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4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit
ОглавлениеIt may be more productive, then, to combine all the descriptions and to take an inventory of their ambiguities – something that means talking as much about fantasies and anxieties as about the thing itself.
Fredric Jameson (2000)
In diesem Buch werden wir uns das politisch-ökonomische Drama der Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen als unvollendete Vergangenheit, in der Form künftiger Erinnerung erzählen, um sie als geschichtliche zu verstehen. Während zur Fiktion des Objektivismus die Zeitlosigkeit gehört, entfaltet sich unsere Erkundung in eben der Zeit, in welcher der historische Prozess weitergeht, den vorigen Moment korrigiert und der Wahrnehmung ständig neue Rätsel aufgibt. Unsere Dokumente sind aus dem Geschehen auftauchende Sichtweisen, und die Fakten, die wir anführen, zählen immer auch als von bestimmtem Standpunkt aus gesehene. Die kritischen Zeugen, die wir als Personen dadurch deutlicher hervortreten lassen, dass wir ihnen in den verschiedenen Etappen unserer Geschichte das Wort geben, sollen die Möglichkeit stiften, an ihnen das Kontinuum aufzubrechen. Ihre Namen sind immer dieselben, nicht aber die Namen, die sie den Verhältnissen und den in ihnen Agierenden geben. Wenn »Qualitäten ruckweise zerfallen« und das Gesamtbild sich ändert, ändern sich die Sichtweisen. Im Moment der bruchartigen Umschwünge erfasst diese Wechselhaftigkeit im Bewusstsein der Zeitgenossen die Geschichte selbst. Als 1989 der sowjetische Demokratisierungsversuch unter Gorbatschow in die Krise kam, konnte man die Erfahrung machen, »dass sich heute in der Sowjetunion nichts so schnell bewegt wie die Vergangenheit« (PJ, 15). In solchen Sichtänderungen lässt sich die Erfahrung der Beteiligten erfahren und zugleich auf jene Distanz bringen, die wir historisch nennen. Meinungen scheinen in ihrer Wetterwendigkeit auf eine Weise historisch wie historische Kurse an der Börse. Im Extrem mag man sie für Windfahnen halten. Aber als solche zeigen sie die Windrichtung an. In ihrer Subjektivität spiegeln sie etwas Objektives. Dessen unmittelbar habhaft werden und Geschichte subjekt- und damit zeitlos schreiben zu wollen, ist illusionär. Je ferner der historische Gegenstand liegt, desto sicherer kann sich der Historiker in diesem illusorischen Glauben wiegen. Der Autor gegenwartsgeschichtlicher Betrachtungen kann es nicht. Für ihn gibt es keinen Standpunkt »über dem Getümmel«, wie Romain Rolland ihn 1915 für sich reklamierte. Für ihn gibt es solches Heraustreten allenfalls in dem Sinn, dass er, der sich auf demselben geschichtlichen Feld tummelt wie die Personen, die in seinem Bericht auftauchen, mit seiner subjektiven Sicht weder hinterm Berg hält, noch sie als objektive Gewissheit ausgibt, sondern sie beobachtbar macht, indem er den Fortgang sie relativieren lässt. Das Wort hat nicht der allwissende Erzähler, sondern der Forscher, der aus dem Getümmel seiner Zeit heraus deren Tendenzen auf den Begriff zu bringen sucht.
Friedrich Engels hat die Grenzen »der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte« an der Unmöglichkeit festgemacht, »den Gang der Industrie und des Handels auf dem Weltmarkt und die in den Produktionsmethoden eintretenden Änderungen von Tag zu Tag derart zu verfolgen, dass man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine Fazit aus diesen verwickelten und stets wechselnden Faktoren ziehen kann, Faktoren, von denen die wichtigsten obendrein meist lange Zeit im Verborgenen wirken, bevor sie plötzlich gewaltsam an der Oberfläche sich geltend machen« (1895, 8/511). Jeder Versuch »einer zusammenfassenden Tagesgeschichte« schließe »unvermeidlich Fehlerquellen in sich«, fährt Engels fort, »was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben« (512). Weiter geht der Gefangene Gramsci in seinen Gefängnisheften, wenn er davor warnt, es könnte »sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen« (Gef 6, 1367). Auch wir, die wir uns unter unvergleichlich besseren Bedingungen an der »Tagesgeschichte« versuchen, verhehlen uns nicht, dass unser Bericht »bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten« wird (ebd.).8
8 Zu den eher harmlosen Ungenauigkeiten werden die Zahlen gehören, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden. Die den Tagesveröffentlichungen entnommenen Summen und Prozentsätze dienen als Anhaltspunkte, an denen sich Entwicklungstendenzen ablesen lassen. Da wir keine wirtschaftshistorische Abhandlung, sondern einen Beitrag zum philosophisch reflektierten Gegenwartsverständnis vorlegen wollen, trösten wir uns mit Paul Krugmans Diktum, Wirtschaftsstatistik sei eine Form von Science Fiction, bloß nicht so unterhaltend. »All economic statistics are best seen as a peculiarly boring form of science fiction, but China’s numbers are more fictional than most. I’d turn to real China experts for guidance, but no two experts seem to be telling the same story.« (Krugman 2011f)
Gerade indem wir dieses Risiko eingehen, widerstehen wir jenem »markttechnischen Determinismus«, der Gedächtnislosigkeit generiert, von dem Armand Mattelart spricht.9 Wenn die kommerzialisierte Kultur unterhaltender Zusammenhangslosigkeit uns als zerstreute Konsumenten möchte, so hat das Internet einen ähnlichen Effekt. Eine schlichte Frage an die Suchmaschine überflutet den Fragenden mit Antworten, die ihm immer neue Eingänge weisen. Hier lässt sich erfahren, was schlechte Unendlichkeit heißt. Alles scheint erreichbar, nichts greifbar. Ein jedes ist dazu bestimmt, alsbald dem nächsten Platz zu machen.
9 Vgl. Mattelart 2003, 141. »Der Diskurs, der die Informationsgesellschaft begleitet, hat das Prinzip der tabula rasa zum Gesetz erhoben. Es gibt nichts, was nicht veraltet wäre.« (Ebd.)
In dieses Meer der Meinungen wirft begriffliches Denken den Rettungsring der Erfahrung. Es stellt den Zusammenhang der Phänomene in der Gegenwart her, wie die Erinnerung ihren Zusammenhang auf der Zeitachse. Nach der Verwünschung des Wissens in Information, geht es ihm darum, Information zum Wissen zu erwecken und dieses zum Nachdenken zu bringen. Da mit der Ökonomie der tonangebenden Ökonomen, die über keine Krisentheorie verfügen, sich in der Großen Krise nichts Vernünftiges anfangen lässt und da »in den letzten 30, 40 Jahren eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert« worden ist (Hobsbawm 2009), schalten wir nach einer ersten Phänomenbeschreibung der Krise ein Kapitel über marxsche Krisentheoreme ein. Ohne eine elementare Kenntnis derselben würde unsere im Material der Zeit arbeitende Erkundung unverständlich. Theoriegeleitet zu verfahren, heißt nicht, aus Theorie abzuleiten. Wir brauchen die Theorie teils da, wo sie das Material ins rechte Licht rückt, teils dort, wo das Material die theoretischen Deutungen zurechtrückt. Vom Material ausgehend, experimentieren wir mit theoretischen Annahmen und unterziehen diese der Wirklichkeitsprobe. In diesem Sinn gehen wir zum Beispiel im ersten Teil mit dem marxschen Begriff der »Überakkumulation von Kapital« (25/261) oder im zweiten Teil mit Gramscis Begriff der Hegemonie ans reale Geschehen heran.
Wird sich die Idee vor der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit vor der Idee blamieren? Das kommt darauf an, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Denken wir sie als Faktizität, mag es so aussehen, als blamierten sich die Begriffe. Denken wir Wirklichkeit als Wirkendheit, kann die faktische sich vor dem Begriff blamieren wie eine stümperhafte Politik vor der Idee der Hegemonie, der ein Bild glückender Politik innewohnt. Die das Geschehen begrifflich durchdringende Darstellung wird dann zur Kritik. Denn in begrifflichem Denken spielt der schwache utopische Impuls, dass es vernünftig zugehe in der Welt. Freilich ist die Wirklichkeit des Vernünftigen, wie Hegel sie verkündet, »nichts Vorausgesetztes, sondern ein unablässiges fortschreitendes Gemacht-Werden« (Gef 5, 1120), wie Gramsci sagt, und dazu eines, das in der antagonistischen Gesellschaft sich ein ums andere Mal durchkreuzt findet und jederzeit auf dem Sprung zu sein hat, neu zu entspringen.
Um solcher Durchkreuzung zu entgehen, hat Slavoj Žižek der Occupy-Bewegung empfohlen, keine konkreten Forderungen zu erheben, weil »jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben« müsse (2011). Doch die Auswanderung aus dem Hier und Jetzt ins Nie und Nimmer ist nicht die Lösung. Es ist wahr, wir brauchen einen utopischen Atem, um uns nicht im Hier und Jetzt zu erschöpfen. Doch den Ort der Gefahr, die es zu wenden gilt, können wir nicht fliehen. Bewegt sich unsere Untersuchung auf »feindlichem Gebiet«? Man wird sehen, dass diese Ortsbeschreibung zu simpel wäre. Gewiss, wir verlassen die Gefahrenzone nirgends. Doch sie ist nicht unumstritten in der Hand jenes »Feindes«, von dem Benjamin sagt, dass er »zu siegen nicht aufgehört hat« (I/2, 695). In der Zeit, von der wir handeln, hat dieser Feind die Gestalt der Auslieferung des menschlichen Gemeinwesens und seines Lebensraumes an die ›Märkte‹ angenommen.