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Die ersten Zahlen

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Schon in der Steinzeit gingen die Menschen mit Zahlen um. Der älteste Beleg stammt aus Südafrika. Dort wurde der Schenkelknochen eines Pavians gefunden, in den jemand vor rund 35.000 Jahren Kerben geritzt hat. Der Knochen ähnelt einem Kalenderstock, wie ihn die Buschleute noch heute benutzen. Ob der Schnitzer mit seiner Liste aus 29 Strichen Tage berechnen oder seine Jagderfolge dokumentieren wollte, wissen wir nicht.

Ein etwa 15.000 Jahre alter knöcherner Werkzeuggriff, der im Grenzgebiet zwischen Kongo-Kinshasa und Uganda ausgegraben wurde und heute im naturwissenschaftlichen Museum in Brüssel liegt, gibt den Anthropologen ein besonders schweres Rätsel auf. Auf ihm sind die Kerben in Gruppen zusammengefasst, die scheinbar willkürliche Größe haben: 9, 19, 21, 11 … Möglicherweise stehen die Markierungen mit den Mondphasen in Verbindung. Ob die Ishango, so der Name des Volkes, das den Knochen hinterließ, den Mond aus religiösen Gründen betrachteten oder um Zeiten vorherzusagen, in denen man nachts gut sehen konnte, bleibt wohl Spekulation. Sicher ist nur, dass die Ishango schon vor langer Zeit beim Ausbruch eines Vulkans ausgelöscht wurden.


Rund 15.000 Jahre alt sind diese Werkzeuggriffe aus Knochen, die in Afrika gefunden wurden. Über die Anordnung der Kerben in den Griffen rätseln die Anthropologen bis heute.

Der früheste Fund aus Europa ist im Mährischen Museum im tschechischen Brünn zu bewundern. Auf einem etwa 20 cm langen Knochen eines Wolfes finden sich 57 tiefe Kerben. Die ersten 25 sind gleich lang und scheinen in Fünfergruppen angeordnet zu sein. Dann kommen zwei, die doppelt so lang sind, und schließlich wieder 30 kürzere Kerben. Ihr Urheber hat vermutlich etwas systematisch abgezählt und sich dabei an den Fingern einer Hand orientiert.

Noch heute gibt es Kulturen auf der Welt, die keine Wörter für Zahlen kennen. Die Pirahã-Indianer im brasilianischen Regenwald etwa zählen nicht einmal stumm an den Fingern ab, wie viele Fische sie zum Mittagessen grillen müssen oder wie viele Tage die Nahrungsvorräte noch reichen. Weil sie wissen wollten, ob sie beim Handel mit Paranüssen und anderen Waldprodukten betrogen würden, nahmen die Pirahã bei dem Anthropologen Daniel Everett vor knapp 30 Jahren Unterricht. Acht Monate lang drückten mehrere Männer und Frauen die Schulbank, bevor sie beschlossen, dass sie den Umgang mit Zahlen nie erlernen würden. In der Tat konnte selbst am Ende ihrer Schulzeit keiner bis zehn zählen oder gar addieren. Dass die Urwaldbewohner schlicht dumm seien, schließt Everett aus: »Die sind auch nicht langsamer im Kopf als der durchschnittliche Vordiplomstudent.«

Der US-amerikanische Linguist Peter Gordon hat die mathematischen Fähigkeiten der Pirahã getestet. Das Ergebnis war niederschmetternd: Das Völkchen hat mit Zahlen so viel am Hut wie Tauben oder Schimpansen.

Noch streiten die Forscher, warum die Pirahã offenbar unfähig sind, die einfachsten Rechnungen durchzuführen. Die einen behaupten, es liege daran, dass es in ihrer Sprache keine geeigneten Wörter gäbe, und die Sprache bestimme, wie wir Menschen dächten. Deshalb gelänge es dem Urwaldvolk auch auf Portugiesisch nicht, sich Zahlen anzueignen. Everett widerspricht dem jedoch. Er glaubt, die Kultur der Pirahã schaffe keinen Platz für Zahlen. Die Indios bevorzugten direkte persönliche Erfahrungen. Sie leben ausschließlich im Hier und Jetzt. So kennt ihre Sprache weder Nebensätze noch Zeiten.

Die meisten anderen Völker kennen Zahlwörter – zumindest für eins und zwei. Bei den Aranda in Australien etwa heißt eins »ninta« und zwei »tara«. Für drei sagen sie »tara-ma-ninta«, also zwei und eins, für vier »tara-ma-tara«, zwei und zwei. Für alle höheren Zahlen haben sie nur ein Wort: »viele«. Ähnliche Zahlensysteme finden sich rund um den Globus: bei den Buschmännern in der afrikanischen Savanne ebenso wie bei den Indianern im Amazonasdschungel.

Ein Überbleibsel hat sich sogar noch in modernen Sprachen erhalten. Die Wortwurzel vom lateinischen »tres« (drei) stammt von »trans« (deutsch: jenseits) ab. Im Französischen etwa hat sich das erhalten: »trois« heißt drei, »très« sehr.

Viele Sprachen, wie das Arabische, unterscheiden zwischen Einzahl, Zweizahl (für genau zwei) und Mehrzahl (für mehr als zwei). Andere verwenden beim Abzählen runder Gegenstände andere Wörter als bei länglichen. Auch im Deutschen haben zwei Dinge oft einen speziellen Namen: ein Paar Schuhe, Zwillinge, ein Duo.

Um mit Zahlen umzugehen, mussten unsere Vorfahren die Vielfachheit von etwas als Eigenschaft erkennen können. Es galt, das Gemeinsame von drei Beutetieren, drei Kokosnüssen oder drei Menschen zu sehen. Erst dann ergaben drei Kerben in einem Knochen Sinn. Neben Kerben, Stöcken oder Steinchen verwendeten die Menschen seit Urzeiten die selbe Art von Zählmarken wie heute noch kleine Kinder oder Buchmacher auf dem Rennplatz: ihre Finger. Reichten die nicht mehr aus, griffen viele Naturvölker auf die Zehen zurück. Ein besonders ausgeklügeltes System benutzten die Bewohner der Torres-Strait-Inseln zwischen Australien und Neuguinea noch bis ins 19. Jahrhundert. Sie begannen auf der rechten Körperseite zu zählen. Die fünf Finger der Hand standen für die Zahlen 1 bis 5. Anschließend kamen das Handgelenk (6), der Ellbogen (7) und die Schulter (8). Über das Brustbein (9) ging es dann auf der linken Seite weiter: Schulter (10), Ellbogen (11), Handgelenk (12), Finger (13 bis 17), Zehen (18 bis 22), Knöchel (23), Knie (24) und Hüfte (25). Rechts zählten die Insulaner dann über Hüfte, Knie, Knöchel und Zehen bis zu 33.

Die Ureinwohner anderer pazifischer Inseln zählten in ähnlicher Weise, manche nahmen gar Augen, Ohren, Nase und Mund zur Hilfe. Rechenunterricht artet da in Gymnastik aus.

Indem man immer wieder von vorn beginnt, lassen sich beliebig große Zahlen an den Fingern abzählen. Allerdings muss man sich dabei merken, wie oft man schon bis 10 gezählt hat. Einfacher ist es, mit einer Hand zu zählen und mit der anderen zu vermerken, wie viele Fünfer es schon sind. Die beiden Hände stehen dann für Verschiedenes: Die eine zählt die Einer, die andere die Fünfer. Das ist das Prinzip aller weiter entwickelten Zahlensysteme, einschließlich des heute gebräuchlichen Dezimalsystems, bei dem an der letzten, der Einer-Stelle, immer wieder bis 10 gezählt wird, während an der vorletzten, der Zehner-Stelle, notiert wird, wie oft bereits bis 10 gezählt wurde.

Eine kurze Geschichte der Mathematik

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