Читать книгу Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch - Страница 10

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4. Kapitel

Die Wohnung lag an einer viel befahrenen Straße, die von alten Bäumen gesäumt war. Ein Gewitter kam auf und es begann zu regnen. Alina setzte sich ans Fenster, um wieder und wieder den Brief ihrer Mutter zu lesen. Blitze zuckten und Donner grollten. Doch sie nahm es nicht wahr. Abwesend starrte sie hinaus in die Welt und fühlte sich unendlich einsam. Es war das Gefühl, hilflos zurückgelassen zu sein, in einer fremden Welt. Mit beiden Händen drückte sie die Kette an sich, als würde sie so den Herzschlag ihrer Mutter spüren.

Es schien ihr, als sei da noch ein Quäntchen Leben in dem roten Stein, der wie ein Tropfen Blut aussah. Sie hatte ihn auf ihrer Brust getragen – dort, wo das Herz seinen Platz hat. Es dauerte lange, ehe sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Sie war wütend auf ihren Großvater.

Warum hatte er ihr den Brief vorenthalten? Sie war jetzt einundzwanzig und ihr schien es so, als hätte er Jahre ihres Lebens gestohlen. Alina verstand es nicht. Nun konnte sie ihn nicht mehr fragen. Er war tot.

Zwar hatte Jadwiga ihr gesagt, dass er Unterlagen von ihr hatte. Doch warum hat sie nicht stärker darauf gedrungen, dass er sie herausgab?

Sofia kam zu ihr ins Zimmer. Ohne ein Wort nahm sie Alina in den Arm.

„Ist ja gut. Wir trinken jetzt einen Tee! Vielleicht findet sich auch noch ein Gläschen Likör.“

Alina ging ins Bad und wusch sich das Gesicht, um die Spuren ihrer Tränen zu beseitigen.

Als sie wieder herauskam, schaute Adam sie mitfühlend an.

„Alles klar?“

In der Küche war kein Tee zu finden und den Schnaps ihres Großvaters wollte sie nicht.

„Wir könnten ja in das Café gehen. Vielleicht haben sie ein paar Krakauer. Ich habe Hunger. Seit 06: 00 Uhr morgens habe ich nichts mehr gegessen.“

Adam zeigte auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Sie verließen die Wohnung. Aufräumen würde sie später. Das Kuvert ihrer Mutter und den Brief des Rechtsanwaltes nahm sie mit.

Die Luft war nach dem Gewitter herrlich klar. Adam hatte wohl mit Sicherheit gewusst, dass es hier Krakauer gab, denn er ging selbstbewusst zur Theke.

„Möchtet ihr auch welche?“

Alina wollte ablehnen. Sofia sagte: „Kind, du musst was essen!“

Sie gab Adam ein Zeichen. Alinas Aufregung legte sich. Sie holte den Brief ihrer Mutter aus der Tasche und gab ihn Sofia. Sie zog die Kette aus dem Ausschnitt und zeigte sie stolz. Die beiden Frauen sahen sich an. Dann umarmten sie sich. Ein kleines Lächeln huschte über Alinas Gesicht.

Adam kam zum Tisch und bewunderte das Schmuckstück.

„Ein hübsches Teil.“

„Sie ist von meiner Mutter.“

Nach einigen Minuten servierte die Kellnerin die Würstchen und Kaffee. Sie zögerte etwas und sah Alina an.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

Alina nickte nur.

„Sie sind doch aus der Nummer 32. Früher waren sie manchmal mit Jadwiga hier und haben rote Brause getrunken. Es tut mir leid, was da mit ihr passiert ist. So etwas wünscht man niemanden. Ist der Mörder gefunden? Es stand bisher nichts in der Zeitung.“

Statt Alina antwortete Adam:

„Nein, wir haben ihn noch nicht. Aber er wird uns nicht entgehen. Haben Sie irgendwelche Hinweise, die uns helfen könnten? Wir suchen auch doch den Einbrecher, der meinen Kollegen niedergeschlagen hat.“

„Nein, ich wurde schon befragt. Leider konnte ich nicht helfen.“

Nach einer Pause sagte sie dann: „Worüber ich mich aber gewundert habe, ist, dass Ihr Kollege den Einbrecher nicht gesehen hat.“

„Welcher Kollege?“, fragte Krawczyk erstaunt.

„An dem Tag hat er die ganze Zeit das Haus beobachtet.“

„Warum soll es ein Kollege von mir gewesen sein?“

„Na, dann kommen Sie doch mal mit!“

Die Frau führte ihn an einen Zweiertisch.

„Jetzt setzen Sie sich mal hier her!“

Adam tat es.

„Was stellen Sie fest?“

„Das Fenster zeigt genau in die Richtung des Hauses Nr. 32.“

„Und was merken Sie noch?“

„Ich merke nichts.“

„Riecht es nicht aufdringlich nach WC?“

„Stimmt.“

„Normalerweise bleibt dieser Tisch immer leer. Nur wenn es voll ist, sitzt hier jemand. Weil man nur von hier aus die Nummer 32 sehen kann, nahm ich an, dass der Mann das Haus beobachten sollte.“

Krawczyk testete es. Es stimmte.

„Warum haben Sie das nicht meinen Kollegen gesagt? Die haben doch alle umliegenden Häuser abgeklappert.“

Die Frau stellte sich selbstbewusst vor ihm hin.

„Man hat mich nicht danach gefragt. Die wollten nur wissen, ob ich jemanden gesehen habe, der aus der 32 geflüchtet ist. Und ich konnte natürlich nichts sehen.“

„Wie lange war der Mann hier?“

„Das kann ich nicht sagen. Mit Sicherheit war er nicht mehr da, als der Rettungswagen kam, denn da bin ich vor die Tür gegangen.“

Adam wurde mit einmal rot vor Aufregung.

„Können Sie mir sagen, wie der Mann aussah? Das ist jetzt wichtig.“

„Klar. Er war groß und ausgesprochen fett. Er hatte einem Anzug an. Sonst hätte ich vermutet, dass er Fleischer oder so was ist.“

„Ich habe eine Bitte. Würden Sie mich in der Dienststelle aufsuchen, damit wir eine Zeichnung anfertigen?“

„Klar. Man hilft ja gern. War das etwa der Mörder?“

„Warten Sie einen Moment, ich rufe meinen Kollegen an. Der kommt gleich vorbei und macht hier das Phantombild. Haben Sie ein Telefon?“

Die Kellnerin wies auf den Tresen.

Die beiden Frauen saßen wie versteinert auf ihren Stühlen. Krawczyk ließ sie nach Hause fahren. Janek wartete schon.

„Was ist denn los?“

Seine Mutter sagte: „Wir waren mit Adam in der Wohnung und danach in dem Café auf der anderen Straßenseite. Vielleicht hat die Kellnerin den Mörder gesehen.“

Andrzej stand auf und wollte los. Alina hielt ihn fest.

„Lass Adam seine Arbeit machen. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.“

„Aber ich wollte nur …“

Sie zog ihn zu sich heran. „Dein Platz ist jetzt hier.“

„Hast du eigentlich etwas im Panzerschrank gefunden?“

„Ja. Auch wenn der Inhalt nicht alle meine Fragen beantwortet.“

Sie griff zur Kette und spielte mit dem Stein. Dann gab sie Andrzej den Brief ihrer Mutter und zeigte den Brief des Rechtsanwalts.

Er überlegte einen Augenblick, dann fragte er: „Kommen dir die Namen oder die Adressen bekannt vor?“

„Nach Deutschland habe ich keine Verbindung und bei Graudenz fällt mir nur ein, dass ich dort geboren wurde. Meine Mutter hatte im Buchladen ihres Großvaters gearbeitet. Das hat mir Jadwiga erzählt. An die Stadt kann ich mich aber nicht erinnern. Ich war zu klein.“

„Kannst du etwas mit dem Brief vom Rechtsanwalt anfangen?“

„Ich habe keine Ahnung. Jadwiga wusste nicht einmal, dass er von einem Anwalt ist. Ich werde ihn aufsuchen. Es kann nichts Schlimmes sein.“

„Und willst du auch nach Deutschland fahren?“

„Ich weiß nicht. Zuerst werde ich Frau Michalska in Graudenz besuchen.“

Adam Krawczyk ließ, mithilfe der Phantomzeichnung, die Leute in der Umgebung der 32 befragen. Außerdem wurden Händler aufgesucht, die am Feiertag einen Stand in der Ulica Grodzka hatten. Sie stießen auf einen Künstler, der sich an einen großen dicken Mann erinnern konnte, weil er ihm ungewöhnliches Trinkgeld in den Hut geworfen hatte. Es war eine 10-Zloty-Gedenkmünze, die noch ganz blank war.

Seine Beschreibung von dem Mann war allerdings ungenau, weil er erst auf ihn geachtet hatte, als er sich schon umgedreht hatte und gegangen war. Er meinte aber, dass er groß und dick war. Die Ermittler sicherten die Münze. Teilabdrücke des Zeigefingers stimmten mit dem Abdruck auf Jadwigas Tasche überein.

Die Hotels in der Innenstadt wurden von den Ermittlern abgeklappert. Doch niemand erinnerte sich an den Mann. So wurde vermutet, dass er von außerhalb gekommen und nur an den Tattagen in der Stadt war. Krawczyk wollte eine öffentliche Fahndung in der Zeitung veröffentlichen, doch das wurde vom Chef mit der Begründung abgelehnt, dass die Bevölkerung nicht verunsichert werden sollte. Der „dicke Mann“, wie ihn die Ermittler nannten, blieb verschwunden.

Obwohl er noch krankgeschrieben war, ging Andrzej zur Dienststelle. Er bat seinen Chef, die Papiere von Jadwiga noch einmal zu sichten. Mit dem Hinweis: ‚Sie geben ja sonst ohnehin keine Ruhe!‘, durfte er ausnahmsweise die Unterlagen mit nach Hause nehmen.

Auch wenn Jadwigas Namenslisten nichts ergeben hatten, neigte Mazur dazu, dass die Lösung in der Vergangenheit lag, da die Aktivitäten des Opfers in der Gegenwart überschaubar waren. Sie ging täglich in die Bibliothek, traf sich ab und zu mit Alina und machte sonst nur die üblichen Gänge zum Supermarkt. Wie sollte sie in dem unauffälligen Umfeld ihren Mörder getroffen haben und woher sollte dieser Hass gekommen sein? Es sei denn, es wäre ein Psychopath.

Als Mazur seinen Dienst wiederaufnehmen durfte, beauftragte er eine Recherche in den einschlägigen Archiven zur Verhaftung Jadwigas und ihre Befreiung im Januar 1945.

Nach zwei Wochen erhielt er eine dicke Akte. Sie bestand aus übersetzten Protokollen der Gestapo. Sie bestätigten die bisher bekannten Fakten. Jadwiga wurde im Zusammenhang mit Kontakten zur Untergrundarmee inhaftiert. Man fand einige antideutsche Flugblätter. Auch Hanka Wrobel wurde genannt, die von den Gestapoleuten jedoch abfällig mit „Beifang“ bezeichnet wurde, da sie zufällig bei der Festnahme anwesend war. Die beteiligten Gestapobeamten waren nach der Befreiung der Stadt von der Roten Armee festgenommen und erschossen worden.

Ein Dokument belegte den Aufenthalt Jadwigas in Auschwitz. Sie hatte darüber der Hauptkommission zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in Polen berichtet. Ferner hatte sie Anfragen zum Verbleib eines jüdischen Häftlings mit dem Namen Zygmunt Rosinski gestellt.

Mazur fragte an der Universität nach, ob ein Zygmunt Rosinski vor 1939 immatrikuliert war. Er fand sich in den Listen der Fakultät für Geschichte wieder. In den Fahndungslisten der Gestapo tauchte er als ‚flüchtiger Jude‘ auf. Die Angaben deckten sich mit der Erzählung von Alina. In den handschriftlichen Namenslisten aus Jadwigas Wohnung wurde er auch gefunden. Sein Name war mit einem Kreuz, dem Todesdatum 31.11.1944 und Oranienburg bei Berlin versehen worden. Andrzej erzählte Alina von dem Fund. Ihr fiel noch ein, dass Jadwiga 1965 mit einer Delegation des Internationalen Auschwitz Komitees in der Gedenkstätte vom KZ Sachsenhausen war.

Die Informationen waren für Alina interessant, doch im Mordfall halfen sie nicht weiter. Effektiv gab es lediglich die Fingerabdrücke sowie das Phantombild vom „dicken Mann“. Angesichts des großen Aufwands war das Ergebnis eher ernüchternd. Sein Chef stoppte die Suche in den Archiven. Stattdessen wurden Anfragen zu der fehlenden Kette und den Fingerabdrücken ausgeweitet. Das bedeutete mehr oder weniger, dass man auf einen Zufallsfund wartete.

Der dicke Mann

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