Читать книгу Grün ist das Leben - Wolfgang Bendick - Страница 8
Entscheidung
ОглавлениеAuch begannen die Obstbäume, alles Hochstämme, langsam zu blühen, es wehte eine warme Welle von erwachendem Leben über die Moränenhügel. Ich bekam einen Vortrag über die Insekten und die Vögel gehalten, über Nützlinge und Schädlinge und über das Zusammenspiel von Kosmos, Erde und Ich. Ich hatte schon zuvor in fast allen Bäumen einen umgestülpten Blumentopf hängen sehen. Ich dachte zuerst, dass darin Futter für die Vögel untergebracht sei. Doch sie waren nur mit Holzwolle vollgestopft. Diese dienten dazu, den Ohrenkneifern einen Unterschlupf zu bieten, denn diese fressen Blattläuse und Schmetterlingsraupen, vor allem die des Kohlweißlings. Der Bauer ließ mich eine Leiter holen, diese an den ersten Baum anlehnen, und wir kletterten beide hinauf. Oben angekommen, bemerkte ich, dass da ein Nistkasten für Vögel hing. Umherschauend sah ich, dass eigentlich in jedem Baum mindestens ein Kasten aufgehängt war! Diese ließen sich von unten oder von vorne öffnen. Eigentlich sollten Stare und andere Vögel hierin wohnen. Doch hatten bisweilen freche Spatzen sich darin breit gemacht. Ihr Nest erkannte man leicht, vor allem, weil es auf dem Starennest gebaut und kleiner war. Diese unliebsamen Hausbesetzer galt es fern zu halten. Und das geschah, indem man deren Nest rauswarf! Das war keine schwierige Arbeit, nur verbunden mit etwas Akrobatik. Bald ließ er mich alleine und ich fühlte so etwas wie Glück hier oben zwischen den mit süßlich duftenden, weißen oder weißrosafarbenen Blüten besetzten Ästen, umsummt von den träge von Blüte zu Blüte taumelnden Bienen.
Heute früh hatte der Briefträger einen Einschreibebrief gebracht. Er war von der Vergabestelle für Studienplätze. Da am Hof ja die Arbeit vorrangig war, hatte ich ihn nur eingesteckt und war dem Bauern gefolgt. Jetzt war dieser weg und ich öffnete ihn hier oben auf dem Baum. „Was kann da schon anderes drinstehen, als eine Absage. Denn so blendend war mein Zeugnis ja nicht gewesen!“, dachte ich mir. Ich lag in einer moosigen Astgabel, unter mir die Wiese mit den ersten Gänseblümchen und vorwitzigen Löwenzähnen darin, in der Ferne die glitzernde Fläche des Bodensees, über mir der blaue Himmel, der sich um die Äste des Baumes wand wie die Erde um dessen Wurzeln. Ich stellte mir vor, der Baum sei mit seinen Ästen im Himmel verwurzelt und sog damit das Astrale auf, um es durch die Wurzeln in die Erde zu leiten. Ich stellte mir seine ‚Wurzelkrone vor, wie sie da in den Boden ragte, umschwirrt von allerlei Gewürm und Bodentieren… Das schien mir zwar nicht sehr Steiner-konform, doch so abwegig war es nun auch wieder nicht! Wir sollten mehr unseren Intuitionen folgen und nicht immer jeden etwas abartigen Gedanken gleich von der Vernunft ersticken lassen… Ich faltete die Blätter des Briefes auseinander und wandte meinen Blick auf sie. Und staunend wurde mir langsam klar, dass ich für alle Fächer, für die ich mich beworben hatte, genommen war! Und sogar an den von mir gewünschten Fakultäten! Mein Notendurchschnitt war aufgewertet worden, weil ich meinen Zivildienst geleistet hatte und weil seit dem Abi schon ein paar Jahre vergangen waren. Nun sollte ich innerhalb der nächsten 14 Tage Bescheid geben, damit im negativen Fall andere Studenten von meinen Plätzen profitieren könnten!
Da saß ich nun in meinem Baum, reinigte die Nistkästen und sog die süßliche Frühlingsluft in meine Lungen. Die Entscheidung war mir nicht abgenommen worden, ich musste sie selber treffen! Auf der einen Seite waren die Bäume, die mir zuflüsterten, „bleibe bei uns, wir und unsere Mutter, die Natur, werden dir Dinge zeigen, die dich niemand anderes lehren kann!“ Auf der anderen Seite waren da die Wissensfabriken, die nach mir riefen, „Komm, bei uns findest du alles Wissen der Welt vereint, und nur mit Wissen kannst du die Natur bezwingen!“
Ich kletterte nach und nach auf alle Bäume, in denen Nistkästen hingen. In mir sprachen diese zwei Stimmen, die jede eine andere Welt verkörperten und einander in gewisser Weise ausschlossen. Was soll ich tun? Mit Logik kam ich da nicht weiter. – Es war nur noch der hohe Birnbaum übrig. Voller Moos und Flechten, der Stamm von ein paar Astlöchern ausgehend zum Teil schon ausgehöhlt. Oben in ihm befand sich, etwas schief, der kistengleiche Nistkasten des Uhus, des Königs der Vogelkolonie unserer Obstwiese. Durch eine seitliche Klappe konnte man den Kasten öffnen. Ich ging vorsichtig zu Werke, denn der Uhu ist ein Standvogel, das heißt, er wandert nicht. Er könnte ebenso in seinem Kasten sitzen… Doch er war ausgeflogen. Darin fand ich sein Vorjahresnest, Flaumfedern und Kot. Ich reinigte so gut ich konnte und erneuerte ein morsches Bodenbrett.
Mein Bauer war nicht zu sehen und so machte ich es mir auf einem der dicken Äste bequem, den Rücken an den schuppigen Stamm gelehnt. Gedanken jagten mir durch den Kopf, wie ein Pingpongball, deren Spieler die Natur und die Welt des Wissens waren. In die Welt des Wissens war ich schon mehrmals vorgestoßen. Mit Freunden und auch mit Doris hatte ich mich in Hörsäle geschmuggelt und zugehört. Nach einer Weile überwältigte mich jedes Mal die Müdigkeit und ich schlief ein. Doch zum Schlafen geht man nicht an die Uni, sagte ich mir. Und es gab Tausende von Studenten, die alle kritiklos das gleiche theoretische Wissen von Dozenten übernahmen, die es gleichfalls übernommen hatten, ohne zu prüfen oder ohne dass es auf deren eigener Erfahrung beruhte. Gut, es gab auch herausragende Köpfe! Doch irgendwie war ich nicht die Person, die einfach so alles übernehmen würde! Wenn ich schon in der Herde bleiben musste, dann nur als schwarzes Schaf! Aber muss man denn unbedingt in der Herde bleiben? Es gibt doch auch in der Natur Herdentiere, die wieder verwildert sind. Ich fühlte mich eher als so eines. Und dann ist von der Natur noch so unendlich viel zu lernen! Ich hatte das in der letzten Zeit hier auf dem Hof gesehen! Und für dieses Wissen interessierte sich kaum jemand. Die in der Natur lebten und mit ihr, waren eher die Parias unserer Gesellschaft, wurden zu Feinden des Fortschrittes erklärt oder einfach für dumm gehalten.
Meine Entscheidung war gefallen! Nein, sie hatte schon vorher bestanden, nur durch diesen Schrieb hatte ich mich konkret damit befassen müssen! Ich würde meinen Studienplatz jemandem zur Verfügung stellen, der mehr damit anfangen konnte als ich! Ich würde mit meinen schrundigen Händen weiterhin die Haut der Erde kraulen und versuchen, auf gerechte Weise zu leben. Und die Mutter Natur würde mich nicht nur ernähren, sondern glücklich machen wie die anderen Wesen, die in enger Nähe mit ihr lebten! Dieses spürte ich, es war wie eine Gewissheit!
„Ja, und was willst du auf lange Sicht tun?“, wollte meine Freundin wissen. „Erst mal Geld verdienen gehen, denn wir sind völlig pleite, und dann vielleicht die Schule für Heilpraktiker besuchen und Bauer werden, falls wir einen Hof finden!“ - Doch jetzt kam erst einmal eine Situation, wo ich froh gewesen wäre, schon beides zu sein: Am nächsten Morgen weckte uns die Bäuerin, was noch nie vorgekommen war. Ihr Mann lag mit Ischias auf der Ofenbank und stöhnte vor sich hin. Sein Rücken war blockiert. Was sollte ich da machen? Hätte er mir wenigstens das Melken gezeigt, so könnte ich ihm zumindest das abnehmen! Und genau das war es, was ich machen sollte: seine heiligen Dungproduzenten melken! Als Kind hatte ich manchmal mit den Händen zu melken versucht. Das war schwer, aber ich konnte es noch. Aber mit der Maschine? Und immer das Gerede, dass die Kühe, wenn jemand anderes sie anfasste, die Milch verlieren (sie zurückalten) würden! Doch das taten sie schon, als ich mit Verspätung in den Stall kam. Ein paar von ihnen ‚verloren‘ ihre Milch, aber auf andere Weise: sie lief einfach aus! Das war bestimmt, weil sie an feste Melkzeiten gewöhnt waren, und ich kam eine Stunde zu spät!
Gut, ich hatte schon manchmal beim Melken zugeschaut und die Kühe kannten mich. Das Anbringen der Maschine am Bauch war anfangs etwas kompliziert und vor allem das Ansetzen des Melkzeuges, das die Neigung hatte, wieder abzufallen, wenn anfangs Luft in die Zitzenbecher kam. Aber auch das klappte schließlich und sie saugten sich förmlich fest. Tick-tack, tick-tack machte die Maschine. Die Bäuerin stand dabei und versuchte, mir Ratschläge zu geben, aber sie hatte ebenfalls noch nie gemolken, das war anscheinend Männersache. Ich müsste mal nachlesen, was Steiner in Bezug aufs Melken sagt, wenn er dazu überhaupt was sagt! Manchmal kam es mir so vor, als begründete der Bauer die Aufgaben der anderen zu frei auf eigene Art, aber immer in Berufung auf Steiner oder eines seiner Bücher… Die Kühe waren über mein Erscheinen so erfreut, dass zwei sogar ein Hinterbein hoben, wie ein Hund, als ich ihr Euter reinigte! Ich kam bei der Sache ganz schön ins Schwitzen, vor allem, weil ich nirgendwo sehen konnte, ob überhaupt die Milch lief, oder ob sie noch lief. Ich merkte nur, dass der Kübel, der unter dem Bauch der Kuh hing, warm wurde. Und wenn ich die Hand dranhielt, spürte ich das Einströmen der Milch. Ich wollte die Zitzenbecher abnehmen, denn mir war, als sei das Euter leer. Doch wie ging das, die Dinger waren ja festgesaugt?! Endlich schaffte ich es mit großer Anstrengung. Furzend strömte die Luft ein. Da kam es mir! Ich musste an einem Becher Luft einströmen lassen, dann fiel der Rest von selber ab! Dann abhängen, den Deckel abnehmen und den weißen Saft durch einen mit einer Papierscheibe versehenen Filter in die Kanne leeren. Die Bäuerin war ebenso erregt wie ich, um zu sehen, was da herauskommt! Langsam füllte sich der weite Aluminium-Trichter, es roch süßlich nach warmer Milch, und meine Kindheit kam mir vor Augen, als die Nolte-Buben die Nolte-Kühe molken und mich mit Milch bespritzten. Es war mir, als hätte ich die erste Stufe zum Bauern erklommen! Auch die Bäuerin schien zufrieden, und nach einer Dreiviertelstunde stiegen wir in die überheizte Stube hinauf und machten dem besorgten Bauern einen Bericht.
Die Woche verging. Der Bauer kam wieder in die Höhe und stieg umständlich in den Stall hinunter. Er schaute, auf seinen Stock gestützt, eine Weile zu und ließ es sich nicht nehmen, Kritik zu üben, oder anders ausgedrückt, meine Technik zu verbessern. Aber seine Schmerzen zwangen ihn schnell dazu, wieder nach oben zu hinken und sich hinzulegen. Doch bald war er von neuem einsatzbereit und die alte Rangordnung wurde wieder hergestellt. Nach ein paar Tagen rief mich die Bäuerin in die Küche. Der Bauer saß da, war wie verlegen und druckste herum. Dann meinte er, dass ich eigentlich die Sache nicht so schlecht gemacht hatte, und streckte mir einen 50-Mark-Schein hin. Ich war mehr als überrascht, das musste ihn eine größere Überwindung gekostet haben als das Lob! Doch auch ich hatte meinen Stolz! Ich sagte ihm, dass es ausgemacht war, ohne Entgelt zu arbeiten, und daran wollte ich mich halten!
„Das hättest du ruhig nehmen können“, meinte Doris, denn wir sind völlig pleite!“ „Ich war schon am Arbeitsamt. Die dort werden bald was haben!“ Inzwischen wurden die Erdbeeren reif und wir fuhren mit dem Bauern aufs Feld. Er hatte irgendwo mengenweise Holzwolle besorgt, die wir vorsichtig unter die reifen Beeren legten, damit sie nicht den Boden berührten. Dann zeigte er uns, wie man diese vorsichtig pflückt, so, dass der grüne runde ‚Blattnippel‘ mitsamt Stil an der Beere bleit. Das sei ein Beweis von Pflücken mit Hand und die Beere hielt so auch länger! Dann überließ er uns wieder uns selber und fuhr zurück zum Hof, nicht ohne uns vorher nochmals an das Essverbot erinnert zu haben. Mittags wollte er uns wieder abholen. „Der und uns zeigen, wie man Erdbeeren pflückt!“, meinte Doris, „das kann ich besser als der!“, und steckte die erste Beere in den Mund. „He, du weißt doch, was er gesagt hat! Willst du, dass er den Laden zumachen muss, und wir arbeitslos werden?“ „Der verdient nicht schlecht, scheint mir! Schau dir mal die Preise von seinem Gemüse an! Reinster Luxus! Und außerdem haben wir lange genug gefastet. Jetzt ist die erste Ernte da und die ist auch für die Arbeiter!“ Nach einer Weile legte sie aber doch ein paar Erdbeeren in ihr Körbchen, während meines schon voll war. Ich hatte meinen Stolz! Ich aß keine einzige der Erdbeeren während der ganzen Saison. Ich ermahnte Doris, ihren roten Mund abzuputzen, als sich der R4 des Bauern näherte. Freudig lud er die Körbe in den Kofferraum und ließ es sich nicht nehmen, zu sagen: „Ich hoffe, ihr habt auch keine gegessen! Ihr wisst ja, der erste Verdienst des Jahres…“ Natürlich machte unser Bauer nicht Pleite, und auch Doris ging es bestens. Die Erdbeerkur tat ihr anscheinend sehr gut, denn es schien sie hatte etwas zugenommen!
Inzwischen wuchs nicht nur das Unkraut auf dem Feld, sondern auch das Gras auf der Weide. Die Kühe kamen selten raus, wie man für Bio-Kühe eigentlich hätte annehmen können, weil der Bauer den Dung für die Felder benötigte. Aber bestimmt war das auch der Einfachheit halber! Man zeigte mir, wie man mit dem alten Agria-Motormäher umgeht, und nun mähte ich jeden Morgen, wenn der Reif sich in Tau verwandelt hatte, ein paar Bahnen Gras in den Obstwiesen. Dieses rechte ich dann zusammen, damit es der Bauer mit dem Ladewagen einfahren konnte. Im Stall wurde es auf die Tenne geleert und den Kühen nach und nach gegeben. Diese freuten sich natürlich und machten lange Hälse und noch längere Zungen, um es zu erreichen. Samstags wurde für Sonntag mitgemäht. Doch durfte das Gras nicht zu dick gelagert werden, da es sich sonst hätte erhitzen können, was sich als schädlich auf die Verdauung auswirken würde. So verging die Zeit, man könnte sagen, in Harmonie.