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5. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (I)

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»Spekulation« ist »Mystik für den Verstand«

Karl Jaspers, Philosophie, 3, Met., 135

Allem kapitalistischen Handeln wohnt ein Moment von Spekulation inne. Für die Betrachtung kann es zurücktreten hinter den konkreten Herstellungsprozessen und ihren anlagemäßigen und persönlichen Verkörperungen. Doch insofern diese Prozesse markt- und gewinnorientiert sind, gilt allemal: »Wer spekuliert, versucht sein Glück mit dem Fetischcharakter der Ware Kapital. Das Machwerk, das Macht über die es Machenden hat (KV I, XI.5) und dessen Bewegung sich zwar aus ihrem Handeln speist, aber gegen dieses sich verselbständigt, erlaubt die Wette auf seine nächste Oszillation.« (KV II, 180)

Aber natürlich ist einer, dessen Handeln ein spekulatives Moment innewohnt, deshalb noch lange kein Spekulant im umgangssprachlichen Sinn. Hat es also nicht wenigstens einen Sinn, die »Spekulanten« zu verurteilen? Auf diese Frage lassen sich Antworten auf zwei Ebenen suchen. Die erste geht uns leichter ein, weil Wirtschaftspolitik angebbare Akteure und damit auch ›Schuldige‹ kennt, während die zweite Antwort systemisch ist und wir uns mit unserem moralischen Verlangen nach persönlich zurechenbarer Schuld schwer tun. Halten wir uns also zunächst an die Ebene der Politik. Hier stoßen wir, zumal bei der Hauptmacht des Kapitalismus, den USA, auf die wirtschaftspolitische Bemühung, »der unzureichenden Nachfrage durch die Förderung vermehrter Kreditaufnahme zu begegnen – im öffentlichen wie im privaten Bereich«. Robert Brenner, der so spricht (2009, 6), hebt hervor, dass bereits unter Clinton »private Verschuldung die Rolle [übernahm], die zuvor der öffentliche Kredit gespielt hatte. An die Stelle des traditionellen Keynesianismus trat etwas, was man ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ nennen könnte.« (Ebd.) »Keynesianismus« ist er freilich nur mehr in einem vulgarisierten Verständnis, da »Keynes zwar nachfragepolitisch gefördertes Wachstum befürwortete, aber die wesentliche Einschränkung machte, dass dies nur solange Sinn hätte, als damit noch merkliche Wohlstandssteigerungen zu erreichen sind. Auf längere Sicht hielt er hingegen die Stagnation für unausweichlich und damit auch eine Umorientierung weg vom Wachstum hin zu kürzeren Arbeitszeiten« (Zinn 2008c, 39).30 Bei der konjunkturpolitisch ausgenutzten Börsenblase dagegen dienen die momentanen Kurse von Wertpapieren sowie die Hauspreise als Basis für Konsumentenkredite. In der Folge ist die Konsumnachfrage »mehr denn je vom Auf und Ab der Kurse bestimmt« (Katz 2011). Unter der Präsidentschaft George W. Bushs hatte sich daran nur insofern etwas geändert, als nun auch der Staat auf Pump lebte, schon um zwei Kriege finanzieren zu können, ohne auf Steuergeschenke an die Reichen verzichten zu müssen. Nach dem Platzen der Dot.com-Blase zu Beginn des Jahrhunderts stützte der ›Vermögenspreis-Keynesianismus‹ der Konsumentenkredite sich einseitig auf den Immobilienmarkt. Dass einige Staaten und staatliche Notenbanken konjunkturpolitisch geradezu als Zuhälter der Spekulation gehandelt haben, erklärte die Frankfurter Allgemeine im März 2008 zur Folge des »Doppelschlags«, der die US-Ökonomie 2000/2001 getroffen hat: »Erst platzt die Internetaktienhausse, dann folgen die Terrorangriffe vom 11. September.« (Fehr 2008) Die Politik antwortete mit Kaufaufrufen, Zinssenkung und Krediterleichterungen, um, wie Peter Gowan (2009) gezeigt hat, das Platzen der Dot.com-Blase frei nach Hyman Minsky strategisch durch den Aufbau der Immobilienblase zu kompensieren.31 »Wir haben daher«, fährt Brenner (2009, 6) fort, »während der letzten etwa zwölf Jahre das außergewöhnliche Schauspiel einer Weltwirtschaft erlebt, in der die Fortdauer der Kapitalakkumulation buchstäblich abhängig geworden ist von historischen Wellen der Spekulation, sorgfältig genährt und rationalisiert durch die staatlichen Entscheidungsträger und Behörden«. Keine Rede mehr von gierigen Bankern.

30 Insofern »bedeutet der Keynesianismus nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die stärkste wirtschaftstheoretische und ideologische Bedrohung für die neoliberale Gegenreformation« und »ist deshalb weit mehr als eine wirtschaftstheoretische Gegenposition zum Neoliberalismus; er ist die demokratische Alternative zur folter- und schießwütigen Inquisition des gegenwärtigen Kapitalismus, zum praktizierten ›Pinochetismus‹ der Kapitalstrategie der Gegenwart.« (Zinn 2008c, 38)

31 »Indeed, the operational belief systems of what might be called the Greenspan-Rubin-Paulson milieu seems to have been post-Minskian. They understood Minsky’s theory of bubbles and blow-outs, but believed that they could use it strategically for blowing bubbles, bursting them, and managing the fall-out by blowing some more.« (Gowan 2009, 10)

Und selbst noch 2009, da laut Weltbank die Große Krise noch immer keinen »Boden«, wie die Börsianer sagen, gefunden hatte, beschrieb der Leiter der Abteilung Volkswirtschaft der DZ-Bank die Situation folgendermaßen: »Der zweifellos auf der Welt vorhandene Geldüberhang dürfte sein Ventil eher in einer neuen ›asset bubble‹ finden« (Jäckel), einer erneuten »Anlagen-Spekulationsblase« – das ist der Kern von Brenners »Vermögenspreis-Keynesianismus«.

Doch Vorsicht! Das moralische Schuldverlangen darf sich nicht vorschnell auf die US-Regierung festlegen. Denn die ganze Welt hat davon gezehrt. Ihr Geld vermehrt haben die einen, Lohnarbeit gefunden die anderen. Dass die USA in Folge jener Politiken zunehmend mehr verbrauchten, als sie herstellten, und als »Konsumenten letzter Instanz« wirkten, wurde zum Konjunkturmotor der Welt. Chinas Überproduktion bildete die komplementär-dynamische Gegenmenge zur US-Überkonsumtion. Dafür legte China seine Handelsüberschüsse vornehmlich in US-Staatsanleihen fest, zumal Direktinvestitionen von der US-Politik behindert wurden. Auf die dabei sich entfaltende Herr-Knecht-Dialektik kommen wir im »Chimerika«-Kapitel zurück.

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