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Erste Begegnungen
mit Hans Weigel
ОглавлениеWie das von Elke Vujica herausgegebene Styria-Buch mit Erinnerungen an Hans Weigel, Im Dialog mit Hans Weigel, seinen Weg in unseren Bücherschrank fand, kann ich nur deshalb sagen, weil ich darin ein Glückwunschbillett zu meinem 60. Geburtstag, unterzeichnet von Hanni und Hans Hagen, fand. Seit 2004 stand es jahrelang ungelesen neben einigen Taschenbüchern von Hans Weigel, die ich schon viel früher erstanden hatte. 1998 zu Weigels 90. Geburtstag und sieben Jahre nach seinem Tod erschienen, hatte ich es damals nicht gekauft, obwohl es mich als Weigel-Anhänger interessiert hätte. Und eben dieser Hans Hagen war es, durch den ich Hans Weigel noch zu Lebzeiten kennengelernt hatte.
Ganz im Nebel meiner Erinnerung liegen Hans Weigels Theaterkritiken im Bild-Telegraf. Im Haushalt eines Auslandsjournalisten hatten wir jeden Morgen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren alle Wiener Zeitungen im Haus, so auch die Boulevardblätter Bild-Telegraf und Express. Als Student der Theaterwissenschaft habe ich beim Frühstück alle Feuilletonseiten der Tageszeitungen regelrecht studiert, so auch die Kulturseite des Bild-Telegraf. An Spezielles von Hans Weigel kann ich mich nicht erinnern, es ist alles schon mehr als vierzig Jahre her. Nur ganz dunkel ist in meiner Erinnerung hängen geblieben: Seine Artikel waren pointiert, oft scharf und gelegentlich sehr subjektiv, seine Glossen In den Wind gesprochen waren aktuell und trafen oft den Nagel auf den Kopf.
Wir Theaterwissenschaftler besuchten damals alle wichtigen Wiener Generalproben und am Stehplatz die Premieren im Theater in der Josefstadt. Meine Kollegin Renate Wagner mit der hinreißenden Radiostimme wurde wenige Jahre später in Hans Weigels Bannkreis gezogen. Im Weigel-Erinnerungsbuch hält sie fest: „[…] ich schien ein Geschöpf, über das Hans Weigel gewillt war, seine schützende und auch fördernde Hand zu halten, ohne dass ich ihn je darum bitten musste. […] Dass er mich gefördert hat, fand ich deshalb so besonders ehrenvoll, weil ich schließlich nicht – wie viele andere seiner ‚Kinder‘ – eine Dichterin, sondern nur eine Journalistin war, wenn auch mit dem Anspruch, solide und dabei lesbare Sachbücher zu schreiben. Und dabei hat er mich nach Leibeskräften unterstützt. Er war, man kann’s nicht anders sagen, Mentor aus Leidenschaft.“1 Es war das Theater in der Josefstadt, in dem ich Aufführungen der geschliffenen, musikalisch klingenden Molière-Übersetzungen von Die Schule der Frauen und des Menschenfeind von Hans Weigel in deutschen Alexandrinern als Student Mitte der Sechzigerjahre zum ersten und leider einzigen Mal hörte und sah.
Das sind die wenigen vagen Erinnerungen aus meiner Studentenzeit, in der der Weigel, geohrfeigt von der durch eine seiner Kritiken erzürnten Burgschauspielerin Käthe Dorsch – auch das war uns Studenten der hohen Kunst des Theaters natürlich bekannt –, weit entfernt und unnahbar erschien.
Es mussten erst Jahre, nein Jahrzehnte vergehen, bis ich ihm, dem überall bekannten Hans Weigel, gegenüberstand. Ich war dem Theater abtrünnig geworden und erb- und familienbedingt in der Papierindustrie gelandet. Einer meiner Freunde, der als Leiter des niederösterreichischen Heimatwerks im Bezirk Scheibbs weithin bekannte Hans Hagen Hottenroth, war damals Direktor der Volksschule in Reinsberg bei Scheibbs und wollte in unserem niederösterreichischen Städtchen literarisch-musikalische Abende organisieren, fand aber dafür keinen passenden Saal mit Atmosphäre.
Eines Abends, bei einem guten Glas Wein, klagte er mir sein Leid. Wir hatten in dem zu dieser Zeit uns gehörenden Schloss Neubruck mehr als einen Saal, der für derartige Veranstaltungen geeignet war, und wir wählten den ebenerdigen sogenannten Speisesaal aus. Er war wunderschön an Decke und Wänden getäfelt, mit echten, die Arbeiten in den Jahreszeiten zeigenden Kachelbildern und einem großen offenen Kamin. Mit wenigen anderen zusammen gründeten wir den vom niederösterreichischen Heimatwerk geförderten Verein Literatur am Kamin. Den Saal rüsteten wir mit viel Liebe, einem Podium, Lichtspots auf den Lesetisch mit alter Leselampe – sie steht heute noch auf meinem Wiener Schreibtisch – und zu dimmendem Saallicht aus.
Hans Hagen Hottenroth lud 1983 Hans Weigel zu einer Lesung ein. Wir hatten schon davor eine illustre Runde von Vortragenden: Von 1980 bis 1982 versprühten unter anderem Reinhard P. Gruber, Humbert Fink, Julian Schutting, Barbara Frischmuth, Alois Brandstetter, Hans Krendlesberger und Andreas Okopenko ihren hohen Geist in unseren getäfelten Wänden. Jörg Demus hatte sein fingerfertiges Klavierspiel wiederholt bei uns unter Beweis gestellt – und nun sollte Hans Weigel, der große, alte Herr, das Literaturjahr 1983 bei uns anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches Das Schwarze sind die Buchstaben eröffnen.
Es war ein besonderer Abend. Als Honorar hatte Hans Weigel sich – und als Einziger unter all den Vortragenden – etwas Besonderes ausbedungen: Zu unserer Verwunderung nichts weiter als eine Schale Kaffee mit einer Buttersemmel und für die junge Dame, die ihn chauffierte, ein paar Blümchen. Dies war für unseren kleinen Verein eine besondere Großzügigkeit, hatte doch Hans Weigel ein Jahr davor für eine Lesung von der Gemeinde Neusiedl 5.000 Schilling erhalten.
Schon eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn brachte ihn an einem feuchten, kalten Februarabend die damals noch unbekannte Autorin Marianne Gruber in einem eher wackeligen Gefährt die über hundert Kilometer aus Maria Enzersdorf in unser Nest Neubruck. Jeder, der ihn kannte, sieht ihn vor sich: heller Rollkragenpulli mit dunkler Brille und einer zweiten auf der Stirn, die vom Zahn der Zeit und seinen vielen Auftritten abgeschabte lederne Schultasche – nicht wie sonst so oft dick gebauscht, sondern eher spärlich mit einigen losen Manuskriptseiten, zwei, drei seiner Bücher und seinen unbedingt notwendigen zusätzlichen Brillen gefüllt. Er lehnte es ab, in unserer Wohnung auf den Lesebeginn zu warten, sondern zog sich bescheiden in mein damaliges Büro zurück.
Ich brachte ihm sein Honorar: das Schalerl Kaffee mit der Buttersemmel. Es tat beiden gut, sich bei uns erst einmal aufzuwärmen. Auch waren sie erfreut über das rege Interesse der kulturbeflissenen Scheibbser. Hans Weigel gefiel es, dass unsere Buchhändlerin Christa Radinger den Büchertisch nicht nur mit teuren Hardcoverbüchern, sondern auch vielen preiswerten Taschenbüchern bestückt hatte. In seinem Manuskript aus dem Nachlass, Über den Umgang von Autoren mit Buchhändlern und umgekehrt, äußerte sich Hans Weigel zum Büchertisch: „Da lass’ ich ihnen [den Buchhändlern] vorher sagen, sie mögen, bitte, von meinen Büchern auch preiswerte Taschenbücher anbieten. Wenn ich das nicht sagen lasse, liegen auf dem Büchertisch nur wenige oder keine preiswerten Bücher. Da ärgere ich mich. Und nehme mir vor, beim nächsten Mal ausdrücklich auf die von mir erhältlichen preiswerten Bücher hinzuweisen. Einmal hab’ ich das getan, doch die Buchhandlung kam meiner Bitte nicht nach. Da warf ich die Buchhandlung hinaus. Brutal? Ich hab’ dem Auditorium erklärt, und sie haben’s verstanden.“2
So konnte er sein, der Hans Weigel, genauso wie er einmal zu einer Lesung extra nach Graz gefahren ist. Im Schaufenster der Buchhandlung war die Lesung groß angekündigt, doch stand da: „Hans Weigl“ (ohne „e“). Er las es, sagte sich, das bin ja nicht ich, drehte um und führ zurück nach Wien, ohne die Lesung gehalten zu haben.
Überrascht war er, dass an die hundert Zuhörer nach Neubruck gekommen waren. Das hatten Weigel und seine Chauffeuse dort hinter den Bergen in den Voralpen nahe dem Ötscher nicht erwartet. Es war meine Aufgabe als Hausherr, den Gast in kurzen Worten anzukündigen und offiziell zu begrüßen.
Wir hatten mit unserem populären Vortragenden eine Pause vereinbart, bis zu der er wie alle anderen auch wirklich vorlas. Das schien ihm an diesem Abend wahrscheinlich wegen seiner Sehschwierigkeiten nicht recht zu behagen. Für ihn war die Pause mit dem Signieren seiner Bücher gefüllt. Danach las er nur einen kurzen Text gegen Wagner und die Wagnerianer und forderte alle zu einem Gespräch heraus. Es kam nur stockend zustande. Nach ersten zaghaften Fragen und ausführlichen Antworten Weigels wurde der Dialog angeregter, und als einige Opernfreunde und Wagneranhänger ihre Verteidigungsposition ergriffen, entwickelte sich das Gespräch zur ausführlichen Diskussion, die sich über zwei Stunden hinzog.
Für uns Veranstalter war es ein überaus gelungener Abend. Ich glaube auch für Hans Weigel, denn in unser Gästebuch schrieb er: „,Come in!‘ sagt der Kamin! Und er weiss, wovon er knistert! Sehr dankbar: Hans Weigel.“
Hans Weigel bei seiner Lesung in Neubruck
Hans Hagen Hottenroth berichtete in unserer Lokalzeitung, dem Erlauftalboten, den es heute nicht mehr gibt, am 22. Februar 1983 von diesem Abend unter dem Titel Begegnung mit Hans Weigel: „Freitag, den 18. Februar las Hans Weigel in Neubruck aus eigenen Werken. [… Er] begann plaudernd, […] las dann aus seinem jüngsten, noch gar nicht im Handel erschienenen und nur für die Buchhandlung Radinger in ersten Exemplaren ausgelieferten Werk Das Schwarze sind die Buchstaben: über das Werden eines Buches, die Ängste und Nöte eines Autors, des Verlegers, des Herstellers […] Nach der Pause eine Plauderei Publikum – Autor: ‚Warum mögen Sie Wagner nicht?‘, ‚Wann und wo schreiben Sie?‘, ‚Welche jungen Autoren halten Sie für gut?‘, ,Was halten Sie von …?‘
‚Gibt es, Gott soll es verhüten, noch eine Frage?‘ beendete Hans Weigel das erste (!) wirklich gelungene Publikumsgespräch in Neubruck und las noch Satirisches und Feuilletons, dankbar und anhaltend akklamiert. Wieder einmal bewährte sich die persönliche Begegnung, überzeugte die persönliche Ausstrahlung und wurde eine Brücke Leser – Autor geschlagen.“
Und noch einmal sollte ich drei Jahre später mit der Literatur-Instanz Weigel zusammentreffen: In ehrlicher Bewunderung für meinen Dozenten der Theaterkritik an der Wiener Universität wollte ich 1986 gesammelte und ausgewählte Theaterkritiken, Feuilletons und Artikel von Piero Rismondo herausbringen. Schon bei der Konzeption des Buches erhoffte ich mir ein paar Zeilen eines Vorwortes von Hans Weigel, waren doch der etwas jüngere Hans Weigel und Piero Rismondo im Geiste verwandt: beide Liebende des Theaters und seiner Akteure, der eine oft offen polemisch, nach eigenen Worten seiner Natur nach radikaler, oppositioneller, der andere immer „darüber“-stehend, seine Polemik zwischen den Zeilen versteckend. Was also lag näher, als den durch seinen Auftritt in Neubruck mir bekannten Hans Weigel um das Vorwort zu bitten.
Ich schrieb ihm von meinem Vorhaben und bat ihn darum. Seine Zusage vom 26. September 1985 befindet sich noch heute als wohlgehüteter Schatz in meinen Unterlagen und beginnt: „[…] ich trau’ mich nicht zu sagen ‚Ich bin glücklich‘, aber ich freue mich s e h r, dass die Chance besteht, Piero Rismondo zu Buch zu bringen […]“ Und endet: „Hoffentlich haben Sie Erfolg mit Ihren dankenswerten Bemühungen. Wenn ja, will ich – es wird mir eine Ehre sein – gern das Vorwort schreiben, das Sie mir vorschlagen […]“
In seinem Buch Nach wie vor Wörter hielt Weigel in der Einleitung einen scherzhaften Ausspruch fest: „Die Autorin-Komponistin-Sängerin-Pianistin [und Freundin des Ehepaares Elfriede Ott/Hans Weigel] Lore Krainer hat in einer Conférence neulich gesagt: ,Jetzt hab ich mir wieder ein schönes Buch gekauft, ein schweres Buch, aber schön: die Bibel. Sehr schön, trotzdem war ich ein bisserl enttäuscht: Weder am Anfang noch am Schluß ein Vorwort von Hans Weigel!‘“3 Denn dieser war bekannt für seine vielen Vor- und Nachworte. Ironisch bezeichnete er sie als äußeres Zeichen des Älterwerdens, betonte aber: „Angeboten hab’ ich mich, bitte, nie. Immer wurde ich gefragt beziehungsweise [so wie von mir] gebeten.“4
Der Böhlau Verlag hatte für mein Buch 1986 schon eine Förderzusage der Stadt Wien und ich – Monate nach Weigels Vorwort-Zusage – zwei prall gefüllte Ordner mit eingeklebten Kopien von über sechshundert Zeitungsausschnitten sowie die Niederschrift des sechzigseitigen Werkstattgespräches, das ich an mehreren Samstagnachmittagen mit meinem unvergleichlichen Lehrmeister geführt hatte. Ich durfte Hans Weigel die Ordner in die Barmhartstalstraße 55 nach Maria Enzersdorf bringen. Weigel nahm das Manuskript an der Haustüre erfreut entgegen und versprach, sich in Kürze zu melden. Schon nach wenigen Tagen erhielt ich einen Brief von ihm, einen Einzeiler: „[…] anbei mein Vorwort. Hoffentlich ist’s recht. Das Manuskript folgt demnächst. Herzliche Grüße […]“
Das, was Weigel im Vorwort über Rismondo schrieb, trifft auf ihn selbst zu: „Was er gesagt und geschrieben hat, ist von grossem spezifischen Gewicht, vorbildlich, das darf man mit gutem Gewissen sagen.“ Denn er schätzte Piero Rismondo, der 1979 von Bürgermeister Helmut Zilk mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet wurde und 1987 von Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen (vor allem von Italo Svevo und Alberto Moravia) erhielt. Die Laudatio dazu hielt – „aus voller Überzeugung“, wie er in seinem Abendbuch vermerkte – Hans Weigel. Denn „Laudator und Vorwortler [waren] mein Altersbrot“5, wie er ebenfalls darin festhielt.
Stolz war, nein bin ich auch heute noch auf dieses Vorwort. Dass der Vielbeschäftigte sich sogar wirklich mit dem Manuskript beschäftigt hatte, zeigten mir zwei Namensausbesserungen, die er auf den Seiten 11 und 41 anmerkte.
Durch den Ausgleich des Böhlau Verlages 1986 erschien mein Rismondo-Buch erst 1999 – nach dem Tod der beiden großartigen Kritiker und Literaten – bei einem anderen Verlag, aber mit Weigels Vorwort. Es macht mich heute traurig, dass ich mein erstes Buch weder dem einen noch dem anderen persönlich überreichen konnte. Beide hätten sich darüber sicher gefreut!
Als Laudator bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für literarische Übersetzungen an Piero Rismondo, der zwischen Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek und seiner Schwiegertochter sitzt.
Jahre später, ich hatte schon drei Schauspielerbiografien veröffentlicht und immer wieder Weigel-Kritiken zitiert, schloss sich der Kreis: Sein früherer Verleger Gerhard Trenkler äußerte in seiner Erinnerung an Hans Weigel in Im Dialog mit Hans Weigel den bis dahin unerfüllten Wunsch nach einer Hans-Weigel-Biografie, dem auch Elfriede Ott nachhing. Es war Renate Wagner, die mich 2011 der Ott vorstellte und sagte: „Der kann’s machen!“ Ihre Antwort: „Wenn du ihn vorschlägst, dir kann ich vertrauen!“ Und so begann ich im Herbst 2011 mit den Vorarbeiten zu dieser Biografie.
Oberpiesting, im Mai 2015