Читать книгу Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch - Страница 9

Оглавление

3. Kapitel

In der Lobby eines Hotels sah ein dicker Mann die lokalen und überregionalen Zeitungen durch. Seine Unterkunft war ihm zu primitiv, daher hatte er sich hierher verzogen, um zu frühstücken. Wohlwollend stellte er fest, dass die Presse es nicht für nötig gehalten hat, sein Bild zu drucken. In einem der Blätter fand er eine Todesanzeige: „Unvergessen: Jadwiga Klimek und Tadeusz Klimek“. Es folgten die Lebensdaten. Als Hinterbliebene war lediglich „Alina Klimek“ aufgeführt. Beisetzungstermin war der kommende Dienstag.

Er brauchte Klarheit. Wenn er nicht für die nächsten Jahre in Angst und Schrecken leben wollte, musste er die Chance nutzen. Der Einbruch in die Wohnung von Jadwiga hatte kaum etwas gebracht. Ein altes Foto, das Jadwiga mit einem Mädchen zeigte, war alles. Es war dumm, sich diesem Risiko auszusetzen. Wäre der Polizist nicht allein gewesen, säße er jetzt im Gefängnis. Der Besuch der Beisetzung erschien ihm ungefährlich. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand kannte.

Wenn Eva noch leben würde, hätte man sie in der Anzeige genannt. Die Frau, die er als Eva wahrgenommen hatte, könnte deren Tochter sein. Sie hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr. Doch was wusste sie? Die letzte Sicherheit fehlte ihm.

Er hoffte, dass bei der Totenfeier über Eva gesprochen wurde, da sie ja immerhin die Tochter von Klimek war. Danach würde er sich beruhigt in den Zug setzen oder weitere Schritte überlegen.

Er öffnete die Aktentasche. Seine Aufgabe in Krakau hatte er vollständig erfüllt. Die Liste war überraschend lang geworden. Selten hatte er sich seit dem Krieg so wohlgefühlt. Der Tod Jadwigas war nur eine Episode, die er bald vergessen würde. Viel wichtiger waren die Ergebnisse seiner Recherchen. Die Auftraggeber würde zufrieden sein und er den Lohn dafür einstreichen.

Der Mann trank den Rest Kaffee aus und zahlte.

In der Kirche hatte man die beiden Särge nebeneinander aufgestellt. Große Fotos zeigten die Verschiedenen. Auf dem Bild von Tadeusz Klimek war er in Offiziersuniform mit vielen Orden zu sehen. Jadwigas Foto war eher unscheinbar. In einem Sommerkleid sah sie freundlich auf die Trauergäste herab.

Wie verabredet, saßen links Bekannte von Alinas Großvater. Viele von ihnen waren in Militäruniform mit Orden erschienen. Auf der rechten Seite hatten Nachbarn, Bekannte und ehemalige Arbeitskollegen von Jadwiga Platz genommen. Alina hatte sich in die erste Reihe gesetzt. Sie hatte Andrzej und Sofia gebeten, sie zu begleiten.

Mazur hatte sich extra bei seinem Chef die Genehmigung geben lassen. Dieser hatte damit kein Problem, da er bis auf Weiteres von dem Fall abgezogen war. Allerdings hatte er Krawczyk abgestellt, um auf dem Friedhof ein paar Bilder zu machen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Mörder bei der Beisetzung sehen lassen. Außerdem dümpelte der Fall vor sich hin. Nachdem klar war, dass Tadeusz Klimek als Täter nicht mehr infrage kam, blieben zwar die Nachfragen aus Warschau aus, doch ein offener Mordfall war ein Fleck auf seiner weißen Weste. Spätestens, wenn die nächste Beförderung anstand, würde er stören.

Im Vorfeld der Beisetzung hatte sich bei Alina ein Offizier von der Armee gemeldet, um die Zeremonie zu besprechen. Sie wollte erst ablehnen, stimmte dann aber doch zu. Der Offizier hatte darauf hingewiesen, dass sie einem Weltkriegshelden zustehe und die Beerdigungskosten anteilig übernommen würden. Der Kompromiss war, dass er auf eine Rede verzichtete, aber am Grab die üblichen militärische Gepflogenheiten erfüllt würden.

Nach einigem Hin und Her hatte sie sich mit dem Offizier und dem Pfarrer auf eine neutrale Totenrede geeinigt. Sie hatte dann selbst die wichtigsten Lebensdaten zusammengetragen und dem Pfarrer übergeben. Andrzej hatte dafür gesorgt, dass sie schnell den Erbschein bekam, doch war ihr bisher nicht klar, wie viel Geld überhaupt vorhanden war. Die Bank hatte die Konten für sie noch nicht freigegeben. Das Guthaben ihres eigenen Sparbuchs und etwas Bargeld, das bei Jadwiga gefunden wurde, deckten gerade so die Unkosten.

Die ersten Orgeltöne erklangen und die Trauergäste erhoben sich. Das Musikstück war schwermütig und ergreifend. Alinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie suchte ihr Taschentuch. Mazur hatte es gemerkt und ihr seines gereicht. Sie nahm es dankbar und schaute zu ihm auf. Er nickte ihr kurz zu. Sie zog ihn an sich. Der letzte Ton verklang und die Trauernden setzten sich.

Der Pfarrer zog ein trauriges Gesicht. Es schien wie eingeübt, denn er kannte die Verstorbenen nicht. Der Lebenslauf hatte nichts mit der Wahrheit zu tun. Jeder wusste es und jeder akzeptierte es. Man soll die Toten ruhen lassen.

Alina hörte nicht auf den Inhalt der Worte. Kindheitserinnerungen vermischten sich mit den Ereignissen der letzten Tage. Wortfetzen und Bilder verschwammen.

Die Orgel holte sie in die Wirklichkeit zurück. Die Zeremonie ging zu Ende. Auf ein Zeichen des Pfarrers erhoben sich die Anwesenden. Männer mit weißen Handschuhen hoben die Särge auf und trugen sie zu dem am Ausgang bereitstehenden Transportwagen. Sie hakte sich bei Andrzej und Sofia ein. Beim Hinausgehen staunte sie, dass so viele Menschen gekommen waren. Ihre Tränen verhinderten aber, dass sie die Leute erkannte. So sah sie zum Boden und ließ sich bis zu den offenen Gräbern führen, an denen eine Gruppe Soldaten stand.

In der Kirche hatte in der letzten Reihe ein Mann gesessen, der die ganze Zeit den Kopf geneigt hielt. Man hätte meinen können, dass er tief in ein Gebet versunken war. Doch er war nur hier, um zu hören, ob Eva tot ist. Als in der Leichenrede davon gesprochen wurde, dass der Großvater seine Enkelin Alina aufgezogen hatte, weil deren Mutter verstorben war, huschte kaum merklich ein Lächeln über das Gesicht des Mannes. Als er die junge Frau im Vorbeigehen sah, war es für ihn eine tiefe Genugtuung. Er schloss sich dem Trauerzug nicht an, denn sein Zug fuhr in einer Stunde. Er bemerkte nicht, dass Adam Krawczyk ihn, wie alle anderen Trauergäste, fotografiert hatte.

Am Grab sprach der Pfarrer einige Worte. „Erde zu Erde. Staub zu Staub.“

Alina erschrak beim Ehrensalut der Soldaten. Die Särge wurden in die Gruben hinabgelassen und sie spürte die Endgültigkeit des Ereignisses. Ein sanfter Wind erfasste ihre Haare und sie wünschte sich, dass es irgendwo einen Platz gab, an dem Jadwiga Ruhe finden würde. An ihren Großvater dachte sie nicht. Sie lehnte sich an Mazur, der sie fest an sich drückte.

Sie warf Kies auf die Särge, hielt etwas inne und trat dann zur Seite. Alles so, wie man es ihr gesagt hatte. Die anderen Trauergäste taten es ihr gleich. Sie hatte in der Traueranzeige gebeten, von Beileidsbekundungen am Grab abzusehen. So gingen die Leute an ihr vorbei. Manche nickten ihr zu.

Am Ende kam eine alte Frau auf sie zu, die ihr bekannt vorkam.

„Alina. Es tut mir so leid!“

Sie umarmte Alina. Erst jetzt erkannte sie Hanka Wrobel, die auf sie aufgepasst hatte, als sie ein Kind war.

„Wir haben uns viel zu erzählen.“

Alina nickte ihr zu. Sprechen konnte sie nicht. Sofia hatte einen kleinen Imbiss vor Ort vorbereitet. Sie wollte nicht in die Wohnung der Klimeks kommen. Irgendwann würde sie es tun, aber auf keinen Fall heute. Hanka Wrobel erlöste sie aus der Spannung. Sie erzählte kleine Episoden aus Alinas Kindheit. Vieles kam ihr bekannt vor. Jedoch fehlten die Verbindungen. Doch Tropfen für Tropfen vermengten sie sich. Es schien, dass sich eine Schleuse öffnete, die die Vergangenheit festgehalten hatte. Puzzlestücke wurden zu einem Ganzem. Sie sah sich mit Jadwiga im Park, an der Weichsel und sogar die Erinnerung an Kleinigkeiten wurde wach. Sie sah ihr buntes Kleidchen, das sie zum Geburtstag bekommen hatte. Doch ein Bild fehlte: das ihrer Mutter.

Alina fragte: „Hast du eigentlich meine Mutter kennengelernt?“

Hanka Wrobel senkte den Kopf und antwortete: „Ja. Kurz vor Ende des Krieges habe ich sie getroffen.“

Sie machte eine Pause. Dann sah sie Alina an.

„Sie war so blutjung wie du und so lebenslustig. Wir hatten einen Büchertransport aus Graudenz zu begleiten. In der Mittagspause waren wir in dem Bücherladen, in dem sie gearbeitet hat. Jadwiga hatte etwas für sie mitgebracht. Wir waren nur ein paar Minuten da. Trotzdem habe ich bis heute das Bild vor mir, wie sie uns zum Abschied zuwinkte.“

Hankas Augen füllten sich mit Tränen.

„In Krakau wurden wir von der Gestapo festgenommen. Jadwiga kam nach Auschwitz. Ich wurde ein paar Tage später freigelassen. Hat sie dir denn davon nie etwas erzählt?“

„Nein. Jadwiga wollte mich nicht mit den alten Geschichten belasten. Immer wenn ich sie danach gefragt habe, fing sie an zu weinen.“

„Ich weiß ja auch nicht alles. Sie hatte mir nach dem Krieg erzählt, dass sie in Bücherkisten irgendwelche Dinge für die Untergrundarmee geschmuggelt hat. Vor 1939 hatte sie schon im Archiv der Universität gearbeitet. Sie konnte ausgezeichnet Deutsch und Lateinisch. Daher betreute sie historische Bestände aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Damals hatte sie sich in einen Doktoranden verguckt, der Bücher bei ihr auslieh. Ich glaube, er hieß Zygmunt Rosinski. Bevor es zwischen den beiden richtig ernst werden konnte, überfiel Deutschland Polen. Die Universität wurde geschlossen und viele Professoren verschwanden. Wir hatten große Angst. Doch die Bücherei blieb verschont, weil die Deutschen sie für ihre Zwecke nutzen wollten. Wir durften weiterarbeiten.

Im Laufe der Zeit bekamen wir viele Lieferungen historischer Bücher, die katalogisiert wurden. Sie stammten von enteigneten Juden und konfiszierten privaten Sammlungen. Manchmal fanden wir in den Büchern Stempel der Eigentümer, Widmungen und persönliche Briefe. Jadwiga sorgte sich sehr um ihren Zygmunt, der im Judenviertel ein Zimmer hatte. Zwar wusste sie nicht, ob er Jude war oder nur zufällig dort gewohnt hatte. Da sie ihn seit dem Einmarsch aber nicht mehr gesehen hatte und auch seine Kameraden verschwunden waren, hatte sie befürchtet, dass er sich im Getto befand.

Doch dann erhielt sie eine Buchbestellung, bei der sie sofort wusste, dass sie von ihm kam. Der Titel des angeblichen Buches beinhaltete in lateinischer Sprache den Zeitpunkt für ein Treffen mit ihrem Freund. Unter der Bestellung war eine unleserliche Unterschrift, die sie sofort erkannte. Sie lief in den Lesesaal, fand dort aber nur unseren Direktor vor. Sie fragte ihn, ob er jemanden gesehen hatte. Doch er erinnerte sich an keinen Besucher. Heute bin ich mir sicher, dass er ihr den Zettel hingelegt hatte, da er mit dem Untergrund zu tun hatte.

Jadwiga war zu ihrem alten Treffpunkt gegangen und hatte Zygmunt getroffen. Sie meinte, dass sie wahnsinnige Angst hatte, weil es Prämien für Denunzianten gab, die versteckte Juden gemeldet haben.“

„Was ist aus ihm geworden?“, fragte Alina.

„Sie haben sich bis zu ihrer Verhaftung regelmäßig getroffen. Was sie im Untergrund getan hat, hat sie mir nie erzählt. Ich weiß nur, dass sie nach dem Krieg nach ihrem Liebsten gesucht hat.“

Hanka Wrobel wischte ihre Tränen aus dem Gesicht.

„Als sie aus Auschwitz kam, stellte sie fest, dass in ihrer Wohnung fremde Leute wohnten. Sie hat bei mir gewohnt, bis ihr Bruder aus dem Krieg kam. Er war Offizier und drohte im Rathaus mit seinen Verbindungen. Dadurch erreichte er, dass er mit Jadwiga in ihre Wohnung ziehen konnte. Tadeusz hat im Bauamt gearbeitet. Jadwiga arbeitete wieder mit mir in der Bibliothek. Der Verlust ihres Liebsten hat bestimmt dazu geführt, dass sie keine neuen Beziehungen zu Männern eingegangen ist, obwohl sie durchaus Verehrer hatte. Irgendwie war immer eine gewisse Traurigkeit in ihr, die erst verflog, als du in die Obhut deines Großvaters gegeben wurdest. Na ja. Den Rest kennst du ja. Ich bedaure ehrlich, dass die Verbindung zu Jadwiga abgerissen ist, als ich Anfang der 50er-Jahre zu meinen Sohn nach Zakopane gezogen bin. Bis auf ein paar Karten zu den Feiertagen hatten wir keinen Kontakt. Ach, Alina. Die Zeit vergeht so schnell.“

Mazur hatte aufmerksam zugehört. Ihm ging etwas durch den Kopf.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

„Nur zu. Wenn ich helfen kann?“

Hanka musterte den jungen Mann, den Alina als ihren Freund vorgestellt hatte. „Wie Sie sicher gehört haben, ist Jadwiga ermordet worden. Könnte es sein, dass jemand wegen ihrer Arbeit im Untergrund einen solchen Hass auf sie hatte?“

Die alte Frau war etwas erstaunt. Alina reagierte auf ihr verwundertes Gesicht. „Andrzej ist bei der Miliz mit dem Fall betraut. Dabei haben wir uns kennengelernt.“

„Also, ich kann mir das nicht vorstellen. Wobei ich nicht alles weiß. Sie hatte nur einmal gesagt, dass sie froh ist, dass die Gestapoleute in Krakau alle entweder tot oder inhaftiert worden sind. Die einzige offene Frage war, wo ihr Liebster abgeblieben ist. Ihr fehlte nur der letzte Beweis, dass er tatsächlich gestorben ist. Sie klammerte sich an eine Chance, die mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde. Jetzt sind über zwanzig Jahre vergangen. Eichmann wurde von den Israelis in Argentinien gefunden und selbst in Westdeutschland haben Auschwitzprozesse stattgefunden. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass ein Verbrecher es wagt, nach Polen zu kommen, um eine Frau umzubringen, die sicher nicht an der Spitze des Untergrundes stand.“

Andrzej sagte: „Mittlerweile kommen viele Touristen. Ich werde es zumindest prüfen lassen.“

Hanka sah erst Mazur und dann Alina an.

„Es wäre schrecklich, wenn jetzt Nazis kommen und Leute ermorden. Hat es denn so etwas schon mal gegeben? Sie machen mir Angst.“

„Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Manchmal geht die Fantasie mit mir durch.“

In dem Moment tauchte seine Mutter mit einem Tablett Schnäpse auf. Ausreden ließ sie nicht zu. Und so stießen alle noch einmal an. Mazur nahm sich vor, seinen Gedanken prüfen zu lassen. Er dachte an die Namenslisten, die bei Jadwiga gefunden wurden. Vielleicht hatte der Täter beim Einbruch nach den Listen gesucht.

Alina brachte Hanka zum Bus. Sie versprachen sich, in Verbindung zu bleiben. Andrzej rief Krawczyk an und informierte ihn über seinen Verdacht.

Einige Stunden später stieg der dicke Mann aus dem Zug. Es hatte sich gelohnt, seinen Aufenthalt in Krakau um zwei Wochen zu verlängern. Er hatte einen wichtigen Auftrag erfüllt und eine existenzielle Gefahr gebannt. Fast euphorisch öffnete er die Wohnungstür. Er verprügelte seine Frau, die nach „Kölnisch Wasser 4711“ roch. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte sie umgebracht. Noch am selben Abend verließ sie ihn mit den Kindern.

Der Mann war mit sich zufrieden. Er legte Jadwigas Ausweis, die Schlüssel und die Kette in den Panzerschrank. Noch einige Zeit las er regelmäßig die Tybuna Ludu. Sein Bild wurde nicht veröffentlicht.

Mittlerweile waren vier Wochen vergangen. Alina fand langsam ihre innere Ruhe wieder. Zwar war Andrzej immer noch vom Dienst befreit, doch spürte sie, dass es ihn förmlich zur Arbeit drängte. Regelmäßig rief er bei seinen Kollegen an und fragte nach dem Stand der Ermittlungen. Doch trotz des großen Aufwandes hatten sich keine Verdachtsmomente ergeben. Die Namenslisten von Jadwiga erwiesen sich als Sackgasse. Alle Personen waren nachweislich tot. Der Abgleich der Fingerabdrücke blieb ohne Ergebnis. Alina machte sich Sorgen. Andrzej setzte sich zu sehr unter Druck. Sie verstand aber auch, dass er es für sie tat.

Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, mit ihm in die Wohnung zu gehen, um den Inhalt des Panzerschrankes durchzusehen, fürchtete aber, dass ihn der Tatort zu sehr aufregen würde. Nach einem Arztbesuch sprach sie den Mediziner deswegen an. Auch er warnte davor, da seine Psyche noch sehr labil war.

Sie hatte schon lange die Freigabe des Tatortes von der Polizei bekommen, doch fand sie nicht den Mut, die Wohnung zu betreten. Sofia erkannte das und schlug ihr vor, mitzukommen. Sicherheitshalber verabredeten sie sich mit Adam Krawczyk. Er versprach, das Haus und die Zimmer vorher ausgiebig zu überprüfen.

Die Siegel waren unversehrt. Nachdem er die Räume kontrolliert hatte, bat er die Frauen herein. Alina öffnete den Panzerschrank.

Adam zog sich in die Küche zurück und Sofia räumte Jadwigas Zimmer auf. Sie sah Alinas Aufregung an, vermied aber, darauf einzugehen. Letztendlich musste die junge Frau die Situation selbst meistern, um nicht von der Angst beherrscht zu werden.

Kapitel 4

Ich habe lange gezögert, diesen Weg zu gehen. Aber es gibt Dinge, die brennen unter den Nägeln. Ich will die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Auch wenn sie schmerzt.

Vor sechs Wochen wurde meine Großtante Jadwiga ermordet und gleich darauf starb Großvater. Sie hinterließen mir eine Wohnung mit Erinnerungen und viele offene Fragen. Leider hat mir Jadwiga nur wenig von meiner Mutter erzählt. Wollte sie mich wohl vor schmerzlichen Wahrheiten bewahren?

Mein Großvater, der große Kriegsheld, war an einer Leberzirrhose verstorben, ohne mit mir über seine Tochter zu sprechen. Erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass ich allein bin. Man sagt, dass sich eine neue Tür öffnet, wenn sich eine andere schließt. Ist Andrzej diese Tür? Ich wünsche es mir so sehr.

Nie hatte ich eine herzliche Verbindung zu meinem Großvater, auch wenn ich bis zum Abitur bei ihm gelebt habe. Für ihn war ich ein unnützes Übel, mit dem er sich notgedrungen abzugeben hatte. Dementsprechend verhielt er sich. Und nach dem Abitur sah er keinen Grund mehr, mich besonders gut zu behandeln. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass ich einen Beruf erlerne und dann ausziehe. Ein Studium bedeutete, dass ich ihm fünf weitere Jahre auf der Tasche liege. Ich war eine Nippes-Figur, die seine Pension unnütz verbrauchte.

Als ich es einmal wagte, einen Freund mitzubringen, beleidigte er ihn und warf ihn aus der Wohnung. Mich nannte er ein Flittchen, das genauso schamlos wäre wie meine Mutter. Er schrie, dass sie der Grund seines Unglücks sei und ich eine Ausgeburt des Satans. Mit ein paar persönlichen Sachen zog ich aus. Jadwiga versuchte alles, um mich wieder zurückzuholen, doch gelang es ihr nicht. Großvater wurde nur noch ärgerlicher und bedrohte sie.

„Alina ist ein Bastard und hat nichts mit mir zu tun.“

Er warf eine Schnapsflasche nach ihr, der sie nur mit Glück ausweichen konnte. Damit hatte er es sich mit ihr verscherzt. Ab diesem Zeitpunkt weigerte sie sich, irgendetwas für ihn zu tun. Selbst die Wäsche musste er von einer Aufwartefrau waschen lassen.

Wenn ich Jadwiga besuchte, sorgte sie dafür, dass er nicht da war, oder sie verschloss ihr Zimmer. Mein Großvater wurde vom Jugendamt zur Leistung von Unterhaltszahlungen verpflichtet. Für ihn gab es mich nur noch als Position auf seinen Kontoauszügen.

Jadwiga hingegen war für mich so etwas wie eine Ersatzmutter. Als ich einmal zu ihr ‚Mama‘ sagte, verbesserte sie mich aber sofort.

„Es gibt nur eine Mutter. Das darfst du nie vergessen.“

Trotzdem war sie der Anker in meinem Leben. Sie verkörperte alles, was ich mir unter einer Mutter vorstellte. Ich wollte so sein wie sie. Manchmal erzählte sie von ihr. Es waren sehr schöne Geschichten. Gelegentlich sah ich, dass sie danach weinte. Ich wusste nicht, warum, aber mir kamen dann auch die Tränen.

Mein Großvater hat kaum von ihr erzählt. Nicht einmal ein Bild zierte seinen Schreibtisch. Stattdessen prangte dort eine Büste von Stalin. Ich verstand das nicht. Ich fragte Jadwiga als Kind, ob meine Mutter hässlich war, weil wir kein Bild von ihr hatten. Sie versicherte mir, dass sie eine schöne Frau war, die es weit gebracht hätte, wenn sie nicht gestorben wäre. Dann meinte sie, dass ich kein Bild brauche. Es würde reichen, dass ich in den Spiegel schaue. Ich sei ihr genaues Abbild.

Aber jeder braucht eine Mutter, an die man sich anlehnen kann, wenn man krank ist oder einfach nur Sorgen hat. So malte ich mir ein Bild von ihr, das den Prinzessinnen in den Märchenbüchern sehr ähnlich war. Je älter ich wurde, desto öfter fragte ich Großvater nach meiner Mutter. Er wurde dann stets mürrisch und schüttete noch mehr Schnaps in sich herein. Antworten bekam ich nie. Schließlich hatte ich mich damit abgefunden.

Aber wenn er unterwegs war, suchte ich in allen Schränken und seinem Schreibtisch nach Hinweisen zu ihr. Ich fand aber nur Dokumente des Jugendamtes, die Großvater zum Erziehungsberechtigten erklärten – so wie man einen Gegenstand kauft und dafür eine Besitzurkunde erhält. Zu meiner Mutter waren nur der Name und das Geburtsdatum aufgeführt: Eva Klimek, geboren am 20.07.1923 in Owczarki. In der Zeile für den Namen des Vaters stand „unbekannt“. Es gab allerdings einen Panzerschrank, zu dem nur mein Großvater einen Schlüssel hatte. In den Träumen malte ich mir aus, dass ich ihn irgendwann öffne und darin viele Briefe und Fotos meiner Mutter finde. Sie würde aussehen wie die Filmstars aus Hollywood und an ihrer Seite hätte sie einen indischen Prinzen oder so etwas.

Seit mir Adam Krawczyk den Schlüssel für den Panzerschrank gegeben hatte, trug ich ihn bei mir. Die Angst hielt mich aber zurück, die Wohnung zu betreten und das Ungetüm zu öffnen. Zerplatzten jetzt meine Träume? Wahrheit kann auch wehtun.

Der Schüssel gleitet ins Schloss. Seine Drehung löst einen Mechanismus aus. Ich ziehe am Griff und höre, wie Luft in den Innenraum strömt.

Im oberen Fach liegt ein Brief eines Rechtsanwaltes aus Krakau. Er ist an mich adressiert und ungefähr ein halbes Jahr alt. In dem Schreiben wird um eine dringende Kontaktaufnahme gebeten. Ein Dr. Nikolai Watzlav erinnert an Besuche und bedauerte, mich nicht angetroffen zu haben. Das war bestimmt der Brief, von dem Jadwiga gesprochen hatte. Der Anwalt verweist darauf, dass er wegen der Schweigepflicht nur mit der Adressatin reden darf. Ich lege ihn beiseite.

Das mittlere Fach füllen Weltkriegsorden, Ehrenurkunden und irgendwelche Dokumente, wann und wo er gekämpft hatte, aus.

Auf einem Bilderalbum seiner Zeit als Offizier prangte der polnische Adler. Dann folgten Kaufbelege sowie Garantiescheine für Sachen, die schon längst ihren Geist aufgegeben hatten. Und endlich Bilder.

Nur mit Mühe erkenne ich Jadwiga, Großvater und eine Frau, von der ich annehme, dass es meine Großmutter ist. Andere Fotos zeigen unbekannte Menschen. Die Namen auf der Rückseite sagen mir nichts. Im letzten Fach liegt ein Karton mit der Aufschrift „Sonstiges“, der mich auch befürchten lässt, enttäuscht zu werden. Doch er verdeckt ein großes graues Kuvert.

Meine Hände zittern vor Aufregung, denn auf der Vorderseite steht: „Durch Alina Klimek an ihrem 16. Geburtstag zu öffnen.“

Ein Stempel verweist darauf, dass der Brief im Krankenhaus der Stadt Krakau am 18. August 1948 notariell versiegelt wurde. Der polnische Adler auf dem Wappen wirkt auf mich so, als hätte er die ganze Zeit den Umschlag bewacht.

Behutsam öffne ich den Brief. Einen Augenblick halte ich inne.

Ein amtliches Schreiben verweist darauf, dass die Gegenstände und Dokumente der verstorbenen Eva Klimek gehörten. Auf ihrem ausdrücklichen Wunsch wurden sie getrennt vom restlichen Nachlass in einem versiegelten Umschlag für ihre Tochter deponiert. Eine Kopie der Inventarliste wurde bei einem Notar hinterlegt.

Ich finde einen Stapel Ansichtskarten aus Deutschland, Norwegen, Frankreich, den USA und England. Die Texte sind in polnischer Sprache gehalten und an sich belanglos. Als Absender steht immer „Dein Liebster“. Meine Mutter wird mit „Liebste Eva“ angeredet. Die Empfängeradressen sind in Graudenz, Grudziądz oder Krakow. In einem schwarzen Samtbeutel finde ich eine silberne Kette mit einem roten Stein. Mein Herz schlägt bis zum Hals.

Ich öffne einen Briefumschlag, der an mich adressiert ist.

Liebe Alina,

heute ist Dein 16. Geburtstag. Ich hoffe, dass es Dir gut geht und Du dabei bist, Dir Deine Träume zu erfüllen. Vielleicht hast Du auch schon einen Freund, dann wünsch ich Dir, dass er immer lieb zu Dir ist. Leider ist es mir nicht vergönnt, Dich aufwachsen zu sehen. Vermutlich hast Du auch keine Erinnerung an mich, denn Du warst erst drei Jahre alt, als ich in die Klinik musste. Weil meine Krankheit zu ansteckend ist, durfte ich Dich nicht einmal zum Abschied in den Arm nehmen. Nur ein Blick durch eine Glasscheibe auf mein süßes Baby war mir vergönnt.

Ich hoffe, dass Dich Dein Großvater gut behandelt. Schließlich bist Du seine Enkelin. Du kannst Dir aber gewiss sein, dass ich immer bei Dir bin, egal wo ich nach meinem Tod auch sein werde. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob es einen Gott gibt, denn zu viel ist passiert. Doch sollte es doch einen geben, wünschte ich mir, dass er Dich vor allem Unglück beschützt und Du Dein Glück findest.

Wenn Dein Großvater schlimme Sachen über mich erzählt, vergiss sie einfach! Leider kann ich Dir nicht selbst erklären, wie es damals war. Als ich in Deinem Alter war, hatte ich die schönste Zeit meines Lebens. Das wird Dir sicher seltsam vorkommen. Schließlich hatte Deutschland Polen überfallen und es gab Leid und Elend. Aber ich durfte eine große Liebe erleben. Und ich hatte Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Wenn Du möchtest, kannst Du Dir die Geschichte erzählen lassen. Ich werde es nicht schaffen, sie aufzuschreiben.

Deshalb habe ich zwei Adressen beigelegt. Hoffentlich leben die Menschen noch, wenn Du dies liest. Martin Bauer war meine große Liebe. Du wirst vielleicht erschrecken, weil er ein Deutscher ist. Du kannst ihm aber vertrauen.

Mein Großvater hat immer gesagt, die Welt ist nicht schwarzweiß, sondern bunt. Wenn er zwischen seinen alten Büchern saß, setzte er mich gern auf den Schoß und zeigte mir Bilder aus fremden Ländern. Ich hatte immer Fernweh. Mit Martin wollte ich die Welt bereisen.

Die Kette und die Ansichtskarten gehören zu den wenigen Erinnerungsstücken, die ich von ihm habe. Ich habe Dir Fotos beigelegt, die den Krieg überlebt haben. Außerdem findest Du in dem gelben Umschlag einen Brief für ihn.

Bitte übergib ihn persönlich. Er soll Dir unsere Geschichte erzählen, weil ich es nicht mehr kann. Es bleibt Dir überlassen, über mich zu richten. Ich bin mir aber sicher, dass Du mich verstehen wirst. Ohne Gedanken an ihn hätte ich die schwere Zeit nicht überstanden. Er ist leider nicht Dein Vater.

Du bist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Gleich nach dem Krieg soll der Mann von den heranrückenden Truppen der Roten Armee erschossen worden sein. Daher belaste ich Dich auch nicht mit seinem Namen.

Dein Großvater hatte mich bedrängt, Dich in ein Heim zu geben. Aber wie hätte ich Dich weggeben können? Du bist doch mein Fleisch und Blut. Jadwiga hat ihn irgendwie überzeugt, dass er die Erziehungsberechtigung unterschreibt. Sie hat mir versprochen, dass sie immer für Dich sorgen wird. Das macht es mir etwas leichter, aus dem Leben zu scheiden. Grüße sie von mir. Ich bin ihr sehr dankbar.

Ein Gruß soll auch Deinem Großvater gelten. Sage ihm, dass ich ihm verziehen habe. Er weiß, worum es geht.

Die zweite Adresse ist von Jolanda Michalska. Sie hat mich in schweren Zeiten begleitet und hat noch einige Sachen von meinem Großvater, die ich immer einmal abholen wollte. Leider ist aber alles anders gekommen.

Ich liebe Dich.

Deine Mama,

Krakow, den 17. August 1948“

Auf einem Zettel stehen Namen und Adressen von zwei Menschen, von denen ich noch nie gehört habe: Jolanda Michalska aus Graudenz und Martin Bauer aus Frankfurt (Oder).

Langsam lege ich die Kette um den Hals und küsse den roten Glasstein. Danke, Mama!

Der dicke Mann

Подняться наверх