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Kindheit

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Die Hoffnung vieler Wiener Juden, durch Assimilation Integration zu erreichen, war in der jüdischen Mittelschicht Wiens am Beginn des vorigen Jahrhunderts weit verbreitet. Geradezu exemplarisch zeigte sich diese – wie sich leidvoll herausgestellt hat – Illusion bei Hans Weigels Eltern. Sein Vater Eduard, ältestes Kind von Lazar Weigl und seiner Frau Babette, 1874 in Markt Eisenstein, einem kleinen böhmischen Ort nahe der bayrischen Grenze, geboren, kam schon in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in die Residenzstadt der Monarchie.

In Eisenstein, dem heutigen Zeležná Ruda, lebten nur zwei jüdische Familien, die als Kaufleute ihr Fortkommen hatten. Lazar Weigl, sein Sohn Eduard fügte erst in den 1920er-Jahren in Wien das „e“ in den Namen „Weigl“ ein, besaß nicht nur eine Gemischtwarenhandlung, „den Laden“, wie er genannt wurde, sondern auch Felder und Wiesen und führte eine kleine Milchwirtschaft. Er lebte streng nach den jüdischen Gebräuchen: „[…] in seinem Haus wurde koscher gekocht, Geschirr und Besteck für Fleisch und ‚Milchiges‘ getrennt – es wurde kein Schweinefleisch zubereitet.“1

Dieser Großvater Lazar, Ludwig, „war ein verständiger, recht kluger Mann, der auch Humor hatte. […] Ich hatte ihn sehr gern, er war stolz auf mich, wie auf seinen Sohn Eduard, der es in Wien weit gebracht hatte“2, als Handelsakademiker bei der Glasfabrik Stölzle, bei der er seine berufliche Laufbahn begonnen hatte und bei der er zuerst als Prokurist und dann als Direktor Karriere machte. So schrieb Hans Weigel in seiner 2008 posthum von seiner Lektorin Elke Vujica herausgegebenen Autobiografie In die weite Welt hinein, in der er sein Leben von 1908 bis 1938 behandelte.

Eduard hatte drei jüngere Schwestern: die Älteste, Franziska, genannt Fanni, hatte fünf Kinder: Ernst, Otto, Klara, Emma und Hedwig. Hans Weigel war in den Ferien seiner Volksschulzeit gerne bei ihnen in Chotieschau (Chotěšov). Die Mittlere lebte mit ihrem Mann Robert Abeles und ihrer Tochter Irma in Karlsbad (Karlovy Vary), während Regine, die Jüngste, mit ihrem Mann Emil Siller in Eisenstein blieb, zwei Töchter, Roselle und Mitzi, hatte und mit ihrem Mann das Geschäft von Lazar Weigl übernahm.

Der Großvater von Hans Weigel mütterlicherseits, Julius Fekete, war Kaufmann aus dem ungarischen Gyon, heute Dabas, und kam mit seiner Frau Katarina, geborene Boskowitz, schon vor der Jahrhundertwende nach Wien. Sie wohnten in Margareten, dem 5. Wiener Gemeindebezirk, und führten in der nahe gelegenen Schönbrunner Straße 31 das „Zentralversandhaus Julius Fekete“, einen Gemischtwarenhandel. Sie waren typische Vertreter des liberalen jüdischen Bildungsbürgertums, hatten drei Söhne und zwei Töchter.

Hugo übernahm als Ältester, der Not gehorchend, das Zentralversandhaus, da sein Vater 1903 mit nicht einmal fünfzig Jahren verstorben war. „Onkel Hugo musste das Geschäft führen, und das war wohl tragisch, denn er war sehr musikalisch, spielte großartig Klavier, war charmant und witzig und hatte gewiß ein unerfülltes Leben. Er mochte mich sehr gern, manchmal saß ich neben ihm, wenn er am Klavier improvisierte.“3 Albert, der mittlere der drei Söhne, lebte als Ingenieur bei den Saurer-Werken in Arbon am Bodensee in der Schweiz. „Der dritte Bruder war Onkel Theo, klein und rundlich, er spielte Geige und war angestellt bei der Filmfirma Projektograph. Er schwärmte von der neuartigen Erfindung und prophezeite ihr eine große Zukunft – und wurde in der Familie nur belächelt.“4 Nach ihm wurden die beiden Mädchen Regine, die spätere Mutter von Hans Weigel, und Lilly geboren, die Leopold Kandler heiratete, deren Tochter Alice später mit Henry Steiner verheiratet war und mit ihm eine Tochter, Lillian, hatte.

Die Kinder des Ehepaars Fekete wurden von französischen Kindermädchen großgezogen und sprachen fließend Französisch. Schon mit siebzehn Jahren heiratete Regine am 13. September 1903 Eduard Weigel, bekam einige Jahre vor Sohn Hans Tochter Alice, die wenige Tage nach der Geburt verstarb. Am 29. Mai 1908 kam Hans Weigel im Haus Franzensgasse 11 in Wien V. zur Welt. „Ich bekam den Namen Julius Hans, denn es war Usus in der mosaischen Religionsgemeinschaft, Kinder nach ihren Großeltern zu benennen, wenn diese nicht mehr am Leben waren. […] Helfer bei meinem Eintritt in die Welt war Dr. Theodor Stern, praktischer Arzt, ein kluger, gebildeter Mann und der engste Freund der Familie, mit besonderem Interesse für Philosophie und für humoristische Literatur.“5


Hans Weigels Kindheitserinnerungen reichten weit zurück, an eine Sommerfrische in Rodaun, wohin der Vater und sein Onkel Leo Kandler nach der Arbeit mit der Elektrischen kamen, oder an den Geburtstag des alten Kaiser Franz Joseph, den 18. August 1913: Beim abendlichen Fackelzug sang der Fünfjährige mit einer schwarzgelben Fahne in der Hand das Kaiserlied mit. Auch berichtete er von zwei Aufenthalten „in Grado (Italien), weil man glaubte, der Sand dort sei heilkräftig und gut für meine Gesundheit“.6

Als Sechsjähriger, bei einem Ausflug zum „Roten Stadl“ in Kaltenleutgeben, erfuhr seine Mutter von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914. „[…] aber noch konnte ich mit der Politik nicht mit. Und dann der 1. August 1914 in unserer Sommerwohnung in der Schreckgasse in Rodaun. Mein Vater, Onkel Hugo und Onkel Theo mit Tornister. Sie nahmen Abschied. Ob meine Großmutter dabei war, ist mir nicht erinnerlich. Sie umarmen meine Mutter und Tante Lilly. Ich musste denken: das Sterbebussi. Soviel verstand ich. Aber noch lange nicht mehr.“7

In seiner Autobiografie beschrieb Hans Weigel seine Erinnerungen an den Kriegsbeginn, als es schon im August 1914 hieß: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit’.“ Später, 1983, sollte sich Weigel mit der Rolle der deutschen Schriftsteller zu Kriegsbeginn und ihrer Kriegshetze auseinandersetzen, mit Beispielen akribisch belegt in der im Christian Brandstätter Verlag herausgegebenen Dokumentation der literarischen und grafischen Kriegspropaganda Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos: Dabei hat er „in einem längeren Beitrag, der dem Buch vorangestellt ist, die Horror-Exzesse der Dichter und Denker Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches dem Verschweigen entrissen“, wie es im Klappentext zu diesem Buch heißt, „bekannte, ja illustre Namen (Thomas Mann, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke etc., etc.) haben sich in diese Literaturgeschichte wider den Frieden eingetragen, manche nur am Anfang, manche aber bis zum bitteren Ende. Weigel dokumentiert aber auch die wenigen Verweigerer, wie Hermann Hesse (‚O Freunde, nicht diese Töne!‘) oder Karl Kraus, der schon 1914 bemerkt hatte: ‚Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus […] mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten Front und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus.‘“8

Als Sieben- oder Achtjähriger, also schon in den ersten Kriegsjahren, besuchte Hans mit der Mutter seinen Onkel Albert in der Schweiz: „[…] es war meine erste bewusst erlebte Reise.“9 Er hob den familiären Zusammenhang hervor, wenn er schrieb: „Auffallend, aber für mich damals selbstverständlich, war – ist – der ungeheure familiäre Zusammenschluß, die selbstverständliche Verbindung […], als wären wir eine Minderheit; und eine solche waren wir nicht. Wir alle waren kaum religiös. Unser Jüdischsein war um uns herum nicht umstritten, nicht einmal äußerlich bemerkbar. Meine Mutter war besonders beliebt, sie sprach wienerisch, sie verstand sich auf den Umgang mit Lieferanten. Es gibt, denke ich, diesen Familiensinn vor allem bei mosaischen Familien, sie halten zusammen ohne aggressive Spitze gegen andere, einfach aus dem, Clan‘-Geist. […] Ob meine Eltern eine gute Ehe führten, weiß ich nicht. Eher ja. Weil ich ein frecher Fratz war, antwortete ich einmal als ganz junger Fünf- bis Sechsjähriger auf die blöde Standardfrage ‚Wen hast du lieber, den Vater oder die Mutter?‘: ‚An Wochentagen die Mutter, an Sonntagen den Vater.‘ – Beide liebten mich, waren stolz auf mich. – Als ich sechs Jahre alt war, verließ er uns, ich habe ihn dann sechs Jahre lang nicht mehr gesehen.“10

Als die Männer der Wiener Familien Fekete/​Weigel in den Krieg gezogen waren, übersiedelte Regine Weigel mit ihrem Sohn zu ihrer Mutter Katarina – als „eine kluge, temperamentvolle Frau“ bezeichnete Hans Weigel, der sich im sogenannten Herrenzimmer breitmachen durfte, seine Großmutter später. „In diesem Zimmer befand sich auch ein Bücherkasten. Oft wachte ich sehr früh auf, holte mir ein Buch [im Alter von sechs bis acht], ging mit dem Buch und einer Lampe unter die Decke und las.“11


Der Volksschüler mit seiner Mutter

Er durfte alles lesen, was er sich aussuchte, denn seine Mutter „war ungeheuer fortschrittlich, und ich kann mir nicht erklären, woher das kam. […] Als mein Eintritt in die Volksschule bevorstand, begann meine Mutter sich verschiedene Schulen anzusehen [wollte jedoch keine von der ,guten Gesellschaft‘ frequentierte Privatschule wie die ,Mendel-Schule‘]. Endlich fand sie eine Schule nach ihren Wünschen, die war in der Albertgasse 23, weit, weit von unserer Gegend entfernt. Der Schulweg mit der guten alten Straßenbahnlinie 13 erforderte etwa eine halbe Stunde. Eine Hausgehilfin brachte mich hin, meine Mutter holte mich meist ab. […] Diese Schule war ganz besonders erfreulich, sie war ein ,Musterschulhaus‘ des Vereins Freie Schule, ein Verein im Rahmen der Sozialdemokratischen Partei mit entsprechend fortschrittlichen Lehrern und Lehrerinnen, einem gescheiteren Lehrplan“12 sowie „modernen Methoden: Knaben und Mädchen in einer Klasse [und das 1914!], beim Religionsunterricht sass ein Lehrer einer anderen Konfession mit dabei, auch gab es den obligaten Französisch-Unterricht“.13

Für den Sohn war seine Mutter von größerer Bedeutung als der Vater, alleine schon durch dessen Kriegsgefangenschaft, durch die Vater und Sohn das Aufwachsen des Jungen nicht gemeinsam erleben konnten. Seine Mutter war für ihn perfekt, modern, witzig, erzog ihn zur Selbstständigkeit, bei ihr durfte er schon sehr früh alles lesen, was er wollte. Sie führte ihn in Konzerte, wodurch für ihn sein Leben lang Musik vorrangig gegenüber dem Theater und der Literatur wurde.

Seinen Vater beschrieb Hans Weigel als gütig, liebevoll. Er bemühte sich vor allem nach seiner Kriegsgefangenschaft um ihn, doch war es dann nach 1920 zu spät, eine wirklich gute Beziehung zwischen Sohn und Vater aufzubauen. In den Augen des Sohnes galt der Vater als erstaunlich gebildet und ambitioniert, aber auch schwermütig und ernst, er sprach Französisch und Englisch. Obwohl er die eigentliche Karriere seines Sohnes nach 1951 nicht mehr miterlebte, war er zeitlebens sehr stolz auf ihn.

Mit Kriegsbeginn begann eine rege Korrespondenz der Männer an der Front mit den Daheimgebliebenen. Wenn auch nicht alle, so sind doch sehr viele Briefe erhalten, die Veronika Silberbauer in ihrer Diplomarbeit und als szenische Lesung für eine Bühne in vorbildlicher Weise aufgearbeitet hat. Der Vater an der Front hatte alle ihm zugestellten Briefe aufgehoben. Als er 1920 aus der russischen Gefangenschaft nach Hause kam, konnten sie mit seinen Briefen an seine Frau und seinen Sohn zusammengelegt werden. Sie wurden in die Emigration der Eltern nach Amerika mitgenommen und kamen nach der Rückkehr aus dem Exil wieder nach Wien zurück, weshalb sie im Zweiten Weltkrieg nicht verloren gingen und nun im Nachlass von Hans Weigel in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus erhalten sind. Der Brief von Hans vom 21. September 1914 an den Vater ist ein kleiner, einseitig mit der Maschine beschriebener Zettel:

Liebster Vater

Ich hoffe es geht Dir gut. Denn mir und der Mutter geht es gut. Morgen beginnt meine Schule. Ich freue mich schon sehr darauf. Dort werde ich recht brav und fleissig sein. Damit Du und die liebe Mutter Freude hat.

Grüsse und Küsse Hans14

Einblick gewährt auch Hans’ kurrent geschriebener Wunsch ans Christkind, auf Kinderbriefpapier aufgezeichnet:

Liebes Christkind

Landkarten von jedem Kriegsschauplatz und von jedem Land. 2. 3 Geografische Spiele. 3. Der Tausendkünstler.

4. Motorwagenbau.

5. sämtliche botanische Geräte

6. 100 Stück Reklame-Marken

Unterstrichenes bei Pichler zu kaufen.

Hans Weigel

Viele Jahre später gab Hans Weigel eine Erklärung, warum für ihn die „Landkarten von jedem Kriegsschauplatz und von jedem Land“ an erster Stelle seiner Wünsche gestanden waren. In seiner Autobiografie hielt er zum Zeitraum ab dem frühen Winter 1914, also mit sechseinhalb Jahren und in den ersten Volksschulklassen, fest: „Ich konnte lesen, ich konnte (wenn auch nicht schön) schreiben, meine Mutter erlaubte mir, Zeitung zu lesen, ‚nur die Kriegsberichte‘, natürlich las ich die ganze Zeitung und habe auch nicht Schaden an meiner Seele genommen. – Das Kriegsgeschehen und das politische Geschehen faszinierten mich (so frühreif war ich), obwohl ich von all dem nichts verstand (so frühreif war ich wieder nicht). Ich liess mir von einem etwa zehn Jahre Älteren vieles erklären, fragte ihn aus, und als ich den Sommer in Eisenstein verbrachte (1916 oder 1917), führte ich mit ihm eine ‚politische Korrespondenz‘.“15

Eduard Weigel war als Oberleutnant im Kronland Galizien in Przemyśl stationiert, das wegen seiner verkehrswichtigen Lage ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur imposanten Festung ausgebaut worden war. Am 9. November 1914 begannen die Russen, Przemyśl bereits zum zweiten Mal zu belagern. Sie erreichten ihr Ziel, die Festung auszuhungern. Als Ende Februar 1915 Conrad von Hötzendorf den Festungskommandanten davon informierte, dass keine weiteren Hilfsmaßnahmen zu erwarten seien, hatte Feldmarschall-Leutnant Hermann Kusmanek keine andere Wahl, als mit 117.000 Soldaten am 22. März 1915 zu kapitulieren. Erfasst wurden neun Generäle, 93 höhere Stabsoffiziere und 2.500 Offiziere, darunter auch Eduard Weigel, die alle in russische Gefangenschaft kamen. Seine Verwandten dürften vom Fall Przemyśls aus der Zeitung erfahren haben. Sie waren anfangs entweder im Unklaren über das Schicksal von Eduard Weigel oder sie erfuhren von seinem Überleben und seine Gefangennahme durch seinen Offiziersstatus aus der Zeitung.

Der erste Brief von Eduard Weigel aus der Gefangenschaft an seine Frau ist, wie einige weitere auch, erhalten:

Birsk in Russland [kleine Stadt im südlichen Uralvorland], 25. April 1915

Meine Liebe!

Es ist wieder ein Sonntag und der erste Sonntag in Birsk! Vier Wochen seit jenem schaurigen 22. März seit der Übergabe Przemysls, seit meiner neuen Eigenschaft als russischer Kriegsgefangener. – Und in dieser Gefangenschaft der erste Sonntag eines menschenwürdigeren Daseins. Es läßt sich kaum schildern, was diese Zeit seit Przemysl an Erlebnissen traurigsten Angedenkens enthält. […] Es ist in diesem Sinne eine Errungenschaft, daß ich mit unserem ehemaligen Regim. Adjutanten Dr. Alfred Spitzer, ein Wiener, allein in einem primitiven aber ziemlich reinlichen Häuschen wohne, und halbwegs wie ein zivilisierter Mensch leben, schlafen, mich reinhalten kann, ausgehen darf und im Rahmen dieses Städtchens von ca.12000 Bewohnern nach Art eines Pensionisten, wenn auch beobachtet, mich bewegen und benehmen kann. […] Soweit wäre nach diesen bitteren Wochen Ruhe und etwas Menschlichkeit abseits der Kriegsfurie eingezogen; […] es ist nur eine andere Form der Haft, so unendlich weit von Dir mein Alles, von meinem Kind, von Euch allen […]16

In einem anderen Brief nimmt Eduard Weigel ebenfalls auf die Situation seiner Familie zu Hause Bezug:

Birsk, Sonntag 2. Mai 1915

[…] Ich habe Nachricht von Dir – das trägt mich über all das hinweg! Am 29/​4 ist die Depesche von Schönfeld eingetroffen: ‚Ihre Familie wohlbehalten‘. Und ich will hoffen, daß dem auch wirklich so ist, daß Du mein Lieb, mein Hans, meine Eltern, Ihr alle, alle gesund und aufrecht seid! […] Ich möchte so gerne wissen, ob Du meinen Przemysler Brief vom 11/​II erhalten hast, worin ich Dich gebeten habe, im Sommer doch auf´s Land zu gehen, eventuell nach Eisenstein. Weder Du noch unser Kind sollen nach dieser Richtung büßen müssen – und da das Ende so ferne wie je, soll für Euren Sommer gesorgt sein nach bester Möglichkeit! […]

Im Mai 1915 feierte Hans seinen siebten Geburtstag. Der Wunschzettel, an die Mutter adressiert, blieb erhalten und darf als nicht gerade bescheiden gewertet werden, wünschte er sich doch unter anderem einen Atlas, sechs Bücher, eine Theaterkarte und eine komplette Uniform.17 Er erhielt aber wohl nicht alles, denn seinen ersten Besuch im Theater stattete er erst nach der Rückkehr des Vaters aus der russischen Gefangenschaft ab.

Wie der Vater in seinem Brief geraten hatte, verbrachte Hans den ersten Kriegssommer bei den Großeltern Weigl in Eisenstein (ersichtlich aus einer Feldpostkarte an den Vater vom 30. August 1915), in Karlsbad und auch in Chotieschau bei den zahlreichen Verwandten, denen er sich mit eigenen Briefchen ankündigte. Es wurde jedoch eine tragische Zeit: „Während des Sommeraufenthaltes 1915 ereilte die Familie eine schreckliche Nachricht: Onkel Hugo war gefallen. Ein großer Schock für die Familie – man trauerte sehr um den Sohn, Onkel und Bruder“, wie sich Hans Weigel erinnerte. „Doch es sollte noch schlimmer kommen: Onkel Theo wurde kurz darauf als vermisst gemeldet, er ist nie aus dem Krieg zurückgekommen.“18

Viele Einzelheiten der ersten Kriegsjahre, die Hans aus den Zeitungsberichten aufsog, blieben ihm, wie er in seiner Autobiografie anmerkte, in Erinnerung. Jahre später setzte er sich mit der unglücklichen Rolle des letzten Habsburger-Kaisers Karl I. auseinander: „Vermutlich hätte auch ein weniger Unbedeutender, ja sogar ein Napoleon oder Bismarck, vom Dezember 1916 an die Katastrophe nicht mehr aufhalten können. Karl war nicht auf seinen Kaiser-Beruf vorbereitet […], er schmiss zwar alle hinaus, aber er holte nicht die Richtigen und hatte es schwer, sich intern durchzusetzen. […] Mir kommt vor, dass die gesamte Geschichte Österreichs seit 1848 (spätestens) ein einziges schleichendes Ende gewesen ist, personifiziert in der Figur Franz Josefs, der achtundsechzig Jahre regiert hat und, wie mir scheinen will, in diesen achtundsechzig Jahren überhaupt nichts Bedeutendes oder Positives vollbracht hat.“19

Schon vorher hatte er seine Ansicht über den zu lange regierenden Kaiser zusammengefasst: „[…] man neigt zu einer idealisierenden Verklärung dessen, was vorher [vor dem Ersten Weltkrieg] war, und vergisst, dass diese unsere belle époque ja nicht von aussen her beendet wurde, sondern dass sie das, was folgte, verursacht, veranlasst hat. Dem Kaiser Franz Josef verdankt die Welt die zweifachen Millionenopfer der Weltkriege. Den Hitler, dem es den Stalin verdankt, verdankt Europa dem Kaiser Franz Josef.“20

Derartige Gedanken hegte natürlich der Volksschüler Hans noch nicht. In dieser Zeit war er durch die liebende Mutter wohlbehütet, schrieb dem Vater wiederholt nur kurz auf Feldpostkarten, dass es ihm und auch der Mutter gut gehe und er dasselbe für den Vater erhoffe. Einem etwas längeren Brief aus dem Winter 1916 ist trotz Krieg und Gefangenschaft des Vaters ein scheinbar normales Kinderdasein zu entnehmen:

Liebster Vater!

Seit vorgestern schneit es hier heftig und der Schnee ist schon 1/​4 m. hoch, morgen gehe ich nach Hütteldorf rodeln. (Ich habe schon vorigen Winter eine famose Rodel bekommen.) Und nächsten Sonntag vielleicht zum Anninger, fein was? Am 10. Februar ist ein Kränzchen der Tanzschule und ich darf als Bajazzo hin, morgen ist Probe, ich freue mich sehr darauf. Auch bin ich neugierig, ob ich was kann, ich werde dir nachher über den Verlauf der Sache ausführlich Berichte erstatten; hoffentlich gute! Ich habe jetzt sehr, sehr viel zu lesen, hoffentlich werde ich bis zu meinem Geburtstage damit fertig.

Viele Grüße & Küsse von Hans

Ab 1916 führte Hans Weigel über viele Jahre hin ein „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“. Darin vermerkte er in den Spalten „Namen des Interpreten“, „Autor oder Komponist“, „Wo aufgeführt“, „Wann“ und „Bemerkungen“ seine Konzert- und Theaterbesuche. Auf einzelne Beispiele soll später noch eingegangen werden. Die Bemerkungen können nicht als erste Kritiken gewertet werden, sondern waren meist allgemein gehaltene, kurze, ganz subjektive Stellungnahmen des Jugendlichen.

Das trotz des Krieges fast normale Leben von Hans Weigel spiegelt sich auch in anderen Briefen wider, zum Beispiel wenn er dem Vater am 28. Februar 1916 mitteilte, dass es ihm „in der Schule gut geht“ und er „ziemlich fleissig“ sei. „In der Freien Schule stellten ‚jüdische‘ Kinder mindestens die Hälfte meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich war mit Ihnen befreundet, ohne diese Tatsache bewusst wahrzunehmen oder die anderen abzulehnen: mit dem Gerhart Pisk [mit dem Weigel eine lebenslange Freundschaft verband], dem Walter Braun, dem Hans Schwarz, dem Paul Strassberg, der Lili Munk, der Edith Wolf … – unsere Eltern waren befreundet, sie war ‚meine Braut‘ und starb mit acht Jahren.“21

Von Edith Wolf schrieb er seinem Vater am 25. März 1916: „Mit Edith komme ich oft zusammen, wir machen täglich gemeinsame Spaziergänge […]“22, oder am 13. April 1916: „Montag war ich bei der Edith zum Geburtstag eingeladen. Es waren noch 3 andere Kinder dort. Wir haben uns sehr gut unterhalten […]“ Am Tag seines Geburtstags folgte an den Vater eine genaue Aufzählung der Geburtstagsgeschenke. Dabei zeigte Weigel, dass er Worte richtig abteilen konnte:

29. Mai. Liebster Vater!

Gestern habe ich au=ßer dei=nem Buche wofür ich herz=lich danke folgendes be=kommen:

1. Eine glückli=che Familie von Tony Schumacher.

2. Peter Pan im Waldpark von Barrie frei ins Deutsche übertra=gen von J. Funke.

3. Robinsohn Crusoe von Daniel Defoe, für die Jugend bearbeitet von Albert Geyer.

4. Die Biene Maja und ihre Abenteuer von Waldemar Bonsels.

5. Kipling’s Märchenbuch.

6. Seybolds Taschen-Welt-Atlas.

7. Einen Ankersteinbaukasten.

8. vier Gesellschaftsspiele heißen: Halma, Tombola, Glocke und Hamer Wettrennen.

9. Ein Kanarienvogel.

Dem Datum nach ist der Geburtstag erst Heute, er wurde gestern gefeiert, weil gestern Sonntag war. Wie geht es dir? Viele recht herzliche Grüße von deinem Sohn Hans

Auch 1916 war ein trauriges Jahr für die Familie Weigel. Wenige Wochen vor Weihnachten starb Hans’ Großmutter unerwartet im 65. Lebensjahr. Hatten er und seine Mutter im Geschäft schon seit Kriegsbeginn mitgeholfen, so ruhte nun die ganze Last auf Regine Weigel, die ein Französisch sprechendes Kindermädchen, Fräulein Ella Specht, einstellte, das mit Hans lernen und auch spazieren gehen sollte.

Regines in der Schweiz lebender Bruder Albert überlegte, nach Wien zu kommen, um das Versandhaus zu übernehmen, doch ließ er länger auf sich warten. Von all dem spiegelt sich nichts in Hans’ Briefen an den Vater. Am 6. Dezember 1916 berichtete er vom Besuch des „Krampus mit einer großen Rute, einem Schlitten und einem Sackerl voll Zuckerln“ und am 22. Dezember vom Beginn der Weihnachtsferien „um 12 Uhr Mittag und ich habe folg. Zeugnis bekommen: ‚Das Betragen zufriedenstellend, der Fleiß gleichmäßig, in den Fertigkeiten (Schreiben, Zeichnen) geschickt, der Fortgang vollkommen enschpr.‘, kurz sehr gut“.

Dass der neunjährige Hans dem Weihnachtsgeschenk für seine Mutter, einer Vase, einen eigenen Reim beifügte, mag noch nicht verwundern, auch das Gedicht zu ihrem Geburtstag ist noch nichts Außergewöhnliches. Bemerkenswert ist aber die Fantasie eines Schulaufsatzes, den Regine ihrem Mann am 18. März 1917 weiterleitete:

Mein Liebster!

Nachstehend übersende ich Dir Deines Sohnes letzten Aufsatz, dessen Inhalt Dir wegen der großen darin enthaltenen Gedankenfülle gewiss ebenso große Freude wie mir machen wird; die Abschrift ist mit allen Fehlern des Originals erfolgt:

„Was ein Brief erzählt.

Ein Brief erzählte seinen Kameraden in der Kriegserinnerungs-Lade: ‚Ich bin in der Wiener Papierfabrik M. Munk‘ entstanden. Als ich Papier wurde kam ich in eine Schachtel und wurde in eine Papierhandlung getragen. Hier lag ich lange Zeit bis einmal ein Herr, mit einer schönen Uniform und mit vielen Orden, eintrat und fragte: ‚Was kostet dieses Briefpapier, Fräulein.‘ Das Fräulein sagte darauf etwas was ich nicht verstand der Herr nickte und sagte: ‚Ich werde es dann abholen lassen‘ und ging weg. Bald darauf kam wieder ein Mann und sagte: ‚Ich soll das Briefpapier für den Kaiser abholen.‘ Ich war sprachlos. Der Kaiser sollte auf mir schreiben, na so etwas! Ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen nicht mehr nachhängen, denn ich wurde unsanft gehoben so daß mir die Sinne vergingen. – Als ich erwachte lag ich in einem schönen Zimmer am Schreibtische. Da ging die Türe auf und herein trat der – Kaiser. Er setzte sich zum Schreibtisch öfnette die Schachtel und nam mich als erstes Blatt heraus und schrieb einen Armee- und Flotten-Befehl auf mir nieder. Er lächelete als ich in mit meinen großen Augen unverwandt anblickte. Als er schon die Unterschrift gesetzt hatte stekte er mich in ein dunkles Gefägnis das die Menschen Briefumschlag nennen. Ich wurde hin- und her gerüttelt und schlief bei diesen regelmäßigen Bewegungen ein. Ich erwachte als die Bewegungen aufhörten. Das Gefängnis wurde gesprengt und ich sah wieder das Tageslicht. – Ich befand mich in einem großen, geräumigen Zimmer wo viele Menschen versammelt waren. Alle lasen mich und ich wurde so lange herum gereicht bis mich alle gelesen hatten und ich hirher kam.“

Hier das Duplikat von Hansens Aufsatz […]. – Hoffentlich erhältst Du es, denn ich bin sicher Du wirst Dich damit freuen. – Es ist ganz besonders, was der Bub für Einfälle hat, und Freund Dr. ist nach wie vor der Ansicht seine Interessen einzudämmen, statt wachzurufen. – Schwer möglich bei seiner körperlichen und geistigen Regsamkeit. – Momentan liest er mit dem größten Interesse die Weltgeschichte und hat sich auch bereits, wie er Dir schrieb, entschlossen das Gymnasium zu besuchen; doch bis dahin hoffe ich Dich ja trotz allem hier zu haben. –

Deine Nachrichten treffen nun wieder fleißig ein […] Lebe wohl und bleibe weiter gesund, wie auch wir es sind.

Eduard Weigel berichtete in langen Briefen seinem Sohn Hans von seiner intensiven Beschäftigung mit Pflanzen, bedauerte, dessen Entwicklung nicht miterleben zu können, lobte die gute lateinische Schrift seines Sohnes, der bald auch Lateinschüler im Hinblick auf das Gymnasium sein würde, und beklagte, dass die Post so lange unterwegs sei und oft gar nicht komme.

Hans benachrichtigte den Vater von seinem Ferienaufenthalt in Böhmen, wo es ihm Freude bereitete, bei der Ernte zu helfen, und von den vielen Büchern, darunter auch drei von Jules Verne, die er zum Geburtstag erhalten hatte. Auch das Münzen- und Markensammeln hatte er angefangen. Die Briefe und Karten an seine Mutter, die sich eine Woche Urlaub auf dem Semmering gönnte, sind jedoch viel herzlicher, während die an den Vater einen eher respektvollen Ton anschlagen.

In der letzten Volksschulklasse bekam Hans eine Lehrerin, auf die er sich schon gefreut hatte, da sein alter Lehrer „fad war“. Er bekam viel „Lob und Auszeichnungen in Hülle und Fülle“ und bezeichnete sich dem Vater gegenüber als „Musterknabe“. Seine Fantasie war für sein Alter von neuneinhalb Jahren erstaunlich: Er erfand Rätsel, die er an abonnierte Zeitungen schickte, auch wenn noch keines veröffentlicht wurde. Drei Beispiele davon sandte er dem Vater als Scherzfragen in seinem Brief vom 13. Dezember 1917:

1. Wer hat die meisten Verehrer und ist doch schon eine Mutter. (Die Natur.)

2. Das Zweite kommt als erstes in den Magen; im ganzen muß der Kurzsichtige sein Augenlicht tragen. (Futteral) und ein Rebus:


Zu Weihnachten bekam Hans wieder viele Bücher, darunter Rudyard Kiplings Dschungelbuch, Durch Wille zum Erfolg von Georg Biedenkamp, Sagen und Geschichten aus Wien und Das Nibelungenlied von Eduard Bürger, sowie eine Karte – Logensitz – für eine Lesung von Otto Tressler im Großen Musikvereinssaal, von der er seinem Vater natürlich erzählte: „Er las sehr schön vor und zwar: die Teufel auf der Himmelswiese, Dornröschen. Aschenputtel und das Märchen von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen von Grimm und eine Lausbubengeschichte von Thoma (ersteres ist von Baumbach) ich unterhielt mich dabei sehr gut.“

In seinem bereits erwähnten „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“ ist als einzige Anmerkung der Saison 1917/​18 als Nachtrag nach der Saison 1918/​19 nur eingetragen: „Zwei Märchen-Vorlesungen von Tressler – Gr. Musikvereinsaal – I. Loge, II. Pat. [statt der Termine die Sitzplätze] – Märchen, Gedichte, Lausbubengeschichten sehr hübsch; jedoch etwas zu klein dazu.“

Mehr als ein Jahr nach dem Tod von Regine Weigels Mutter, Katarina Fekete, zog ihr Bruder Albert mit seiner Frau Trudy – davor seine Sekretärin – von der Schweiz nach Wien. In der Zwischenzeit hatte Regine Weigel das Geschäft geführt. Wenn Hans in seinem Briefchen an die Mutter vom 4. August 1917 sie mit „Prokuristengattin dzt. Stelle Chefin“ bezeichnete, zeigt dies, wie stolz er auf sie war. Albert Fekete übernahm nun die Leitung des Versandhauses und ließ den Zentralversand auslaufen, um vornehmlich landwirtschaftliche Geräte zu führen. Dass er sich auch in die Erziehung von Hans einmischte, trug ihm dessen Ablehnung ein: „Ich habe ihn nicht gemocht, wir waren jahrelang verfeindet.“23 Auch seine Frau Trudy blieb Hans in schlechter Erinnerung, denn noch 1980 schrieb er über sie: „Eine kluge und witzige Freundin meiner Mutter, Frau Hedwig Freund, war, wie wir alle, unglücklich darüber, dass mein Onkel eine Frau geheiratet hatte, die unpünktlich und untüchtig fast bis zur Lebensunfähigkeit war.“24

Zudem rief auch das bereits erwähnte Französisch sprechende Kindermädchen Ella Specht durch kleinbürgerliche Beschränktheit Hans’ Unmut hervor, die der Zehnjährige in einem Pamphlet aufs Korn nahm:

Ich geb dieses Büchlein heraus.

Ich halte es nimmer aus.

Vor lauter Qual von diesem Menschen hier

Den ich hiemit bringe auf Papier

Der Verfasser Hans Weigel

(verfaßt im Jahre 1918)

Zur Beachtung.

Ella Specht ein tierisches Wesen aus dem Geschlechte homo bestialus schimpfe ich mein Fräulein und leider Gottes ist sie es.

Sie hat folgende schlechte Eigenschaften: Sie kann Französisch, Englisch und Wienerisch und was ihr sonst noch im Verkehr mit Gebildeten aufstößt spricht sie in einer dieser Sprachen.

2. Wenn ich 2 Worte gesagt habe, ist ihr die Sache schon zu kompliziert, und sie sagt: Schweig, mit dir wird man ja nie fertig.

3. Sie ist ungebildet im höchsten Grade. Wie schon bemerkt, kann sie einem nicht 3 Worte sprechen lassen. Wenn man mit einem Wort anfängt, das ihr nicht geläufig ist (z. B. Deutschösterreich, Republik u.w.) sagt sie: „Du hör mir damit auf. Dazu bin ich zu ungebildet.“ Und das ist sie.

Meiner verblendeten Mutter gewidmet. Ella Specht ihr Leben und ihre Missetaten. Ein Büchlein zum Lachen aber auch zum Weinen.

Von Hans Weigel sXX, schlimm […]25

Und dann zählte er auf wenigen Seiten einige der „Untaten“ auf, die er ihrer Dummheit anrechnete, etwa wenn sie, zu spät kommend, als Entschuldigung hervorbrachte, ihre Uhr müsste schlecht gehen – und dabei habe sie gar keine Uhr, oder sie schwärmte am Markt eine prachtvolle Kalbsbrust gesehen zu haben, die sie aber dann in der Kriegszeit, wo es so wenig gab, nicht kaufte. Gegen Ende klagte er an: „Ich führte es nicht zu Ende, da der Zweck, den es bezweckte, sich auf unblutigere Weise erreichen lies. – Nun ist sie dahingegangen wo sie mehr Lohn bekommt. Das Schlagen mit der Faust ins Auge, mit dem Stock ins Auge hat aufgehört. Aber noch aus dem Grabe würde ich (wenn ich könnte) rufen: J´accuse!! Weigel.“26

Auch in seiner Autobiografie widmet der erwachsene Hans Weigel ihr noch eineinhalb Seiten: „Ich komme […] nicht um die Phrase ‚Sie war eine gute Seele‘ herum […], aber mir nicht gewachsen. Sie war einfältig. […] Einmal, als ich schlimm war, sagte sie: ‚Schade, dass deine Mutter mir verboten hat, dich zu schlagen, sonst würdest Du jetzt eine Ohrfeige bekommen.‘ Ich sagte: ‚Mir hat sie das Schlagen nicht verboten‘ – und schlug die Frau Specht. Da meine Mutter meine Mutter war, musste sie lachen, als Frau Specht ihr empört über den Vorfall berichtete. Mein Hauptzorn gegen Frau Specht flammte auf, als einmal ein sehr merkwürdig aussehender Herr ganz in unserer Nähe auf einem Sessel im Volksgarten Platz genommen hatte. Auf dem Heimweg erst sagte sie mir, dass dies Herr Peter Altenberg gewesen war, und ich wütete, weil sie mir’s nicht gleich gesagt hatte, denn dann hätte ich ihn ja viel genauer betrachtet.“27 Erstaunlich für einen Zehnjährigen an der Schwelle zum Gymnasium, dass er damals schon wusste, welche Bedeutung Peter Altenberg in Wien hatte.

Auch wenn er es wollte, konnte Hans Weigel der Volksschule nicht dankbar sein, denn trotz „Handfertigkeitsunterricht“ blieben seine Hände ohne Fertigkeit, er, der Musik auch später über alles liebte, lernte nicht singen, nicht zeichnen. Diese Schule besuchten bürgerliche Kinder, sodass er nie das Wienerische wirklich erlernte. Er empfand das später als arges Manko und seufzte in seiner Autobiografie: „Komisch, dass eine sozialdemokratische Schule mir das angetan hat.“28

Jedoch hatte Weigel etwas wesentlich Wichtigeres in den ersten Jahren seines Lebens mitbekommen. Der Komponist und Musikpädagoge Herbert Zipper erzählte in einem Interview von der großartigen Erziehung, die er – um vier Jahre älter als Weigel – ebenfalls erhalten hatte: Er und seine Geschwister waren so wie Hans Weigel, mit dem er in den Dreißigerjahren an den Wiener Kleinkunstbühnen zusammenarbeitete, in einem jüdischen Haushalt Jahre vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen. In seinem Elternhaus wurde Kunst, vor allem Musik – ähnlich wie in Hans Weigels Familie – hochgehalten. „Diese Erziehung“, sagte er in einem Interview im Oktober 1989, „hat uns geholfen, all die Tragik, alle diese Schwierigkeiten, alle diese entsetzlichen Dinge, die wir [als Juden im KZ und als Emigranten] mitgemacht haben, mit Leichtigkeit zu überwinden. Weil uns vom ersten Tag an ein Vorbild gegeben wurde, was wirklich wichtig ist. Ich bin überzeugt, dass alle, die in der ganz frühen Kindheit das Privileg einer großartigen Erziehung hatten, viel besser mit dem Leben fertig werden als die anderen.“29 Diese Ansicht trifft ebenso auf Hans Weigel zu, denn auch er genoss – im selben Milieu wie Zipper aufgewachsen – dieses „Privileg einer großartigen Erziehung“ in der ganz frühen Kindheit.

Die vier Volksschuljahre haben Hans Weigel jedoch nicht so „wehgetan“ wie die folgenden acht Gymnasialjahre, die er als verlorene Zeit – für ihn ein Trauma – betrachtete. Zudem lernte er in dieser Volksschule seinen lebenslangen Freund Gerhart Pisk kennen, der später Medizin studierte, sich in Amerika, wohin er emigrierte, Piers nannte und ein prominenter Psychoanalytiker wurde.

Hans Weigel

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