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Einleitung: Was ist Mathematik?

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Mathematik kennt jeder. »Das ist das Fach, mit dem sie uns in der Schule gequält haben«, wird so mancher denken. Doch bei genauerem Überlegen ist die scheinbar einfache Frage, was das ist, gar nicht so leicht zu beantworten.

Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet: »Die Kunst des Lernens«. Mathematik gilt als die Wissenschaft der Zahlen. Doch behandelt sie zum Beispiel in der Geometrie Formen, in der Wahrscheinlichkeitsrechnung Chancen und Risiken oder in der sogenannten Booleschen Algebra die Logik.

Bloße Rechnerei ist sicher eine Voraussetzung für Mathematik, aber nicht ihr Inhalt. 3886 durch 58 dividieren zu können gilt im Zeitalter der Smartphones weniger als mathematische Leistung als zu erkennen, dass es keine größte Zahl gibt. Denn zu jeder Zahl kann man noch 1 dazu addieren und so eine noch größere Zahl erhalten.

Was ist also Mathematik? Das Wesen des Faches ist die Abstraktion. Das geht schon bei den Zahlen los. Die Zahl 3 zum Beispiel ist unabhängig von dem, was gezählt wird. Ob 3 Menschen, 3 Schafe, 3 Buchstaben oder 3 Tugenden – das Einzige, was alle gemein haben, ist die Anzahl. Jeder andere Inhalt – Mensch, Tier, Symbol oder Eigenschaft – wird ausgeblendet.

Mathematische Objekte sind keine realen Dinge, sondern Ideen. Redet ein Mathematiker von einer Gerade, so meint er damit nicht einen notgedrungen endlichen Strich auf einem Blatt Papier, sondern die Vorstellung einer unendlich langen, unendlich dünnen geraden Linie. Ebenso ist für ihn eine Kugel keine Form, die man anfassen kann, sondern die Gesamtheit aller geometrischen Orte, deren Abstand von einem gegebenen Punkt, dem Mittelpunkt der Kugel, einen bestimmten Wert, den Radius, nicht überschreitet.

Darin liegt das Wesen des Faches: Von allem Unnötigen absehen und sich auf das konzentrieren, worauf es im jeweiligen Zusammenhang ankommt. Das Vorgehen kennt jeder, der sich schon mal mit Hilfe eines Stadtplans oder eines Navigationssystems orientiert hat. Auf der Karte bzw. dem Display sind alle Straßen dargestellt, die Einzelheiten fehlen aber. Ob der Fahrweg gepflastert ist oder geteert, ob ihn Einfamilienhäuser säumen, Wiesen oder Bürohochhäuser, lässt sich nicht ausmachen. Verzeichnet ist nur das, worauf es ankommt: welche Straßen man einschlagen muss, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Wer einen Stadtplan liest oder ein Navi verwendet, abstrahiert Häuser, Autos, Fußgänger und findet die gesuchte Straße, obwohl sie nur als Strich vermerkt ist.

Mathematiker gehen ähnlich vor: Sie lassen alles weg, was nicht zur Lösung einer Aufgabe nötig ist. Ihre Wissenschaft ist die Kunst, das Wesentliche zu erkennen, zu ordnen und neue Zusammenhänge aufzudecken.

Eine Besonderheit dabei: Was einmal herausgefunden wurde, gilt für die Ewigkeit. 2 mal 2 ist ein für alle Mal 4, und die Winkel eines Dreiecks summieren sich zu 180 Grad, im Altertum wie im übernächsten Jahrhundert. Keine andere Wissenschaft kann eine solche Kontinuität von sich behaupten. Überall sonst veraltet Wissen und wird von neuen Erkenntnissen ersetzt. Selbst in der Physik, der Schwesterdisziplin der Mathematik, löste zu Beginn der Neuzeit das heliozentrische System die Vorstellung ab, alle Himmelskörper drehten sich um die Erde. Und vor gut hundert Jahren zeigten die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik die Grenzen der klassischen Physik Newtons auf.

Zwar entsteht Mathematik in den Köpfen der Menschen, doch eignet sie sich erstaunlicherweise bestens dazu, die Welt zu beschreiben. Die Natur scheint ihren Formeln zu gehorchen – vom Aufbau der Elementarteilchen bis zu den Bewegungen der Himmelskörper. Mathematische Gesetze erklären, wie der Apfel vom Baum fällt, ebenso, wie das atomare Feuer der Sonne. Frei nach Goethe könnte man sagen: »Mathematik ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält.«

Auch wenn es um Anwendungen geht, ist die Abstraktheit des Faches seine Stärke. So beschreiben etwa dieselben Formeln das Wasser im Klärbecken, wie den heißen Stahl in der Hüttenindustrie oder den Kunststoff in der Spritzgussmaschine. Denn überall fließt etwas. Und ob das Klärschlamm, Metall oder Plastik ist, verändert die Formeln kaum. Durch die Abstraktion lässt sich einmal entwickelte Mathematik in vielen Situationen anwenden, die auf den ersten Blick gar nichts gemein haben.

In unserem täglichen Leben sind wir ständig von Mathematik umgeben, ohne es zu merken. Aus der Technik ist sie nicht wegzudenken. Überall steckt sie dahinter: Computer, Autos, Kraftwerke, Flugzeuge, Kühlschränke, Handys, medizinische Geräte. Die Auflistung ließe sich endlos fortsetzen. CD-Player zum Beispiel ermitteln das Tonsignal aus einer Folge von Bits, die in einer insgesamt 5 Kilometer langen spiralförmigen Spur als Vertiefungen in die CD eingebrannt wurden. Für eine Sekunde Musik werden dabei bis zu 5 Millionen Bits gebraucht. Selbst wenn das Gerät nur jedes tausendste Bit falsch erkennen würde, käme es immer noch zu Hunderten von Fehlern pro Sekunde mit entsprechender Auswirkung auf die Klangqualität. Gründe für Fehler gibt es einige: Schmutz auf der Scheibe, Luftblasen im Plastikmaterial, Ungenauigkeiten beim Druck, Fingerabdrücke, Kratzer. Eine CD kann durchaus eine halbe Million Bitfehler enthalten. Der Hörer merkt davon nichts, weil die verwendeten Codes fehlerkorrigierend sind. Das heißt, Fehler können nicht nur erkannt, sondern sogar repariert werden. Dahinter steckt ausgeklügelte Mathematik. Eigentlich sollte jeder CD-Player einen Aufkleber haben: »Mathematics inside«. Denn wie bei allen anderen technischen Geräten ist die darin steckende Mathematik dem fertigen Produkt nicht mehr anzusehen.

Obwohl es Voraussetzung für unser Leben ist, steht das Fach Mathematik heute nicht gut da. Selbst in der gebildeten Bevölkerung gilt es oft als geradezu schick, sich als mathematische Null zu outen. Bei der Imagepflege tut sich die Mathematik per se schwer: Ihr Inhalt ist die pure Abstraktion, ihre Sprache formelhaft in doppeltem Sinn. Als richtig gilt nur das, was streng logisches Schließen ohne die geringste Lücke in der Argumentation zu Tage fördert.


Der Physik-Nobelpreisträger Eugene Wigner (1902–1995) schreibt von der »unvernünftigen Effektivität« der Mathematik: »Das Wunder der Angemessenheit der Sprache der Mathematik für die Formulierung physikalischer Gesetze ist ein wunderbares Geschenk; und zwar eines, das wir weder verstehen noch verdienen.«

Vielen ist die Mathematik, die wegen ihrer Exaktheit als Königin der Wissenschaften gepriesen wird, von Kindesbeinen an verhasst. Die Schule hat ihnen alle Lust daran verleidet und sie mit einem lebenslangen Horror geimpft. Spätestens seit den PISA-Studien ist bewiesen, dass der oft mangelhafte Mathe-Unterricht nicht nur zu Unlust führt, sondern auch zu schlechten Leistungen. Nichts ist es mit dem Volk der Dichter und Denker. In Mathe können deutsche Schüler japanischen oder finnischen nicht den Taschenrechner reichen.

Nun ließe sich einwenden, überlassen wir doch die Mathematik den Profis. Zum Bedienen des Smartphones braucht man schließlich über dessen Innenleben nichts zu wissen. Das ist zwar richtig. Aber auch im normalen Leben braucht der moderne Mensch mathematisches Grundverständnis, zum Beispiel, um die Statistiken in der Zeitung richtig zu interpretieren oder die Logik von Computerprogrammen nachzuvollziehen. Und in vielen Berufen – vom Techniker bis zum Psychologen – kommt man nicht ohne das Fach aus. Alle Wissenschaften greifen heute auf mathematische Modelle zurück. Vor allem aber sind mathematische Theorien geistig anregend und erweitern den Horizont.

Wen die Schule nicht völlig abgeschreckt hat, der kann sich auf den folgenden Seiten einen knappen Überblick über die Entwicklung der Königin der Wissenschaften verschaffen. Keine Angst, es gibt weder Noten noch langweilige Übungsaufgaben. Und wenn es an der einen oder anderen Stelle mal etwas komplizierter wird, verspricht ein Bonmot der Physikerlegende Albert Einstein (1879–1955) Trost: »Regen Sie sich nicht über Ihre Probleme mit der Mathematik auf, ich kann Ihnen versichern, meine sind noch größer.«

Eine kurze Geschichte der Mathematik

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