Читать книгу Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch - Страница 8

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2. Kapitel

Der Anruf kam um 02: 00 Uhr. Mühsam drehte sich Andrzej Mazur zur Seite, um das nervige Klingeln zu beenden. Der Diensthabende der Miliz meldete den Mord an einer älteren Frau. Der Tatort sei in der Innenstadt und bereits abgesichert. Gerichtsmediziner und Kriminaltechnik waren informiert.

Während er sich anzog, tauchte seine Mutter auf. Ihr feines Gehör hatte sie geweckt.

„Musst du los?“

„Ja. Pack mir bitte noch ein paar Brote ein! Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“

Er rasierte sich, um halbwegs zivilisiert zu wirken. Sein Hemd war frisch gebügelt und eine passende Krawatte hatte seine Mutter bereitgelegt. Statt das Jackett anzuziehen, nahm er die Lederjacke vom Haken. Auf dem Motorrad war sie praktischer. Im Dienstzimmer würde er sich umziehen.

Dann steckte er Brote und eine Thermoskanne in die Aktentasche. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich von ihr und verschwand im Hausflur. Von einer kleinen Erbschaft hatte er ein tschechisches Motorrad gekauft. Die „350er Jawa“ war weinrot. Chromteile spiegelten die Straßenbeleuchtung. Beim ersten Tritt sprang der Motor an. Kraftvoll vibrierte das Gefährt. Er drehte am Griff und ließ die Kupplung kommen. Die Maschine beschleunigte und zog den Fahrer in die Nacht.

Seine Kollegen hatten Mazur den Spitznamen „Jawa“ verpasst. Er wehrte sich nicht dagegen. Vielleicht war er sogar etwas stolz darauf. Ihn regte eher die Überheblichkeit einiger altgedienter Milizionäre auf, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren immer noch als Frischling ansahen. Dabei besaß er einen Hochschulabschluss und war bereits in bedeutende Fälle einbezogen worden. Dass er jetzt zu einem Mord gerufen wurde, war allerdings der Tatsache geschuldet, dass am Sonntag nach dem Feiertag viele Kollegen freihatten. Es war ihm recht. Mord ist Mord.

Der Tatort war leicht abzusichern, da die schmale Gasse lediglich zwei Zugänge hatte. Die Streife hatte einige Böcke der nahen Baustelle dazu genutzt. Zusätzlich standen Milizionäre auf beiden Seiten. Scheinwerfer beleuchteten den Tatort. Kriminaltechniker suchten alles nach Spuren ab. Angesichts des Schotterwegs, der unverputzten Hauswände und der Kletterpflanzen schien die Mühe aber sinnlos zu sein. Trotzdem prüften sie Zentimeter für Zentimeter. Der Gerichtsmediziner wartete bereits.

Das Opfer war eine ca. 50-jährige gepflegt wirkende Frau mit ausgesprochen stark ausgeprägten Würgemale am Hals. Weitere Verletzungen zeigten sich im Gesicht und am Oberkörper. Abgebrochene Fingernägel sowie Hämatome an Armen und Beinen wiesen darauf hin, dass sich das Opfer gewehrt hatte. Dr. Zeman schloss für den Moment ein Sexualdelikt aus. Er beugte sich über das Gesicht der Leiche.

„Riechen Sie das? Ich würde sagen, es ist ‚Kölnisch Wasser 4711‘.“

Auch Mazur vernahm den süßlichen Duft, doch mit Parfüm kannte er sich nicht aus.

Ein Krankenwagen stand am Straßenrand. Rettungshelfer kümmerten sich um einen Mann, der sichtbar nach Luft rang. Er hatte die tote Frau entdeckt.

Mazur ließ sich die Angaben zu Zeitpunkt und Fundort bestätigen. Da keine Papiere bei der Leiche gefunden wurden, bat er den Zeugen, einen Blick auf die Leiche zu werfen.

„Es ist Jadwiga Klimek aus der 32.“

Bei der Nummer 32 handelte es sich um ein dreigeschossiges altes Bürgerhaus mit einem kleinen Portal und einer riesigen Tür, die mit Elementen des Jugendstils umrahmt war. Das verschnörkelte Klingelbrett war aus Messing. Das Opfer wohnte in der zweiten Etage. Erst nach langem Klingeln öffnete sich ein Fenster. Ein angetrunkener Mann brüllte unverständliche Worte auf die Straße. Als Mazur trotzdem noch einmal klingelte, meldete sich jemand aus der Erdgeschoßwohnung.

„Klimek ist besoffen. Versuchen Sie es morgen Mittag. Vielleicht ist er dann wieder klar.“

Mazur ließ nicht locker und rief: „Wir sind von der Miliz und müssen Herrn Klimek unbedingt sprechen. Bitte öffnen Sie die Tür!“

Der Nachbar öffnete die Haustür. „Ist etwas passiert?“

Der Kriminalist sowie zwei uniformierte Milizionäre betraten das Haus.

„Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal gesehen?“

Der Nachbar zögerte.

„Ich weiß nicht. Vielleicht gestern Nachmittag.“

Nach langem Klopfen und Klingeln öffnete sich die Tür der Wohnung, in der Opfer gelebt hatte, einen Spalt.

„Was wollen Sie?“

Mazur zeigte seinen Ausweis. „Wir sind von der Miliz, Herr Klimek. Es geht um Ihre Schwester.“

Der Mann glotzte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er stank nach Alkohol und Urin. Sein Nachthemd war mit Erbrochenem bekleckert.

„Was soll das? Lasst mich in Ruhe, ihr Hunde!“

Ohne abzuwarten, schob sich Mazur an Klimek vorbei in die Wohnung.

„Wann haben Sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“

„Weiß ich nicht. Wenn sie nicht im Zimmer ist, ist sie nicht da.“

Er wies auf eine Tür. Sie war verschlossen. Klimek behauptete, keinen Schlüssel zu haben. Mit etwas Gewalt gelang es einem Milizionär, die Tür zu öffnen. Das Zimmer war sehr ordentlich. Ein Bücherregal dominierte den Raum. An den Wänden hingen einige Familienfotos. Mazur suchte nach Ausweisen oder sonstigen Papieren für eine Identifizierung. In einem Schubfach fand sich ein Betriebsausweis mit Lichtbild. Das Opfer war Jadwiga Klimek.

Eine Befragung ihres Bruders hatte keinen Sinn. Der Kriminalist legte eine Visitenkarte auf den Tisch, auf der er einen Termin für 13: 00 Uhr vermerkte.

Die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner hatten nichts Überraschendes zu berichten. So schrieb Mazur einen Kurzbericht für seinen Chef. Auf dem Deckblatt stand „Mordsache Jadwiga Klimek“.

Gegen acht Uhr wurde er zu seinem Chef gerufen, der ihn zum bisherigen Ermittlungsstand befragte. Angesichts der großen Brutalität vermutete Mazur eine Beziehungstat. Wäre es ein Raub, hätte der Täter die Tasche gegriffen und das Weite gesucht. Erdrosseln ist allerdings eine andere Kategorie: Man kommt dem Opfer sehr nah und es besteht immer die Gefahr, dass es um Hilfe ruft und sich massiv wehrt.

Der Täter war offensichtlich körperlich überlegen. Dafür sprachen die intensiven Würgemale. Die Hände hatten in der Haut große tiefblaue Spuren hinterlassen. Eine Sexualstraftat hatte der Gerichtsmediziner sicher ausgeschlossen. Wie erwartet, fanden sich am Tatort keine Fingerabdrücke oder Fußspuren.

„Kommt der Bruder des Opfers für die Tat infrage?“

„Auszuschließen ist es nicht. Er war volltrunken. Für 13: 00 Uhr ist eine Befragung geplant.“

Der Chef übertrug Mazur offiziell den Mordfall. Drei Leute standen ihm als Mordkommission zur Verfügung. Hinzu kamen Milizionäre, die für das Stadtviertel zuständig waren. Unter ihnen befand sich Adam Krawczyk, der bereits mit seinen Kollegen die Befragung der Nachbarn aufgenommen hatte. Da die Tote keine Tasche bei sich hatte und der Schlüssel unauffindbar war, suchten die Einsatzkräfte die Umgebung ab. Sonntag früh waren wenige Passanten unterwegs, daher sah Mazur gute Chancen für den Einsatz eines Fährtenhundes.

Die Befragung der Nachbarn ergab nur, dass Frau Klimek in der Bibliothek der Universität arbeitete. Für die meisten war sie die nette Schwester eines ehemaligen Offiziers, der ständig betrunken war.

Über die Universitätsleitung erhielt die Mordkommission Einsicht in die Personalakte. Jadwiga Klimek hatte bereits vor dem Krieg in der Bibliothek gearbeitet. Laut einer amtlichen Bescheinigung war sie von der Gestapo 1944 festgenommen worden. Sie gehörte zu den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach dem Krieg bekam sie ihre alte Arbeit in der Bibliothek wieder. Die Beurteilungen schilderten sie als fleißig, freundlich und zuvorkommend. Ursprünglich kam sie aus einem kleinen Ort bei Graudenz, lebte aber seit den 30er-Jahren in Krakau unter der gleichen Adresse. Die Wohnung hatte sie von einer Tante geerbt.

Zu ihrem Bruder Tadeusz Klimek fanden sich im Archiv der Miliz einige Einträge. Vor dem Krieg war er bei den Stadtverwaltungen in Graudenz und in Krakau tätig. 1939 wurde er zur polnischen Armee eingezogen. Nach der Niederlage Polens lebte er in der Sowjetunion. Über diese Zeit waren keine Unterlagen auffindbar. Ab 1943 gehörte er als Offizier zur 1. polnischen Armee. Unter Divisionsgeneral Stanisław Popławski nahm er an einigen Schlachten teil. Nach dem Krieg arbeitete er im Bauamt der Stadt Krakau, wurde aber aufgrund einer Kriegsverletzung 1963 invalidisiert. Ein Gesprächsprotokoll ließ darauf schließen, dass Alkoholismus der eigentliche Grund seiner Entlassung war.

In der Stadtverwaltung fand sich ein Beleg, wonach er Erziehungsberechtigter für seine Enkelin Alina Klimek war, die aber nicht mehr hier wohnte. Im Archiv der Miliz gab es zahlreiche Beschwerden wegen Ruhestörung. Mehrfach hatte er unter Alkohol Nachbarn beleidigt. Es kam zu Gewalttätigkeiten, in deren Ergebnis er zu Geldstrafen verurteilt wurde.

Gegen 10: 00 Uhr kam der Fährtenhund. Mazur setzte große Hoffnungen auf „Alex“. Der Hund nahm am Tatort die Spur auf, stoppte kurz an der Nr. 32, bewegte sich aber weiter. An einer Parkbank schnüffelte er am Papierkorb. Über einige Umwege landeten sie in die Nähe der Marienkirche am Marktplatz. Dort verlief sich die Spur. Um sicherzugehen, kehrte der Hundeführer an den Tatort zurück und führte ihn zur anderen Seite der Gasse. Von hier aus lief er erst in Richtung Wawel und wiederum zum Marktplatz. Am Café „Elena“ hielt er an.

Da nur eine Reinigungskraft im Café war, ließ Mazur den Geschäftsführer aus dem Bett holen und befragte ihn zu den Besuchern des vergangenen Abends.

„Gestern hatten wir volles Haus. Wegen des Feiertags waren sogar die Stühle an der Theke besetzt. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.“

Mazur zeigte ihm das Foto der Toten.

„Das ist Frau Klimek. Sie hat wie immer mit ihrer Enkelin am Zweiertisch gesessen.“

Mazur fragte erstaunt: „Sie können sich aber gut an sie erinnern?“

„Ja. Sie trifft sich alle 14 Tage mit dem Mädchen. Meistens essen sie ein Stück Wallnusstorte und trinken Kaffee. Gestern blieben sie nicht so lange wie üblich da. Circa 21: 45 Uhr sind sie gegangen. Außer bei der Bestellung habe ich mit ihr nicht gesprochen. Es tut mir leid. Sie war eine so nette Frau.“

Mazur ließ sich Namen von einigen Stammgästen geben.

Tadeusz Klimek stand ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Da er zum festgelegten Termin nicht kam, suchte ihn Mazur am späten Nachmittag in seiner Wohnung auf. Als er öffnete, wies der Kriminalist den richterlichen Durchsuchungsbefehl für das Zimmer seiner Schwester vor. Während seine Mitarbeiter die Durchsuchung vornahmen, sprach er mit dem Wohnungsinhaber, der immer noch alkoholisiert war.

„Sie ist also tot. Wie ist es denn passiert?“

Klimek holte tief Luft, bevor er weitersprach. Kann Mord passieren? Es war diese fehlende Anteilnahme, die Mazur irritierte. Da ist gerade die Schwester gestorben und er sprach von ihr wie von einer Sache.

Der Kriminalist fragte, ob er in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte oder neue Bekannte im Umfeld aufgetaucht wären. Klimek wusste nichts und kannte niemanden. Sie bewohnten zwar eine Wohnung, hätten aber kaum Kontakt.

Mazur fragte nach der Enkelin, die mit dem Opfer zusammen war.

Klimek sagte ärgerlich: „Das ist nicht ihre Enkelin, sondern meine.“

Dass sich die beiden regelmäßig getroffen hatten, wusste er nicht. Es hätte ihn auch nicht interessiert. Trotz mehrerer Rückfragen gab er dem Kriminalisten keine Adresse. Mürrisch saß er auf einem alten Ledersessel und ignorierte alle weiteren Fragen. Stattdessen öffnete er ein Schubfach und nahm eine Wodkaflasche heraus. Er füllte sein Glas und schüttete den Schnaps in einem Zug herunter. Dann lallte er nur noch.

Mazur gab auf. Hier war nichts mehr zu holen. Seine Kollegen waren erfolgreicher. Sie hatten im Zimmer eine Akte mit den Rentenunterlagen, persönlichen Belegen und einem Testament gefunden. Sie hatte das Haus von ihrer Tante geerbt und Alina Klimek, also die Enkelin ihres Bruders, zur Alleinerbin erklärt.

Ein Ordner war mit Zeitungsausschnitten über das KZ Auschwitz gefüllt. Ein Beleg wies sie als ehemalige Insassin des KZs aus. In einem Schulheft gab es eine umfangreiche Namensliste. Bei einzelnen Personen war eine Adresse eingetragen. Andere waren mit einem Kreuz markiert. Dahinter standen teilweise Ort, Datum und der Name des Friedhofs. Eine weitere Übersicht umfasste Anschriften von Organisationen, die sich um Naziopfer kümmerten.

Allmählich bekam das Opfer ein Gesicht. Auch von der Enkelin, Alina Klimek, fand sich in den Unterlagen eine Adresse. Mazur ließ alles einpacken und fuhr mit dem Dienstwagen zu einem Studentenwohnheim, in dem sie wohnen sollte, traf sie aber nicht an. Eine Mitbewohnerin meinte, dass sie an einem Projekt arbeitete und sicher nicht vor 20: 00 Uhr zu Hause sein würde.

In der Dienststelle berichtete er seinem Chef über den Stand der Dinge:

„Wenn es der Bruder war, könnten wir den Fall schnell abschließen. Aber es gibt weder Zeugen noch Beweise. Der Mann war so betrunken, dass er keine Auskunft geben konnte.“

„Ein Verdacht reicht nicht für eine Anklage. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr Hilfe brauchen. Am Montag steht die ganze Besatzung wieder zur Verfügung.“

Mazur schrieb einige Berichte. Dann fuhr er mit seinem Motorrad zur Adresse von Alina Klimek. Er klingelte. Die junge Frau, sah mit ihren 21 Jahren wie ein Schulmädchen aus. Er hatte zwar seinen Dienstausweis aus der Tasche gezogen, doch sie achtete nicht darauf.

„Mein Name ist Andrzej Mazur. Ich komme von der Miliz. Es geht um Jadwiga Klimek.“

„Kommen Sie herein. Sie müssen die Unordnung entschuldigen. Ich bin gerade erst gekommen. Was ist mit Jadwiga? Hatte sie einen Unfall?“

Die Stimme der jungen Frau zitterte.

Mazur setzte sich auf einen wackligen Stuhl. Sie setzte sich auf das Bett.

Es war seine erste Todesnachricht. Langsam und stockend berichtete er über das Vorgefallene, ließ aber jene Details weg, die die Brutalität des Mordes illustrierten. Alina Klimek rang mit den Tränen. Sie ergriff das Kopfkissen und hielt es vor ihr Gesicht, um ihren Schmerz laut klagend darin zu versenken. Rinnsale salziger Tropfen nässten den Stoff ihrer Bluse, der mit bunten Frühlingsblumen bedruckt war.

Mazur war sich nicht sicher. Dann aber setzte er sich doch auf das Bett und schloss das tief getroffene Mädchen in seine Arme ein. Dankbar nahm sie das Angebot an.

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, fragte er: „Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal getroffen?“

„Gestern waren wir im Café ‚Elena‘. Gegen 21: 30 Uhr sind wir gegangen. Vor dem Aufgang zum Wawel verabschiedeten wir uns. Es war vielleicht kurz vor 22: 00 Uhr. Ich hatte einen Termin als Garderobendienst bei einer Veranstaltung. Jadwiga wollte nach Hause.“

Ihre Stimme stockte. Offenbar wurde ihr bewusst, dass danach der Mord geschehen war.

„War sie an diesem Tag anders als sonst? Hat sie irgendetwas erwähnt, dass Ihnen ungewöhnlich vorkam?“

„Nein. Eigentlich nicht. Sie hat sich wieder über meinen Großvater aufgeregt, der täglich betrunken ist. Deswegen hatte sie bereits mit dem Gedanken gespielt, ihn aus der Wohnung zu werfen.“

„Haben Sie mit ihrem Großvater keinen Kontakt?“

„Nein. Schon seit Monaten nicht. Jadwiga hatte ihn gebeten, mir Sachen von meiner Mutter zu geben. Er meinte, dass sie das nichts angehe. Ich habe ihn dann selbst aufgesucht und danach gefragt. Da hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“

„Worum ging es dabei?“

„Ich habe von Mutter weder ein Bild oder sonst irgendwelche persönlichen Sachen. Selbst meine Geburtsurkunde rückt er nicht heraus. Jadwiga meinte, dass er Post bekommen hat, die mich betrifft.“

Alina Klimek erregte sich dabei so sehr, dass der Kriminalist sie kaum beruhigen konnte. Er bat sie, am nächsten Tag in die Dienststelle zu kommen. Seine Visitenkarte ergänzte er mit der persönlichen Telefonnummer.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich jederzeit erreichen.“

Mazur stieg auf das Motorrad. Er war ein anderer. Die junge Frau hatte in ihm ungewohnte Gefühle ausgelöst. War es nur der Beschützerinstinkt? Er wusste es nicht. Beim Studium hatte man davor gewarnt, Fälle zu dicht an sich herankommen zu lassen. Sie war eine Zeugin. Da verbot sich jede Nähe, wenn man objektiv bleiben wollte. Trotz Müdigkeit fand er keinen Schlaf.

Am nächsten Tag rief der Nachbar des Opfers an. Er berichtete über Krach in der Wohnung. Als Mazur mit dem Streifenwagen vor dem Haus ankam, wartete der Anrufer schon.

„Es ist jetzt zwar wieder still, aber nach dem Mord wollte ich sichergehen.“

Mazur bedankte sich bei ihm. Gemeinsam mit seinem Kollegen Krawczyk betrat er das Haus. Trotz heftigen Klopfens öffnete niemand. Er ließ die Tür aufbrechen. Klimek lag im Wohnzimmer. Der herbeigerufene Arzt stellte den Tod fest. Fremdeinwirkung schloss er aus. Bei dem großen Alkoholkonsum sei ein solches Ende vorauszusehen.

Sicherheitshalber veranlasste Mazur eine Obduktion.

Es war schon 10: 30 Uhr. Er überlegte, ob er nun wirklich zu Alina Klimek fahren sollte, um ihr die Nachricht zu überbringen. Noch an der Tür zögerte er. Von drinnen hörte er Klaviermusik. Er klingelte. Als sie öffnete, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie bat ihn herein. Mazur rutschte auf dem Stuhl hin und her.

„Es tut mir leid.“

Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

„Ihr Großvater ist heute in den frühen Morgenstunden verstorben. Es sieht wie ein natürlicher Todesfall aus.“

Mazur versuchte, möglichst sachlich den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Im Radio lief Chopin.

Der Streifenwagen brachte Mazur und Alina Klimek zum Krankenhaus. Er setzte sich zu ihr auf die Rückbank. Den ganzen Weg über blieb sie stumm.

Der alte Mann lag noch auf dem Seziertisch, da die Obduktion gerade erst abgeschlossen war. Der Tote wirkte entspannt.

„Soll ich Sie mit ihm etwas allein lassen?“

„Nein, ich möchte bitte gehen.“

Alina weinte nicht.

„Jetzt bin ich allein. Ich habe keine weiteren Verwandten.“

Mazur verkrampfte sich das Herz. Als letztes Jahr sein Vater verstarb, hatte er eine tiefe Trauer gespürt. Es war diese Leere, die zurückbleibt, wenn die Worte fehlen, das Unsagbare zu beschreiben, und sinnlose Fragen das Hirn beschäftigen.

Seine Mutter war nicht in der Lage, ihn zu trösten, da sie mit sich selbst beschäftigt war. Sein Motorrad hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. Er fuhr mit der Jawa Hunderte Kilometer bis zur Ostsee, um sich am Strand von Sopot in den Sand zu legen und in den Nachthimmel zu blicken.

Am Morgen weckte ihn eine Möwe, die seine Mütze nach Futter durchsuchte. Hohe Wellen hatten in der Nacht Algen sowie allerlei Unrat an den Strand gespült. Das Meer tat jetzt unschuldig und der Himmel versprach einen schönen Sommertag. Bernsteinsammler liefen vorbei. Sie hofften auf Beute. Einige Urlauber hatten sich ins Wasser gewagt. Es war wie eine andere Welt, in die er eingetaucht war. Er fühlte sich befreit. Wieder zu Hause stellte er fest, dass Mutter seine Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Damals fühlte er sich schuldig, sie allein gelassen zu haben.

Alina Klimek hatte sich im langen Flur des Krankenhauses auf eine Bank gesetzt und starrte ins Leere.

Mazur fragte: „Darf ich Ihnen helfen? Es gibt Psychologen, die in solchen Fällen …“

Sie winkte ab. „Danke, es geht schon.“

Er brachte sie ins Wohnheim und bat ihre Mitbewohnerin, auf sie achtzugeben. Zum Abschied gab er Alina die Hand, die sie etwas zu lange festhielt. Sie sah zu ihm auf.

Der Kommissar in ihm sagte: „Ich werde mich morgen bei Ihnen melden. Es müssen einige Formalitäten erledigt werden.“

„Na dann, bis morgen!“

Im Hausflur hatte er Zweifel, sie allein zu lassen. Dann hörte er Klaviermusik. Es war ein ruhiges Stück, dessen Komponist er nicht kannte.

Am nächsten Morgen traf er bereits um sechs Uhr auf der Dienststelle ein. Er hatte einen Bericht vorzulegen. Doch was sollte er schreiben? Ein Raubmord kam für ihn wegen der Brutalität und der geringen Beute nicht infrage. Es musste eine Beziehungstat sein. Sein Chef war der Ansicht, dass Tadeusz Klimek seine Schwester im Delirium umgebracht hatte. Diese Version passte aber nicht mit der Spur des Fährtenhundes und dem Ergebnis der Obduktion zusammen.

Klimek war körperlich kaum belastbar. Die Frau hatte sich gewehrt. Bei ihrem Bruder fanden sich bei der Obduktion keine Verletzungen. Er passte nicht ins Bild. Warum sollte er extra in die Gasse gelaufen sein, um sie umzubringen? Volltrunken zu warten, bis sie kommt? Außerdem fehlte ein handfestes Motiv. Wegen der Wohnung konnte es nicht sein, denn die erbte seine Enkelin, mit der er sich zerstritten hatte.

Mazur brachte seine Einwände vor. Sie waren für ihn stichhaltig. Doch die Vorgesetzten in Krakau drangen auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Angeblich hatte Warschau einen Bericht abgefordert.

Der Vorabbericht, in dem Klimek als möglicher Täter genannt wurde, kam dort überhaupt nicht gut an. Ermittlungen gegen einen ehemaligen Offizier waren stets kritisch. Es war zu befürchten, dass das Innenministerium den Fall an sich zöge, um politischen Schaden zu vermeiden. Die Folge wäre womöglich, dass mit den Särgen auch die Wahrheit begraben wurde und der wahre Täter straffrei bliebe.

Mazur hatte keine andere Wahl. Er wollte die Fäden in der Hand zu behalten. Für Alina wollte er den Fall lösen. Immer öfter ließ er den Nachnamen weg, wenn er an sie dachte.

Die Ermittlungen drehten sich im Kreis. Die Tasche der Toten wurde sichergestellt. Sie lag in der Nähe des Papierkorbes, den der Hund angezeigt hatte. Am Fundort fanden sich einige weitere Utensilien. Kamm, Lippenstift und eine kleine Flasche „Kölnisch Wasser 4711“ trugen die Fingerabdrücke der Toten. Geldbörse und Schlüssel fehlten. Auf der Schließe war allerdings ein halber Daumenabdruck, der sich nicht zuordnen ließ.

Alina hatte gesagt, dass das Opfer eine Goldkette mit einem Bernstein getragen hatte. Da sie nicht gefunden wurde, hatte man bei Schmuckhändlern nachgefragt. Selbst einschlägige Hehler wurden aufgesucht. Alle bestritten, passende Angebote bekommen zu haben. Schmuck aus einem Mordfall war zu heiß. Mazur musste noch einmal die Wohnung aufsuchen. Möglicherweise hatte man etwas übersehen. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl für die gesamte Wohnung, wollte aber Alina dabeihaben.

Sie öffnete die Tür in T-Shirt und Jeans. Ihr Studentenzimmer war unaufgeräumt, wofür sie sich gleich entschuldigte.

„Wissen Sie, ich musste irgendetwas tun und habe daraufhin angefangen, meine Sachen zu sortieren. Aber bei jedem Gegenstand fallen mir immer Dinge aus der Vergangenheit ein. Irgendwann habe ich aufgegeben. Übermorgen ist Projektabschluss und ich habe noch nicht eine Seite vom Abschlussbericht geschrieben. Wenn das Jadwiga wissen würde.“

Sie stockte. Jadwiga war tot. Sie würde es nie erfahren. Tränen liefen über ihr Gesicht.

„Ich wollte unbedingt Geschichte studieren, weil sie es nicht durfte. Sie hatte so große Hoffnungen in mich gesetzt.“

Mazur zögerte erst, aber er durfte keine Rücksicht nehmen.

„Alina, wir müssen noch einmal in die Wohnung.“

Sie schaute ihn an. Sie hatte gemerkt, dass er zum Du übergegangen war. Es war ihr recht.

„Muss das wirklich sein?“

„Wir haben immer noch nicht den Mörder gefunden. Ich möchte ausschließen, dass es dein Großvater war.“

„Wird er denn verdächtigt?“

Mazur informierte sie über die bisher bekannten Informationen zu ihrem Großvater. Alina hörte aufmerksam zu.

„Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hat es nicht einmal geschafft, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Es stimmt schon, dass er laut war und viel getrunken hat. Aber Mord …“

Mazur befürchtete, dass er ihr Vertrauen verloren hatte. Doch sie reagierte anders.

„Ich werde dir helfen.“

Sie schaute auf. „Ich habe auch noch so viele offene Fragen.“

Mit dem Dienstwagen fuhren sie zur Wohnung der Toten. Unterwegs teilte Mazur ihr mit, dass ein Testament gefunden wurde, in dem sie als Alleinerbin eingesetzt war.

„Ich wusste es. Sie hatte es aufgesetzt, als ich ausgezogen bin. Die Wohnung war das einzige Druckmittel gegen meinen Großvater. Als ich klein war, hatte er immer gedroht, mich in ein Heim zu geben. Das wollte sie auf keinen Fall.“

Sie machte eine Pause, ehe sie weitersprach.

„Ich habe viele Streitereien der beiden angehört. Aber er hat sie nie geschlagen. Es begann meistens damit, dass er mit seinen Kriegserlebnissen prahlte. Jadwiga konnte das nicht ertragen. Obwohl sie sonst eher still war, meinte sie dann oft, dass die polnische Armee die Zivilisten 1939 schutzlos zurückgelassen habe. Erst unter Stalin sei er wieder vorgekrochen. Er habe im beheizten Zelt gesessen, als sie in Auschwitz fast erfroren sei. Mein Großvater begann dann immer zu brüllen und verwies auf seine angeblichen Heldentaten. Am Ende zogen sie sich jeweils in ihr Zimmer zurück.“

Alina ergriff seine Hand.

„Ohne Jadwiga wäre ich zugrunde gegangen. Sie war mein Mutterersatz, meine Mama. Sie ging mit mir in den Park und las abends Märchen vor. Wenn ich sie auf der Arbeit besuchte, zeigte sie mir die alten Bücher. Sie meinte immer, dass es die Vermächtnisse der Vergangenheit sind. Deswegen habe ich mein Geschichtsstudium aufgenommen. Jetzt merke ich erst, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Vom Krieg und von Auschwitz hat sie kaum erzählt, weil sie dann immer gleich anfing zu weinen.

Großvater zeigte wenig Mitgefühl. ‚Heulst du wieder wegen des Juden?‘, war eine Bemerkung, die sie tief verletzte. Ich habe das nie begriffen. Auch nicht, warum beide nicht über meine Mutter redeten.“

Alina wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Und jetzt bin ich allein.“

Sie lehnte sich an Mazur. Er schluckte. Doch er riss sich zusammen.

Das Chaos im Zimmer von Tadeusz Klimek hatte er gesehen. Alina blickte betroffen auf den Berg leerer Schnapsflaschen. Es stank nach Erbrochenem und Urin. Sie öffnete das Fenster.

„Es ist mir peinlich, dass mein Großvater eine solche Unordnung hinterlassen hat. Ich bin ewig nicht mehr hier gewesen.“

Sie wandte sich ab, als ob es ihre Schuld wäre.

„Er wollte keine Hilfe annehmen. Sein Arzt hatte vorgeschlagen, ihn in eine Klinik einzuweisen, doch er lehnte das ab. Er unterstellte Jadwiga, dass sie ihn abschieben wolle.“

Die Durchsuchung der Wohnung blieb ohne Ergebnis. Lediglich ein kleiner Panzerschrank konnte nicht durchsucht werden, da der Schlüssel unauffindbar war. Alina wusste nichts über den Inhalt. Sie vermutete aber, dass er persönliche Unterlagen darin aufbewahrt hatte, da sich in der ganzen Wohnung keine Papiere über die Familie fanden. Mazur versprach, einen Fachmann zu beschaffen, um an den Inhalt zu gelangen.

Er verschloss die Wohnung und versiegelte die Tür. Dann brachte er Alina ins Wohnheim. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag um 13: 00 Uhr. Bis dahin hoffte er, einen Spezialisten für den Panzerschrank zu finden. Als er Alina verließ, hatte er noch immer den Duft ihrer Haare in seiner Nase.

Auf der Dienststelle empfing ihn sein Chef übellaunig. Das Innenministerium hatte einen ausführlichen Bericht angefordert. Mazur versprach, das Schreiben sofort fertigzustellen. Zuvor rief er aber Mikulski an, der sich mit Schlössern auskannte. Im Haus behauptete man im Spaß, dass er am legendären Postraub in England beteiligt gewesen wäre und in Polen inkognito lebe. Jedenfalls kannte er sich mit allen gängigen Fabrikaten von Panzerschränken aus.

Den Bericht für Warschau legte er dem Chef auf den Schreibtisch, da dieser schon längst nach Hause gegangen war. Auf seinem eigenen Tisch stapelten sich die Protokolle von Befragungen der Anwohner und Arbeitskollegen von Jadwiga. Das einzig Nennenswerte war der Hinweis, dass sie sehr eng mit einer ehemaligen Kollegin befreundet war, die sie schon aus Vorkriegszeiten kannte und jetzt in Zakopane lebte. Für die Ermittlungen schien es ihm zwar unwichtig, doch hoffte er, dass sich Alina darüber freuen würde.

Ein Dossier über Tadeusz Klimek war aufgetaucht, das anlässlich einer Ordensverleihung gefertigt wurde. Es entpuppte sich allerdings als völlig wertlos, da es außer Plattitüden und Lobhudelei keine objektiven Informationen enthielt.

Es war schon 23: 00 Uhr. Er stieg auf seine Jawa und fuhr nach Hause. Wie immer hatte seine Mutter auf ihn gewartet. Sie liebte es, ihm beim Essen zuzusehen. Es gab Schweinebraten. Auch wenn sich Mazur über den Aufwand ärgerte, vermied er, irgendetwas zu sagen, denn sie hatte ja nur noch ihn. Er schlief wie ein Stein.

Es fiel seiner Mutter auf, dass er am Morgen etwas länger im Bad brauchte. „Willst du mir was erzählen?“

„Nein, nein. Es gibt nichts Neues.“

Bei sich dachte er daran, dass er heute wieder Alina treffen würde.

Andrzej Mazur konnte sich kaum konzentrieren. Mühselig kämpfte er sich durch den Stapel Papier. Die Befragungen lasen sich wie ständige Wiederholungen.

„Zu viele Leute waren unterwegs. Sie hatten nichts gesehen.“

Leberzirrhose war die Todesursache von Tadeusz Klimek schrieb der Gerichtsmediziner. Das waren alles viele Worte, aber kein Hinweis zur Tat, dem Täter oder möglichen Motiven.

Er hatte bereits seine Jacke angezogen, als das Telefon klingelte. Sein Chef wollte ihn sprechen. Mazur ärgerte sich. Alina würde warten und dem Schlosser hatte er versprochen, ihn zur Wohnung mitzunehmen. Glücklicherweise war sein Kollege Krawczyk da. Kurz erzählte er ihm, was zu tun war. Nach dem Gespräch würde er nachkommen.

Der Chef hatte Besuch aus Warschau. Obwohl er schon seinen Rapport hatte, musste er dem Offizier vom Innenministerium über den Stand der Ermittlungen berichten. Dann fiel dem Chef ein, dass es Mittag war. Er lud seinen Gast ein.

Seine Jawa brachte ihn zur Wohnung der Klimeks. Er sprang die Stufen zum Eingang hinauf. Im Hausflur sah er, dass das Siegel an der Wohnungstür gebrochen war. Warum hatte Krawczyk nicht gewartet? Die Tür war nur angelehnt.

Ärgerlich rief er: „Adam, warum hast du nicht …“

Er hatte keine Chance. Der Schlag traf ihn zu schwer.

Der Arzt hatte ein besorgtes Gesicht.

„Er ist noch nicht bei Bewusstsein. Ihr Mann hatte großes Glück.“

Alina berichtigte seine Annahme nicht. Adam Krawczyk stand dabei und sah zum Boden. Hätte er nicht zu lange beim Schlosser gebummelt, wären sie rechtzeitig angekommen und Andrzej würde nun nicht hier liegen. Als er die offene Tür sah, war ihm sofort klar, dass etwas passiert war. Er stürzte hinein und entdeckte ihn auf dem Fußboden liegend.

Alina, die hinter ihm hereingekommen war, schrie. Sie beugte sich zu Mazur herunter, strich ihm über das Gesicht. Als sie seinen Puls fühlte und merkte, dass er am Leben war, küsste sie ihn auf die Stirn. Krawczyk stand da, wie angenagelt, bis sie ihn anschrie: „Worauf wartest du? Ruf den Notarzt!“

Doch der Schlosser hatte schon Hilfe angefordert.

Alina Klimek stieg zu ihm in den Krankenwagen. Die beiden Männer blieben zurück und warteten auf die Kriminaltechnik.

Andrzej Mazur wachte erst nach Stunden auf. Er wusste nicht, wo er war. Im Halbdunkel erkannte er Alina, die seine Hand hielt. Neben ihr saß seine Mutter. Sie war eingeschlafen und lehnte sich an Alina. Was war geschehen? Er wollte etwas sagen, doch reichte seine Kraft nicht aus.

„Ruhe dich aus! Es wird alles gut.“

Er blickte Alina an und dachte: ‚Wie schön sie ist.‘

Dann schloss er die Augen und bemerkte es nicht mehr, als seine Mutter wach wurde.

Alina hatte dafür gesorgt, dass sie informiert wurde. In der Eile hatte keiner daran gedacht, sie aufzusuchen und von dem Unglück zu erzählen. Sofia Mazur begriff sofort, dass da etwas zwischen ihrem Sohn und Alina war. Die Art und Weise, wie sie im Krankenzimmer die Hand ihres Sohnes hielt, verriet alles. Es wärmte ihr Herz, trotz der großen Sorge um Andrzej.

Sie wechselten sich an den folgenden Tagen ab. Wenn sie sich trafen, erzählte Frau Mazur davon, wie ihr Sohn als Kind war und Alina hörte zu. Erst nach einiger Zeit berichtete sie über ihre Kindheit. Vor allem, wie ihr die Mutter fehlte und wie Jadwiga versucht hatte, ihr ein Zuhause zu geben. Sofia spürte ihre Hilflosigkeit.

„Nach dem Tod meines Mannes, dachte ich, dass es nicht mehr weitergeht. Alles schien so sinnlos. Wäre mein Junge nicht gewesen.“

Übergangslos sagte sie zu Alina: „Du kannst mich gern Sofia nennen.“

Die beiden Frauen umarmten sich.

Der Chef hatte die Morduntersuchung an sich gezogen. Das bedeutete allerdings nur, dass Krawczyk die Arbeit von Mazur übernehmen musste und er selbst sich aufraffte, Berichte zu lesen. Zumindest war ihm seit dem Überfall auf seinen Mitarbeiter klar, dass es sich nicht um einen Raubmord handelte und Klimek unschuldig war.

Es ging bei dem Fall um abgrundtiefen Hass gegenüber einer Frau. Doch warum bricht der Täter in die Wohnung des Opfers ein? Wonach hatte er gesucht? Und hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte?

Der Chef veranlasste, dass man das Haus rund um die Uhr bewachte. Ermittlergruppen befragten noch einmal die Leute der Umgebung.

Adam Krawczyk setzte alles daran, jeder Spur nachzugehen. Die Kriminaltechniker untersuchten die gesamte Wohnung nach Spuren. Dabei fanden sie den Schlüssel für den Panzerschrank. Dieser steckte im Hohlraum einer Skulptur von Stalin, die auf dem Schreibtisch von Tadeusz Klimek stand und bei der ersten Durchsuchung übersehen wurde.

Der Einbrecher hatte alle Räume durchsucht. Offenbar ging es ihm nicht um Wertsachen, denn eine goldene Uhr, Schmuck und antiquarische Gegenstände hatte er nicht mitgenommen. Demgegenüber hatte er Schubfächer mit Unterlagen herausgerissen und den Inhalt auf dem Boden zerstreut. Selbst Bilder hatte er abgenommen. Die Situation ließ nur den Schluss zu, dass es ihm um Dokumente ging. Am Panzerschrank fanden sich Spuren von Einbruchswerkzeugen. Hier war er aber erfolglos geblieben.

Ein einziger fremder Fingerabdruck wurde gesichert. Er stammte von einem Bilderrahmen aus dem Zimmer der Jadwiga Klimek. Das Bild war aus dem Rahmen entfernt worden. Die Verriegelung auf der Rückseite war so gestaltet, dass der Täter gezwungen war, die Federn mit bloßen Fingern zur Seite zu schieben. Und trotz intensiver Suche fand sich kein Bild, das in den Rahmen passte. Also hatte er es mitgenommen.

Krawczyk nahm sich vor, Alina Klimek nach dem Bild zu fragen. Der Chef machte Druck und wollte Ergebnisse sehen. Doch sie hatten nur zwei Fingerspuren und ein fehlendes Bild. Es gab keine Zeugen.

Ein wenig Hoffnung verband er mit dem Inhalt des Panzerschranks. Doch der Inhalt war enttäuschend: Orden, Urkunden und persönliche Sachen von Tadeusz Klimek. Es gab noch einige Briefe. Diese betrafen aber Alina Klimek. Krawczyk legte alles wieder sorgfältig in den Schrank, verschloss ihn und steckte den Schlüssel ein. Er wollte nicht, dass die junge Frau, die sich so rührend um seinen Kollegen kümmerte, in die Untersuchungen hineingezogen wurde.

Mazur ging es nach einer Woche merklich besser. Er trug zwar einen Verband um den Kopf, der an einen Turban erinnerte, doch die Kopfschmerzen waren fast weg. Die Besuche seiner Mutter und von Alina taten ihm gut. Als er einmal mit seiner Mutter allein im Zimmer war, hatte sie ihn gefragt, warum er nichts von ihr erzählt hatte. Er war wie ein kleiner Junge rot geworden und hatte nur herumgestottert. Sie hatte dann gelacht und auf eine Antwort verzichtet.

Wenn Alina kam, war es ihm immer etwas peinlich, im Bett zu liegen. Er wusste nicht, wie er mit ihr über seine Gefühle sprechen sollte. Doch er war sich sicher, dass es nicht nur Mitgefühl war. Seine Mutter verhielt sich völlig anders. Sie sprach mit ihr, als ob sie sich schon ein Leben lang kannten.

„Du musst ihr sagen, dass du in sie verliebt bist“

Sie hatte gut reden. Er nahm sich vor, am Freitag mit Alina zu sprechen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Adam Krawczyk hatte ihn mehrfach besucht, aber stets herumgedruckst, wenn Mazur nach dem Stand der Ermittlungen gefragt hatte. Schließlich räumte er ein, dass sie keinen Schritt weitergekommen waren. Als Alina bei einem Besuch anwesend war, hatte er nach dem leeren Bilderrahmen aus Jadwigas Zimmer gefragt. Sie sagte, dass es ein Kinderbild von ihr mit Jadwiga gewesen sei.

Krawczyk hatte ihr den Schlüssel von dem Panzerschrank gegeben. Sie war ganz in sich gekehrt. Als Adam gegangen war, meinte Alina nur, dass sie nicht allein in die Wohnung gehen würde.

Bei der Abschlussvisite sagte ihm der behandelnde Arzt, dass er zunächst für einen Monat krankgeschrieben sei, um sich zu erholen. Er solle es ernst nehmen. Mazur hörte nicht zu, denn er wollte so schnell wie möglich raus. Am Eingang stand Alina mit Krawczyk. Er hatte den „Wolga“ vom Chef bekommen, um ihn nach Hause zu fahren. Dort würde seine Mutter mit dem Essen warten. Als er vorne einsteigen wollte, bestand Adam darauf, dass beide hinten sitzen. Etwas linkisch setzte sich Andrzej mit Alina auf die breite Rückbank. Der Wagen fuhr los.

Sie rutschte zu ihm heran und legte den Arm um seine Schulter.

„Ich halte dich lieber fest.“

Er drehte sich zu ihr, nahm seinen ganzen Mut zusammen, öffnete den Mund und hörte sich sagen: „Ich liebe dich.“

Sie lachte: „Ich weiß.“

Er strich zärtlich über ihr Gesicht und schob eine Strähne zur Seite. Sie schlossen ihre Augen und küssten sich. Adam sah in den Rückspiegel und grinste.

„Alles klar da hinten?“

Die beiden fühlten sich ertappt. Mazur gab Krawczyk einen Klaps auf die Glatze. „Schau nach vorn, sonst bringst du uns noch um!“

Seine Mutter hatte sich alle Mühe gegeben. Es gab Bigos und Vanillepudding mit Sauerkirschen zum Nachtisch. Mazur war glücklich.

Die Stimmung trübte sich erst, als das Gespräch auf die anstehenden Beisetzungen kam. Nach der Freigabe der Leichen hatte sich Sofia um die Formalitäten gekümmert. Sie kannte sich aus, da sie beim Tod ihres Mannes auch alles allein erledigt hatte. Andrzej war froh, dass seine Mutter sich so engagierte. Sie hatte die junge Frau gern und zeigte es auch. Seit Jahren hatte er sie nicht so erlebt.

Es war eher ein Zufall, dass Mazur seine Lederjacke anzog. Mutter hatte ihm strikt verboten, mit dem Motorrad zu fahren. Er wollte aber Alina nur bis zur Bushaltestelle begleiten. Als er in die Tasche griff, hatte er mit einem Mal einen Zettel in der Hand. Er holte ihn heraus.

„Hanka Wrobel, Zakopane“, las er vor und versuchte, sich zu erinnern.

Alina sah ihn an: „Hanka kenne ich. Sie hat auf mich aufgepasst, als ich noch klein war. Was ist mit ihr?“

„Oh. Das hatte ich ganz vergessen. Wir hatten nach Zeugen gesucht, die mit Jadwiga schon vor dem Krieg gearbeitet hatten. Ein Kollege hatte mir den Zettel gegeben und ich wollte ihn dir geben, als ich …“

Er stockte, fing an zu zittern. Sie nahm ihn in den Arm. Plötzlich kam in ihm alles wieder hoch.

„Soll ich dich wieder nach oben bringen? … Ich kann auch später fahren.“

Andrzej fürchtete, zusammenzubrechen. Alles um ihn herum wurde schwarz. Sie nahm ihn in den Arm und schob ihn die Treppen zur Wohnung hinauf. Gemeinsam mit seiner Mutter brachten sie ihn ins Bett. Der Arzt hatte gesagt, dass er sich schonen sollte. Alina blieb noch eine Weile. Bevor sie sich schließlich auf den Weg machte, sah sie nach Andrzej. Er schlief tief und fest, daher schloss sie leise die Tür, versprach aber, am Nachmittag wieder vorbeizusehen.

Alina hatte für ihr Projekt einen Abschlussbericht vorzubereiten, doch ihr Kopf war wie leergefegt. Sie gab auf und schrieb Hanka Wrobel einen langen Brief.

Der dicke Mann

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