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2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«

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Momentan schien es, als hätte für Ideologie und Praxis des Neo­liberalismus die letzte Stunde geschlagen. Nach den dreißig ›golde­nen Jahren‹ des fordistischen Keynesianismus hatte er die ­darauf folgenden dreißig Jahre des Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus beherrscht. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen war zu lesen, der »amerikanische Kapitalismus« habe, »weitgehend unbedrängt von staatlicher Kontrolle, seine eigenen Selbstmordattentäter hervor[gebracht], deren Sprengsätze, die Derivate, selbst noch die Wirkung der fliegenden Bomben der Dschihadisten übertreffen. Nicht nur New York, die ganze Welt hat einen neuen ›Ground Zero‹16: Wallstreet.« (Kohler 2008) Stand eine Revolution vor der Tür? »Sieben Tage, die den Kapitalismus erschütterten«, überschrieb El País, die globale spanischsprachige Tageszeitung, ihre Wirtschaftsbeilage in Anspielung auf John Reeds Zeitzeugenbericht über die Oktoberrevolution von 1917. Kündigte sich der Zusammenbruch des Kapitalismus an? Für den neoliberalen Marktfundamentalismus jedenfalls war laut Joseph Stiglitz die ­Bankenkrise, »was für den Kommunismus der Fall der Berliner Mauer war« (16.9.08).

16 Zur Erinnerung: »Ground Zero« hieß in der Sprache der US-Armee das von ihr nuklear vernichtete Hiroshima. In einem Akt sprachlicher Opferenteignung übertrug man den Term nach 11/9 auf die Trümmerstätte der New Yorker Zwillingstürme.

Aus dem bürgerlichen Lager der Bundesrepublik hat einer der FAZ-Herausgeber, Frank Schirrmacher, dem Moment der politisch-ökonomischen Doppelkrise den schärfsten Ausdruck verliehen: »Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken.« (2008a) Zur Jahrhundertwende hatte er noch den mythischen Allmachtphantasien der »New Economy« rhetorischen Auftrieb gegeben, die Internet-Spekulationsblase geistig verdoppelt und die Goldgräberstimmung der Informationsrentensucher17 angeheizt (vgl. HTK I, 89ff). Doch nun, im Moment der Panik vom Herbst 2008, verzeichnete er wie ein Seismograph das Tiefenbeben, dessen Fernwirkungen anderswo noch nicht so deutlich registriert worden waren. »Während sich jetzt linksintellektuelle Milieus in den Katastrophen der bestehenden Ordnung bestätigt fühlen können und daraus Folgen für den Geschichtsverlauf ableiten, hat das deutsche Nachkriegsbürgertum, das sich in den großen Volksparteien sammelte, keine nennenswerte Utopie entwickelt, die über den US-amerikanischen Traum und das Urvertrauen in dessen demokratische Garantien hinausginge.«

17 Als »Informationsrente« begreift Roberto Verzola »eine spezifische Form der Mehrwertaneignung, begründet mit sog. intellektuellen Eigentumsrechten. Mikro­elektronik und Digitalisierung haben die Bedeutung der Informationsrente explosiv gesteigert.« (Ralf Krämer, »Informationsrente«, HKWM 6/II, 1100)

Schirrmacher registrierte den »Entzug dieses Fluchtpunkts« als momentanen politischen Nihilismus. »Bush multipliziert uns mit null.« Als Linker hatte man die analoge Erfahrung gemacht, vom moralischen Ruin des Sozialismus politisch mit null multipliziert worden zu sein. Doch die Kapitalismuskritik und die Perspektive solidarischer Vergesellschaftung waren dadurch nicht ausgelöscht, während hier die Perspektive ausgelöscht schien. Es waren vor allem Reflexionen John Bergers aus Le Monde diplomatique vom Februar 2003 über den von der Regierung Bush praktizierten Machttypus, denen Schirrmacher sich unterm Eindruck der Krise nicht mehr verschließen mochte: »Jenseits der Ideologie«, hatte Berger über die USA geurteilt, »basiert ihre Macht auf zwei Drohungen. Die erste ist die Intervention aus dem Himmel durch den am stärksten bewaffneten Staat der Erde. Man kann es [nach dem Kürzel für den Langstreckenbomber der US-Luftwaffe] die Drohung B 52 nennen. Die zweite ist rücksichtslose Verschuldung, Bereitschaft zum Bankrott und, angesichts der Wirtschaftsbeziehungen in der Welt, dadurch ausgelöste Verarmung und Hunger. Man kann diese Drohung ›Drohung null‹ nennen.« Im Krisenherbst des Jahres 2008 sah nun Schirrmacher »die Phase der Null […] im Begriff, zu einem historischen Ereignis zu werden«. Was den bürgerlichen Liberalen bleibe und sich mit der staatssozialistischen Hypothek vergleichen lasse, sei »die beschämende Erfahrung der tiefen Untreue gegen uns selbst, das überwältigende Erlebnis der Ohnmacht«. In John Bergers Worten: »In den sich ständig wiederholenden Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen und Drohungen sind die immer wiederkehrenden Begriffe Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus. Jedes dieser Worte bedeutet in seinem Kontext exakt das Gegenteil, was es einst bedeutete. Jedes ist […] ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist.«

Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

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