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6.3 Das Überakkumulationsgesetz

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Der kapitalistische Gesamtprozess wie alle private Warenproduktion regelt sich reaktiv aus der Verfehlung des Gleichgewichts, da der gesellschaftlichen Gesamtproduktion kein Plan zugrunde liegt. Das gilt auch für die kapitalistische Warenproduktion. Doch bei ihr kommt etwas Entscheidendes hinzu. Und zwar ist die Verfehlung der gleichgewichtigen Proportionalität ihrem bestimmenden Zweck und treibenden Motiv, der Aneignung von Mehrwert und seiner Verwandlung in zusätzliches Kapital, eingeschrieben. Kurz, die Kapitalverwertung tendiert zur Überakkumulation. Diese schlägt in unregelmäßigen Abständen um in Kapitalvernichtung.

Das wird deutlich, wenn man folgende Bewandtnisse der Kapitalverwertung vor Augen führt: Da Geld nur quantitativ zählt, kennt Geldvermehrung keine qualitative Grenze. Kapitalanhäufung heißt Akkumulation, und Marx bringt die Kapitaldynamik auf die Formel »Akkumulation um der Akkumulation willen« oder, als abgeleitete Notwendigkeit, »Produktion um der Produktion willen« (23/621). Man kann den Kapitalprozess daher »produktivistisch« nennen. Damit will man sagen, dass er an keiner Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zur Ruhe kommt. Dieses dem Kapital wesensfremde Zur-Ruhe-Kommen könnte unter anderen Verhältnissen etwa so aussehen, dass Produktivkraftentwicklung in proportionale Arbeitszeitverkürzung umgesetzt wird, die den derart partiell Freigesetzten ermöglicht, sich im Sinne dessen, was Frigga Haug (2008) die »Vier-in-einem-Perspektive« genannt hat, als gesellschaftliche Individuen weiterzuentwickeln. Der kapitalistische Produktivismus dagegen mündet in ein stets wachsendes Mehrprodukt, und die kapitalspezifische Natur dieses Reichtums zeigt sich darin, dass er sich auch nur kapitalistisch, das heißt, als sich verwertender Wert oder Einsatz zwecks weiterer Reichtumsvermehrung realisieren lässt. Die gesellschaftliche Reproduktion ist vom Standpunkt des reinen Verwertungsprozesses nie Zweck, allenfalls Medium und Effekt der Selbstvermehrung des Kapitals. Sie dem Markt zu überantworten und Staat und Zivilgesellschaft aus der Verantwortung zu entlassen, stürzt sie daher unweigerlich in die Krise.

Die Selbstvermehrung des Kapitals muss nun eine Hürde überwinden, die ihr selbst entspringt. Bereits der Wert der Waren und damit der in ihm enthaltene Mehrwert bedarf seiner Realisation als Verkaufserlös – ein immer riskanter Vorgang, den Marx mit einem Salto Mortale in die Geldform vergleicht. Und nun verlangt der so realisierte Mehrwert nach einer zweiten Realisation, die seine dominante Bestimmung erfüllt, sich aus Geld wiederum in Kapital zu verwandeln. In neues Kapital verwandelt es sich, indem es sich in seine sachlichen und persönlichen Produktionsmittel umtauscht und in den Verwertungsprozess eintaucht. Der Produktionsdurchgang stößt wiederum in Waren gebundenen Wert (einschließlich Mehrwert) aus, dessen Realisation ihn aufs Neue als Geld erscheinen lässt. Doch bei jedem Durchgang erhebt sich auf wachsender Stufenleiter erneut die Frage, woher die zahlungsfähige Nachfrage nach jenem Mehr an Produkten kommt. Diese Frage hat Rosa Luxemburg aufgegriffen und ihrem ökonomietheoretischen Hauptwerk über die Akkumulation des Kapitals zugrundegelegt: »Wie ist es aber mit der Realisierbarkeit der Früchte jener Ausbeutung, mit den Absatzmöglichkeiten?« (RL 5, 418)

Jenes Mehr ließ das Kapital einzig für sich selbst produzieren. Nun zeigt sich, dass seine Umwelt, obgleich sie ihm an sich gleichgültig ist, ihm doch nicht in jeder Hinsicht gleichgültig sein kann. Sie dient dem Kapital als Realisierungsmittel. Doch der Witz des Kapitals ist, dass es die Realisierungsmittel gerade selbst aneignet, sie also der Gesellschaft vorenthält. Es ist, als ginge es darum, das englische Sprichwort zu widerlegen: »You can’t have the cake and eat it«. Damit das Kapital diesen Kuchen kriegt, müssen andere ihn schlucken. »Gerade dass der ›Genuss‹ der Produkte auf andere übertragen wird, ist für das Kapital entscheidend«, sagt Rosa Luxemburg. »Denn der Genuss der eigenen Klassen: Kapitalisten und Arbeiter, kommt für die Zwecke der Akkumulation nicht in Betracht.« (RL 5, 373) Aber wie kann Warenwert von anderen fürs Kapital realisiert werden, wenn dieses die möglichen Realisierungsmittel gerade für sich behalten muss, weil anders sein Nachwuchs nicht in seine Fußstapfen treten und zu Kapital werden könnte und es damit auch seinem eigenen Kapitalcharakter an den Kragen ginge? Nicht die Realisierung der Gewinne, sondern die aus ihnen zu bestreitende Akkumulation des Kapitals bildet also die eigentliche Schwierigkeit. Denn das Kapital lebt einzig in der ewigen Unruhe des Verwertungsprozesses. 35

35 Der »kreislauftheoretische Sachverhalt, dass Gewinne vor allem von den Ausgaben der Kapitaleigner als Klasse selbst, dann noch von den kreditfinanzierten Staatsausgaben und dem Leistungsbilanzüberschuss abhängen« (Zinn 2008c, 27), ist davon zu unterscheiden.

Eine Menge finanztechnischer und wirtschaftspolitischer Instrumente sind erfunden worden, um zu verhindern, dass dieser Widerspruch explodiert. Im Zweifelsfall dient »Militarismus als Vollstrecker der Kapitalakkumulation« (RL 5, 385), wobei »die durch das Steuer-System in der Hand des Staates konzentrierten Mittel zur Produktion von Kriegsmitteln verwendet werden« (400f). Unter den Methoden zur Schaffung von Akkumulationsfeldern führt Luxemburg u.a. das »internationale Anleihesystem« auf (397).

Als Luxemburgs Akkumulationsbuch erschien (1913), war Papiergeld noch durch Gold gedeckt. Indem dieses für die Wertsubstanz des Geldes einstand, war dieses System letztlich auf von Banken gebündelte Ersparnisse angewiesen. Die Aufhebung der Golddeckung zunächst vorübergehend im Ersten Weltkrieg und schließlich, nach weiteren Wechselfällen, definitiv zu Beginn der 1970er Jahre emanzipierte mit dem Geld den Kredit von der Wertsubstanz. Die seither erfolgte Explosion der Kreditinstrumente und –derivate aller Art konnte die Grenzen der Kapitalakkumulation immer wieder hinausschieben. Doch den schließlichen Ausbruch der Krise konnte sie nur verzögern, und die Nebenwirkungen dieser Medikamente bilden ebenso viele neue Krisenpotenziale. Im Manifest beschreibt Marx, noch ohne schon die Feinanalyse des Krisenmechanismus geleistet zu haben und erst recht ohne Kenntnis der neuen Finanzinstrumente, die Folgen dieses Widerspruchs zweiter Ordnung: »Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.« (4/468)

Im Kapital geht es dann vollends zur Sache. Hier wird der Boden, auf dem die Finanzkrise erwächst, begrifflich ausgemessen: Überproduktion von Kapital treibt immer mehr Geldkapital zur Anlage in Papiere, die handelbare »Ansprüche des Eigentums auf die Arbeit« (25/493), genauer gesagt: Rechtsansprüche auf künftiges Mehrarbeitsprodukt darstellen. Wenn ein periodischer Zahlungsanspruch (Miete oder andere Zinsen) gehandelt wird, errechnet sich sein Preis durch »Kapitalisierung«. Damit ist gemeint, dass berechnet wird, wie groß ein Kapital bei gegebener durchschnittlicher Ertragslage sein müsste, um genau diesen Ertrag abzuwerfen. Im Unterschied zum Einsatz von Realkapital in Gestalt sachlicher und persönlicher Produktionsfaktoren handelt es sich hier um fiktives Kapital. Fiktiv ist es, weil es nur einen selber produktionslosen Anspruch auf eine regelmäßige Zahlung ist, die ihrerseits ebensowenig der Produktion entspringt. In seiner Verknüpfung von Geld und mehr Geld über ein zeitliches Intervall hinweg bildet es nur ein Kapital-Analogon. Wird der Kurs solcher Aneignungsansprüche durch die Vermehrung anlagesuchenden Geldes nach oben getrieben, was, weil Kursgewinne winken, wiederum den Antrieb zur Anlage steigert, bläht das fiktive Kapital sich auf. Vervielfacht durch den Kredit, den es auf seine spekulativen Objekte zieht, beschäftigt anlagesuchendes Geldkapital sich gleichsam so lange mit sich selbst – bis die Kapitalfiktion platzt.

Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

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