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Vorwort

Graudenz war bis zum Ende des Ersten Weltkrieg eine Stadt, in der überwiegend Deutsche lebten. Polen waren die Minderheit. Allerdings wurden sie von den Siegermächten nach dem Krieg dem neuen polnischen Staat zugeschlagen. Und aus der deutschen wurde eine polnische Stadt, in der auch vorrangig Polen wohnten. Die Deutschen wurden zur Minderheit. Aus Graudenz wurde Grudziądz.

Auch Straßen und Plätze bekamen neue Namen. Doch auch nachdem die Stadt umbenannt wurde, bezeichneten die Menschen sie aus Bequemlichkeit mit dem alten Namen. Denn die Burg stand immer noch am alten Platz und die Weichsel floss wie ehedem an der Stadt vorbei in Richtung Danzig, wo sie sich mit der Ostsee vereinigte. Sie kümmerte sich nicht darum, wer das Sagen hat oder welche Namen die Menschen sich für die Stadt ausdachten.

Ich weiß nicht, warum man die Stadt Graudenz genannt hat. Früher dachte ich, dass es an der Farbe der alten Gemäuer der Burg lag: grau – jene Schattierung zwischen weiß, der Farbe der Unschuld, und schwarz, der Farbe des Todes. Jene undefinierte Schattierung, die man gern für die Beschreibung trauriger Zeiten benutzt und Menschen ohne Eigenschaften anheftet. Farblose ohne Charakter. Den bisherigen Bewohner und den neuen Bürgern der Stadt war das egal. Menschen suchen sich den Platz zum Leben schließlich nicht nach dem Namen des Ortes aus.

Und überall, wo Menschen sind, gibt es Liebe. Selbst in den dunkelsten Zeiten werden Kinder gezeugt, weil Menschen Hoffnungen in sich tragen, die stärker sind als die Verzweiflung.

Die Nachgeborenen fragen irgendwann nach dem Leben ihrer Vorfahren und sind dazu verdammt, mit der Geschichte umzugehen, die sie nicht zu verantworten haben, aber deren Preis sie zahlen müssen. Wie hoch dieser ist, bestimmen die Eltern – denn sie haben es in der Hand, ihren Kindern eine Welt zu hinterlassen, die ohne Hass auskommt.

Die Burg steht immer noch da. Trutzig blickt sie auf die Menschen. Sie hat mit der Zeit einige Steine verloren, doch der Weichsel ist das egal. Sie fließt nach Norden und nimmt viele salzige Tränen mit. So wie vor 1000 Jahren.

Wolfgang Armin Strauch, 2020

Der dicke Mann

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