeder eine und legt euch hier vors Feuer. Ich werde nebenan in dem anderen Raum schlafen und rate euch, mich bis morgen früh in Ruhe zu lassen. Wenn ihr irgendwas müsst, geht durch die hintere Tür. Ein paar Meter vom Haus weg ist ein Donnerbalken, einfach immer dem Geruch nach gehen. Das Häuschen drumrum ist schon lange auseinandergefallen, aber außer den Eichhörnchen guckt euch hier draußen keiner zu, also keine falsche Scheu.«

Als sich die Kinder wenig später vor dem Feuer in die alten, stinkenden Decken gewickelt hatten, glaube keines von ihnen hier schlafen zu können. Wenige Augenblicke später taten sie es, tief und traumlos. Im Gegensatz zu den beiden streifte Dedra noch lange um die Hütte herum. Sie fand keinen Schlaf, weil sie Grumpel nicht finden konnte. Die Katze kam spätestens zur Nacht immer nach Hause, das hatte sie selbst dann getan, als sie noch jung gewesen war. Sie schlief seit ihren frühen Tagen als Kätzchen bei ihr im Bett und nirgendwo sonst.

Dedra sank schließlich für wenige, unruhige Stunden in einen Dämmerzustand, der nur wenig mit dem erholsamen Kinderschlaf ihrer Gäste gemeinsam hatte.

Als Clara und Thomas erwachten, war der graue, kühle Tag bereits angebrochen. Die beiden waren gleichzeitig wach geworden, wussten aber im ersten Moment nicht genau wovon. Dann drang die Stimme wieder an ihre Ohren. Es war die alte Frau, ohne Zweifel, aber etwas am Klang ihrer Stimme ließ die Kinder erschaudern.

»Oh meine liebe, meine arme Kleine.«

Eine einzelne Träne rann wie eine dunkle Perle über Dedras weiße, zerfurchte Wange. Grumpel lag vor ihr in einer Ecke der Veranda. Sie lag ausgestreckt auf dem Boden, wimmerte leise und atmete in flachen, schnellen Stößen. Die Katze sah aus wie ein Kadaver, klapperdürr, mit tief eingefallenen Flanken und einem Fell, das wie von Motten zerfressen wirkte. Außerdem war das Eisgrau verdreckt und mit Blut verschmiert. Das Tier bewegte sich kaum, nur seine Augen waren lebendig. Sie sahen direkt in die von Dedra und die Greisin sah den Schmerz und das Entsetzen in dem Blick der uralten Katze.

»Was ist bloß mit dir passiert, mein kleiner Schatz? Was haben sie nur mit dir gemacht?«

Dedra hatte sich unruhig hin und her gewälzt und schließlich in ihrem Schaukelstuhl auf den Morgen gewartet. Als sie, mit unsicheren Schritten und tauben Beinen vom Abort gekommen war, wieder einmal Blut, vielen Dank auch, hatte sie Grumpel gesehen. Die Katze hatte sich mit den Vorderpfoten die letzte Stufe zur Veranda hochgezogen. Dann hatte das Tier seine Herrin bemerkt und war mit einem kläglichen Miauen liegengeblieben.

Dedra ignorierte den Schmerz, der wie ein Blitzschlag in ihren Knien aufloderte, und kniete sich neben Grumpel. Die Katze war mehr als nur alt und Dedra hatte gewusst, dass das Ende nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber in den letzten Tagen war es ihr besser gegangen. Sie war sogar wieder ein wenig in der Gegend um die Hütte herumgestreift. Nun schaute Dedra in die blassgoldenen, vom Alter verwaschenen Augen des Tieres, dass über die Jahre ihr Freund und Familiar geworden war. Sie versenkte sich in den Geist des Geschöpfes und kommunizierte mit ihm auf eine Art und Weise, die normalen Menschen abging. Dabei ließ sie Liebe und Ruhe in das Tier strömen und linderte dessen Schmerz und Angst, so gut sie konnte.

»Es ist gut, meine Kleine«, sagte die alte Frau mit einer Stimme, die jetzt dunkel und ruhig war, frei von Schluchzen und Zittern. Nichts an dieser Stimme erinnerte mehr an die brüchige Altweiberstimme. Dedra konnte sich nicht mehr daran erinnern jung gewesen zu sein, aber diese Stimme hatte etwas Vitales, fast Sinnliches.

»Alles ist gut, ich werde mich um mein Katzenkind kümmern, wie ich es immer getan habe. Wie wir es füreinander getan haben, als wir es beide noch konnten. Als du noch für mich da sein konntest, mein Schatz.«

Sie legte Grumpel ihre von der Arthritis zur Klaue gekrümmte Rechte auf die bebende Flanke, so sanft sie es vermochte. Das Zittern des Tieres hörte fast augenblicklich auf, der Atem wurde ruhig und gleichmäßig. Die alte Hand strich über das stumpfe, besudelte Fell und die Todesqual floss von dem Tier wie Wasser von einer glatten Oberfläche. Sie ergoss sich in die Haut und das Fleisch der alten Frau, floss in ihr Blut und in ihren Arm.

Der Schmerz war wie flüssiges Feuer und wogte in Wellen durch sie hindurch, aber der Blick des Tieres wurde weich und ruhig. Sie nahm den Kopf der sterbenden alten Katze vorsichtig in die linke Hand und kraulte mit der rechten zärtlich ihr Fell. Ein leises Schnurren erklang und für ein letztes Mal trafen sich die Blicke von Dedra und Grumpel. Dann brach die alte Frau das Genick der Katze mit einer Bewegung, die in Präzision und Schnelligkeit das Alter ihrer Hände und Arme Lügen strafte. Die Pfoten des Tieres zuckten eine Sekunde, dann lag der verhärmte Körper still und friedlich. Als Dedra sich zitternd erhob, rannen Tränen ungehemmt ihre alten, zerfurchten Wangen hinab. Ihr Blick ruhte auf dem nun erkaltenden, zerschundenen Leib ihrer einzigen Gefährtin.

Sie spürte Nässe an ihrer rechten Hand, hob sie an und sah das Blut. Sie nahm die Katze auf die Arme und legte sie auf ihren alten Schaukelstuhl. Vorsichtig und sanft, so als wäre das Tier noch am Leben, untersuchte sie den toten Körper. Noch immer liefen ihr Tränen über das Gesicht, doch sie bemerkte sie nicht, konzentrierte sich ganz auf das, was sie tat. Auf der rechten Seite des mageren, knochigen Körpers war eine kleine aber tiefe Wunde zu sehen. Dedra spreizte sie etwas und sah dann einen kleinen Bolzen. Er war bis tief in die Gedärme des Tieres eingedrungen. Es war der Bolzen einer Handarmbrust. Dedra kannte sich mit Waffen nicht sonderlich gut aus, aber das hier erkannte sie, weil sie diese Bolzen in den letzten Jahren schon einige Male gesehen hatte. Der alte Brent, der in seinen jungen Tagen eine Weile als Söldner durch die südlichen Lande gestreift war, besaß eine solche Waffe. Er ging damit ab und an auf Entenjagd. Außerdem war er ein Dreckstück, im Dorf bekannt für seine Grausamkeit.

Ja, und Grumpel war es in der letzten Zeit besser gegangen, sie war wieder herumgestreunt. Früher hatte Dedra die Katze oft mit ins Dorf genommen. Vielleicht hatte das alte Tier noch einmal dorthin zurückkehren wollen. Vielleicht war es auch nur in der Nähe herumgelaufen. Das der alte Brent Hunde und Katzen hasste, war kein Geheimnis. Erst vorletztes Jahr hatte es Streit gegeben, weil er den kleinen Hund eines Nachbarn getötet hatte. Mit eben jener alten Einhandarmbrust, weil das Tier ihn angeblich angegriffen hatte.

»Was hat denn die alte Katze?«, ertönte von der Tür her eine dünne Stimme.

Dedra drehte langsam den Kopf und sah dem Mädchen direkt in die Augen. Clara stieß einen hohen, dünnen Schrei aus, drehte sich wieder ins Innere des Hauses um und war verschwunden.

Dedras Blick fiel wieder auf ihre tote Freundin. Die alte Katze hatte keine Angst vor Menschen gehabt. Vor allem, weil ihr die Dorfbewohner oft Leckereien zugesteckt hatten. Man war eben nett zu der Katze der alten Kräuterfrau, die allen so bereitwillig und freundlich half. Zutraulich war Grumpel gegenüber den Leuten von Flusswalde geworden.

Wenn Brent sie gerufen hatte, oder gar mit etwas Essbarem gelockt, war sie sicher arglos zu ihm gegangen. Und dann hatte dieses alte Schwein nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr einen Armbrustbolzen in die Seite zu schießen. Danach musste Grumpel sich den ganzen Weg, stundenlang hierher zurückgeschleppt haben. Ein normales Tier wäre unterwegs verreckt, aber Grumpel war eben kein normales Tier gewesen. Dedras Freundin hatte durch ihre Hexenkunst nicht nur dreimal so lange gelebt wie eine normale Katze, sie war auch zäher und kräftiger gewesen. So hatte sie es geschafft, zum Sterben nach Hause zu kommen. Dedra noch ein letztes Mal zu sehen. Und ihr die Identität ihres Mörders mitzuteilen, oh ja.

»Es tut uns leid wegen der Katze. Dürfen wir jetzt bitte nach Hause«, erklang die zaghafte Stimme von Thomas hinter ihrem Rücken.

»Ihr«, fauchte Dedra, indem sie zu ihnen herumfuhr. »Ihr widerlicher, undankbarer Abschaum aus diesem dreckigen, dreimal verfluchten Dorf.«

Die Worte selbst drangen gar nicht zu Thomas durch. Er sah nur das Gesicht der Alten und den Ausdruck in ihren Augen. Der Junge ergriff die Hand seiner Schwester und zog sie hinter sich durch den Mittelgang der Hütte entlang. Sie rannten zur vorderen Tür, er stieß sie auf und wenige Augenblicke später liefen sie den Waldweg entlang. Wie von Dämonen gejagt rannten sie in Richtung der Straße, die zum Dorf führte. Hinter ihnen befand sich freilich nichts als die kühle, feuchte Luft dieses grauen Morgens.

Die alte Frau, die bis zum heutigen Tage über ein halbes Jahrhundert lang die Kräuterfrau von Flusswalde gewesen war, stand nach wie vor auf ihrer Veranda. Die Trauer und das Gefühl kalter Leere in ihrem Inneren verblassten und machten dem Zorn platz. Aber in ihr brodelte mehr als nur die Wut auf einen alten, bösartigen Mann, der ihr das Einzige genommen hatte, das ihr lieb und teuer gewesen war. Ein Teil von ihr wusste sehr gut, dass nicht das ganze Dorf dafür verantwortlich war, was dieser eine Mann getan hatte. Und doch breitete sich der Zorn auf den Ort und jeden seiner Bewohner aus wie ein dunkles Feuer in ihrem Herzen.

Der vernünftige Teil wusste, das Dedra den Menschen hier nicht nur geholfen, sondern auch jeden in Unglück gestürzt hatte, der ihr in die Quere gekommen war. Diese Stimme der Vernunft wusste ebenfalls, wer und was sie war. Aber diese Stimme verstummte nicht einfach nur, sie lag ebenso im Sterben, wie die arme Grumpel es noch vor wenigen Momenten getan hatte.

Ein uralter, schwarzer Hass brach sich aus ihrem tiefsten Inneren Bahn, fraß sich durch ihre Eingeweide und verdrängte alles andere. Die alte Frau gab einen Ton von sich, der dem Fauchen einer großen Katze nicht unähnlich war, und ballte die Hände zu Fäusten. Diese Bewegung hatte sie mit ihren arthritischen Gelenken seit über zwanzig Jahren nicht mehr bewerkstelligen können. Ihre langen, schmutzigen Fingernägel brachen in ihren Fäusten und die schartigen Kanten schnitten ihr in die Handflächen. Dünne Fäden dunklen Blutes rannen aus ihren Fäusten, als sie diese langsam hob. In ihrer Rechten mischte sich ihr Blut mit dem ihrer toten Katze.

Bilder flammten vor ihrem inneren Auge auf und flogen daran vorbei. Wie sie die kleine, zerschundene Katze halbtot im Wald gefunden hatte. Ein zerkratzter, zitternder, winziger Körper. Flauschiges, dunkles Haar und rehbraune Augen, kleine Hände, die nach ihr griffen. Aber mussten es nicht Pfoten sein, statt Hände? Hungrige Schreie nach Futter. Oder nach Milch? Ein Ausdruck tiefster Verwirrung und Erstaunens legte sich auf das Gesicht der alten Frau, der sie für einen Moment wie eine völlig Schwachsinnige aussehen ließ.

Dann brach ein Schrei aus ihrer Kehle, so voll von Verzweiflung, dass er fast ein Schluchzen war. Erinnerungen an schreiende und sterbende kleine Kinder und Katzen verschwammen, als sie kreischend gegen den alten Schaukelstuhl trat. Die tote Grumpel, die noch darauf gelegen hatte, rutschte herunter und blieb auf den kalten Planken der Veranda liegen. Dedra, die ebenso wenig gespürt hatte, wie sich ihr Knöchel bei dem Tritt stauchte, wie sie den brechenden kleinen Zeh bemerkt hatte, schaute auf den Kadaver hinab. Sie packte den Körper mit einer blutenden Hand und warf ihn achtlos durch die offene Tür in die Hütte. »Kein Kind, du bist nicht meines«, fauchte sie leise.

»Nicht mein Kind, du nicht, niemand. Ich bin keine Mutter, ich hatte keine Mutter, nie.« Ihr Gesicht war zu einer Fratze aus urtümlichem Zorn und Hass verzogen, die Augen weit aufgerissen und glasig. Vor ihrem inneren Auge erschienen die Gesichter der Menschen, die sie seit ihrer Ankunft in Flusswalde getroffen hatte. Sie sah Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, ein Kommen und Gehen, ein Geborenwerden und Sterben über fünf Jahrzehnte hinweg. Ein Bilderwirbel in die Vergangenheit vor fünfzig Jahren, dann noch weiter, vor sechzig, siebzig, vor hundert Jahren. Nicht mehr Flusswalde, fernere Orte und andere Menschen, andere Kinder und Mütter. Sie humpelte in ihre Hütte und murmelte leise vor sich hin, mal in dieser Sprache, mal in jener.

Mit fahrigen Händen öffnete sie die Tür, neben der noch die Decken lagen, unter denen die Kinder geschlafen hatten. Ihre zerschundenen, blutenden Hände fanden ohne ihr Zutun die richtigen Tiegel, Gläser und Töpfe in ihrer alten Hexenküche. Diese kleinere Feuerstelle war noch nie dazu benutzt worden, um eine Mahlzeit zuzubereiten. Hier stellte sie nur Tränke und Medizin her.

Sie mischte die Flüssigkeiten mit schlafwandlerischer Sicherheit. Am Ende hatte sie etwas Dünnflüssiges in einem blassblauen, unnatürlichen Farbton. Winzige Teilchen schwammen in der Flüssigkeit, so als hätte jemand Sand hineingestreut. Nur das es keinen Sand gab, der in rötlichem Gelb matt schimmerte.

Sie verstaute ihre Mixtur in einem Flakon und steckte ihn in eine Tasche ihres Gewandes. Dann kippte sie die Regale um, eines nach dem anderen. Bald erfüllte ein beißender, widernatürlicher Geruch die Luft. Regal um Regal fiel, zahllose Flaschen, Tiegel und Töpfe zersprangen am Boden. Nachdem sie damit fertig war, tat sie das Gleiche in dem Raum mit dem großen Kamin. Schließlich übergoss sie alles mit Öl, das sie in einer alten Weinamphore aufbewahrt hatte.

An der Eingangstür warf sie das glühende Holzscheit, das sie mitgenommen hatte. Es landete mit einem dumpfen Laut in dem Chaos, das einmal ihr Zuhause gewesen war.

Sofort schlugen Flammen hoch und sie fühlte, wie ein brennender Schmerz ihre Schulter erfasste. Fluchend warf sie sich hin und wälzte sich am Boden. Sie hatte Glück, dass es nur ein paar Tropfen des Öles gewesen waren, die den Weg auf ihre Schultern und in ihr Haar gefunden hatten.

Mühsam erhob sich die Greisin und schüttelte sich verkohlte Haarreste aus dem Gesicht. Sie blieb einen Moment stehen und schaute stumm in die Flammen. Vor ihr verbrannte der Ort, an dem sie das letzte halbe Jahrhundert in Zufriedenheit und so etwas wie stillem Glück verbracht hatte. In ihrem einzigen echten Zuhause, an das sie sich erinnern konnte, brannte auch die alte Katze. Das Einzige, was sie in diesen Jahren liebgewonnen hatte.

Dedras Augen begannen zu zucken, als wieder Bildfetzen in ihrer Erinnerung auftauchten. Wunden, die sie verbunden hatte, Menschen, die sie heilte und andere, die sie verfluchte. Immer wieder diese Frau mit den dunklen Haaren und den rehbraunen Augen. Diese kleine Frau. Mutter? Meine Mutter? Oder mein Kind? Oder ich selbst? Oh Grumpel, meine liebe, arme Grumpel, warum hast du mich allein gelassen? Ich hatte doch nur dich auf der Welt. Noch einmal rannen Tränen über das zerfurchte, schmutzige Gesicht der alten Frau. Sie weinte einen Moment lang leise aber aus tiefstem Herzen, während vor ihr die Flammen tanzen.

Der kleine, sterbende Teil der Vernunft bettelte darum, das Fläschchen mit der unheiligen Flüssigkeit ins Feuer zu werfen und ins Dorf zu gehen, um mit den Menschen zu reden. Um Hilfe zu bitten. Der alte Brent würde bestraft werden, das stand außer Frage. Zu oft schon hatte er solche schändlichen Dinge getan. Die Dörfler würden ihr eine neue Hütte bauen und vielleicht konnte sie noch für ein paar Jahre ein anderes Kätzchen bei sich aufnehmen. Dann brach sich der alte, schwarze Hass erneut Bahn und die dünne Stimme verstummte für immer. Mit ihr versiegten auch die Tränen und das Schluchzen hörte abrupt auf. Das kummervoll verzogene Gesicht der Greisin entspannte sich und wurde völlig ausdruckslos. Was die Kräuterfrau an Liebenswürdigkeit und Güte übriggehabt haben mochte, verbrannte mit der Leiche ihrer Katze in der Ruine ihres gemeinsamen Heims zu Asche.

Die alte Dedra von Flusswalde war tot. Die gebeugte Greisin, die sich nun schmutzig, mit versengtem Haar und blutigen Händen in einem zerlumpten, halb verbrannten Gewand auf dem Weg zum Dorf machte, kannte niemand der dort lebenden Menschen.

Sie war Dedra Dubatikova. Dedra die Krumme. Dedra die Kinderdiebin. Die Menschen von Flusswalde würden sich bald wünschen, Brent wäre vor Jahren an der Jagdwunde verreckt, an der er zwei Wochen krank gelegen hatte. Die Narren würde es bereuen, dass sie damals die alte Kräuterfrau geholt hatten, anstatt ihn sterben zu lassen. Wenn Dedra diese alte Schlampe von einer Kräuterfrau, deren Namen sie vergessen hatte, auf dem Weg begegnen würde, würde die es auch bereuen. Sie würde sie alle büßen lassen. Eine halbe Stunde später, humpelnd, fluchend und von den Schmerzen in ihrem alten Körper geschüttelt, wusste sie nicht mehr, was genau Brent getan hatte.

Sie war auch nicht mehr sicher, wer oder was ein Grumpel war. Es spielte auch keine Rolle. Wichtig war nur das vor ihr liegende Dorf. Diese Schweine würden bezahlen, für was auch immer.

Dedra die Krumme hatte zu tun.

Die Rückkehr des Wanderers

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