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5. Kapitel

Alina hatte sich an den Gedanken gewöhnt, in die Wohnung zu ziehen. Sofia half ihr, das große Chaos zu beseitigen. Nachdem sie das Zimmer ihres Großvaters neu tapeziert, die Kriegsutensilien an das örtliche Museum abgegeben und kitschige Bilder gegen moderne Plakate getauscht hatte, wurde es für sie akzeptabel. Adam hatte dafür gesorgt, dass ein neues Sicherheitsschloss in die Wohnungstür eingebaut wurde. In der ersten Nacht hatte sie trotzdem überall das Licht angelassen, um Einbrecher abzuschrecken. Sie bat Barbara, eine Mitbewohnerin aus dem Studentenwohnheim, für einige Zeit bei ihr zu wohnen. Andrzej besuchte sie so oft wie möglich und blieb manchmal auch über Nacht.

Zwischenzeitlich war Alina bei Dr. Watzlav gewesen. Der Anwalt hatte ihr mitgeteilt, dass er mehrfach mit ihrem Großvater gesprochen hatte. Er hätte einen Brief aus Israel, den er Alina persönlich übergeben müsse. Herr Klimek war aber sehr ungehalten und hatte ihn mit dem Hinweis hinausgeworfen, dass seine Familie nichts mit Juden zu tun haben wolle. Daher hatte er ein Einschreiben geschickt und vergeblich auf eine Reaktion gewartet. So überreichte er ihr den Brief. „Alina Klimek“ stand groß und breit auf dem Umschlag. Da war kein Irrtum möglich.

Das Kuvert enthielt ein amtlich aussehendes Schreiben mit Anlagen. Es war in Englisch verfasst. Doch der eigentliche Brief war Hebräisch und daher für sie unlesbar.

Sie besuchte Andrzej in seinem Büro.

„Ich habe keine Verwandten in England oder in Israel.“

Er packte alles in eine große Tüte und sagte: „Ich kümmere mich darum.“

Sicherheitshalber brachte er die Unterlagen zu einem amtlichen Dolmetscher. Nach wenigen Tagen hielt er die Übersetzung in den Händen. Sie warf mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. In Israel sei ein Victor Rubin gestorben. Ein englisches Rechtsanwaltsbüro war beauftragt worden, in einer Erbschaftssache nach Alina Klimek zu suchen, um ihr einige Gegenstände und etwas Geld zu übergeben. Man hatte mehrere polnische Adressen geprüft und hoffte nun, dass sie die gesuchte Person sei. Um die notwendigen Schritte einzuleiten, benötige man aber eine notarielle Bestätigung ihrer Identität.

Andrej sah sich die Adresse näher an: Dover in Großbritannien. Dann fiel ihm ein, dass eine der Postkarten eine Ansicht der Kreidefelsen der Stadt zeigte. Doch damit war er keinen Schritt weitergekommen. Er veranlasste die Ausfertigung einer amtlichen Identitätsbescheinigung.

Alina schickte die Unterlagen über das Rechtsanwaltsbüro an die englische Adresse. Bereits nach einer Woche meldete sich Dr. Watzlav bei ihr. Er übergab ihr ein Päckchen.

„Bitte lesen Sie zunächst den Brief. Wenn Sie das Erbe von Victor Rubin annehmen wollen, müssen Sie das beiliegende Schreiben unterzeichnen. Ich bestätige es dann notariell.“

„Verbinden sich damit für mich irgendwelche Verpflichtungen?“

„Nein. Sie erhalten einige Briefe, Gegenstände und Fotos aus seinem Besitz. Außerdem sind sie erbberechtigt an 10.000 englische Pfund aus dem Vermögen des Erblassers. Wenn Sie das Erbe ausschlagen, wird es unter den anderen Erben aufgeteilt.“

Nach der Unterzeichnung einer Quittung erhielt sie ein kleines Päckchen. In ihm fand sie ein Bild mit drei Jugendlichen, auf dem sie unschwer ihre Mutter erkannte. Sie sah aus wie sie.

Der Brief war kurz:

„Shalom Alina!

Ich habe Deine Mutter in Graudenz kennengelernt. Sie war mit meinem Neffen befreundet, der leider ermordet wurde. Sie hatte immer vor, die Welt zu bereisen.

Im letzten Jahr wollte ich sie besuchen und fand nur ihren Vater vor, der mir über ihr Schicksal berichtete. Das machte mich sehr traurig. Evas Freund, ein Deutscher, hatte mir vor einigen Jahren eine große Freude gemacht. Leider konnte ich ihn nicht finden. Vielleicht hast Du Glück und kannst Kontakt mit ihm aufnehmen. Er wird Dir sicherlich viel über Eva berichten können, denn er hat sie sehr geliebt.

Der Krieg hat vieles zerstört. Damit meine ich nicht nur die Häuser, sondern vor allem die Liebe und Freundschaft zwischen den Menschen. Da mein Leben zu Ende geht, möchte ich Dir eine kleine finanzielle Hilfe geben, um jene Orte aufzusuchen, die Deine Mutter nicht mehr besuchen konnte.

Die Fotokopie ist ein Musikstück, das mein Neffe komponiert hat. Der Freund Deiner Mutter hatte es mir überlassen. Das Original liegt in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Auf dem Bild siehst Du links meinen Neffen, Salomon Rubin, mit Deiner Mutter und Ihrem deutschen Freund, dessen Namen ich leider vergessen habe.

Victor Rubin, Jerusalem, den 12. Mai 1967“

Wie bereits im ersten Brief lagen einige hebräische Dokumente bei. Das beschriebene Notenblatt sah schmutzig und abgerissen aus. Nur noch schwach waren die Noten erkennbar. Komponist war ein Salomon Rubin. Alina hatte den Namen noch nie gehört.

Für Alina waren es Signale aus einer fremden Welt, die sie nicht verstand. Ihr Großvater hielt den Brief ihrer Mutter zurück und verschwieg den Besuch ihres Bekannten. Es tauchten Namen auf, die sie noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Sie wusste, dass er Vorbehalte gegenüber Juden hatte. Seinen Hass auf Deutsche verstand sie. Doch was hatte das mit ihr zu tun? Der Krieg war schon 20 Jahre vorbei. Alles hatte sich geändert. Sie gab Andrzej die Unterlagen. Er wollte die hebräischen Schriftstücke übersetzen lassen.

Jolanda Michalska aus Graudenz hatte geschrieben, dass sie sich über einen Besuch von Alina freuen würde.

Auch von Martin Bauer kam Post. Der Brief war im besten Polnisch verfasst. Er schickte gleich eine „Einladung zur Vorlage bei den polnischen Behörden“ mit, die für einen Besuch in der DDR erforderlich war. Offensichtlich kannte er sich mit den Gegebenheiten gut aus. Mazur kam der Deutsche verdächtig vor. Vielleicht stand er mit dem Tod von Jadwiga Klimek im Zusammenhang. Doch seine Bedenken trafen bei Alina auf taube Ohren. „Er war ein Freund meiner Mutter. Warum sollte er Jadwiga töten?“

Mazur fragte seinen Chef, ob er Alina nach Frankfurt (Oder) begleiten dürfte, und bekam eine Absage. Ermittlungen im Ausland wären nur in Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden sowie über das Innenministerium zulässig. Außerdem bestanden keine Verdachtsgründe gegenüber Martin Bauer.

Andrzej hatte Angst, dass seiner Freundin etwas passieren könnte. Doch sie ließ sich nicht davon abhalten. Die Chance, mehr von ihrer Mutter zu erfahren, wollte sie nicht verstreichen lassen.

Er brachte sie zum Bahnhof und bedauerte, dass er seinem Chef überhaupt etwas gesagt hatte. Es hätte sicherlich irgendeine Möglichkeit gegeben, sie zu begleiten. Obwohl sie nur über das Wochenende verreisen wollte, verabschiedete er sie so, als ob sie ihn für eine lange Zeit verlassen würde. Frankfurt (Oder) lag zwar direkt an der Grenze zu Polen, doch der Zug würde für die Strecke fast zehn Stunden benötigen.

Der dicke Mann

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