Читать книгу Eine kurze Geschichte der Mathematik - Wolfgang Blum - Страница 12
Geometrie
ОглавлениеZudem brauchten die Ägypter die Geometrie, um die notwendigen Berechnungen zum Bau ihrer exakt ausgerichteten Pyramiden auszuführen. Sie kannten bereits die Formel für das Volumen einer Pyramide (Grundfläche mal Höhe mal ein Drittel) und den ungefähren Wert der Kreiszahl Pi (in Zeichen π), die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zum Durchmesser angibt. Letzteres geht aus Problem 50 des Papyrus Rhind hervor: Ein zylindrischer Kornspeicher mit einem Durchmesser 9 und einer Höhe 6, welche Menge Korn geht hinein? Aus der Lösung, die Ahmes angibt, lässt sich errechnen, dass er mit für π gerechnet hat. Heute haben Mathematiker
π = 3,14159 … auf viele Milliarden Stellen nach dem Komma bestimmt. Ahmes hat sich nur um knapp zwei Hundertstel getäuscht.
Wie die Sumerer und die Babylonier kannten die Ägypter bereits den berühmten Lehrsatz, der heute dem Griechen Pythagoras, der erst viele Jahrhunderte später lebte, zugeschrieben wird. Jedes Schulkind kann ihn nachbeten: In rechtwinkligen Dreiecken gilt für die Seiten a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat.
Für die frühen Hochkulturen war seine Umkehrung noch interessanter: Gilt für die Seiten eines Dreiecks a2 + b2 = c2, so hat das Dreieck einen rechten, also 90 Grad messenden Winkel. So konnten zum Beispiel rechtwinklige Felder angelegt oder Pyramiden mit rechtwinkliger Grundfläche gebaut werden. Zum Abmessen genügte ein Seil, in das in gleichen Abständen Knoten geknüpft waren. Legte man es zu einem Dreieck aus und waren die Seiten jeweils drei, vier und fünf Abstände lang, so war ein rechter Winkel konstruiert. Denn 32 (= 9) plus 42 (= 16) ist 52 (= 25). Nach dem Satz des Pythagoras musste somit der Winkel zwischen den beiden kürzeren Dreiecksseiten 90 Grad haben.
Einer der am besten untersuchten Fundstücke aus Babylonien ist eine Tontafel, die heute als Plimpton 322 bezeichnet wird. Auf der etwa 3700 Jahre alten Tafel sind 15 Zeilen zu je vier Zahlen eingeritzt. Die Forscher sind sich inzwischen einig, dass die Babylonier auf ihr sogenannte pythagoreische Tripel hergeleitet haben, also jeweils drei Zahlen, die den Satz des Pythagoras erfüllen. Beispiele dafür sind 3, 4 und 5, denn 32 + 42 = 9 + 16 = 25 = 52 oder 5, 12 und 13, denn 52 + 122 = 25 + 144 = 169 = 132. Auf anderen Tafeln fanden sich sogar die pythagoreischen Tripel 65, 72 und 97 sowie 119, 120 und 169. Mit einem Taschenrechner lassen sich die entsprechenden Gleichungen schnell nachweisen: 652 + 722 = 4225 + 5184 = 9409 = 972 und 1192 + 1202 = 14161 + 14400 = 28561 = 1692.
Die 3700 Jahre alte babylonische Tontafel Plimpton 322 enthält pythagoreische Tripel, also Gruppen von jeweils drei Zahlen, die dem Satz des Pythagoras genügen.
Den Rekord bei den Babyloniern hält ein Dreieck mit den Seiten 12 709, 13 500 und 18 541 (12 7092 + 13 5002 = 161 518 681 + 182 250.000 = 343 768 681 = 18 5412). Wollte man es mit der Längeneinheit ein Millimeter zeichnen, wäre das Dreieck knapp 20 Meter groß. Wie die Gelehrten damals gerade auf diese Zahlen gekommen sind, wird wohl ein Rätsel bleiben. Zeichnen oder schlichtes Probieren reichte da sicherlich nicht.
Ob Sumerer, Babylonier und Ägypter den »Pythagoras« in seiner Allgemeinheit kannten oder nur wussten, dass er für bestimmte Längen wie drei, vier und fünf funktionierte, weiß niemand. Ob sie sich um einen Beweis der Aussage gekümmert hatten, ist ebenfalls unbekannt. Sicher gilt indes, dass der Satz, der im Lauf der Jahrhunderte auf mehrere hundert verschiedene Arten bewiesen wurde, unabhängig von diesen Kulturen auch in China und Indien entdeckt wurde.
Rund 5000 Jahre alt sind die ältesten Funde aus der Harappa- Kultur, die im Indus-Tal blühte. In den bis heute nicht vollständig entzifferten Dokumenten geht es um Handel, Maße, Gewichte und die Herstellung von Ziegelsteinen.
Die Inder benutzten den Satz des Pythagoras tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung nicht nur zum Abmessen von Feldern und Grundstücken, sondern auch zum Bau von kunstvollen Altären, zu dem es strenge rituelle Vorschriften gab. So ließ sich etwa eine lebensbedrohliche Plage nur dadurch abwenden, dass die Fläche eines Altars verdoppelt wurde. Eine Verdopplung der Fläche geht nicht einfach mit einer entsprechenden Verlängerung der Kanten eines Bauwerks einher. Will man ein Quadrat von einem Meter Kantenlänge verdoppeln, so muss man seine Kanten auf das -fache ausdehnen.
Zwar konnten die Inder bereits die Wurzel aus 2 (1,414213562…) einigermaßen genau berechnen. Doch genügten ihre Näherungswerte nicht der aus religiösen Gründen notwendigen absoluten Genauigkeit. Sie behalfen sich daher damit, den Satz des Pythagoras anzuwenden. Wie heute noch die Maurer steckten sie die Maße für einen Bau mit Schnüren am Boden ab. Der indische Gelehrte Baudhajana (um 700 v. Chr.) schreibt dazu: »Das Seil, das über die Diagonalen eines Quadrats gelegt wird, bringt eine Fläche hervor, die doppelt so groß ist wie die des ursprünglichen Quadrats.« Zwei Seiten eines Quadrats bilden mit der Diagonalen ein rechtwinkliges Dreieck. Sind die Kanten einen Meter lang, die Diagonale d Meter, gilt nach Pythagoras: 12 + 12 = d2. Aufgelöst nach d ergibt sich .
Die Summe der Quadrate über den beiden Katheten ist gleich dem Quadrat über die Hypotenuse.
In einem etwas späteren indisehen Dokument steht: »Das Seil Rechtecks erschafft eine Fläche, die der Summe der Flächen entspricht, die von der vertikalen und der horizontalen Seite erzeugt werden.« Die Inder kannten den Satz also auch in seiner allgemeinen Form, lange bevor sein Namensgeber überhaupt erst das Licht der Welt erblickte.
Der Satz des Pythagoras verdeutlicht die ungeheure Macht der Mathematik. Bereits vor Jahrtausenden entdeckt, wird er noch heute millionenfach angewendet in Navigationsgeräten von Schiffen, Flugzeugen und Autos.