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Eine seltsame, nicht eucharistische Wandlung

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Der Qualm der Zigarren und Zigaretten erfüllte die „Himmelsleiter“. Schweigen herrschte am Stammtisch der Philosophen, als Cora aus dem Bocksbeutel einschenkte.

„Heute gefällt es Ihnen hier wohl besser als sonst?“, fragte Cora in die Runde.

„Das liegt sicherlich an deiner Anwesenheit“, antwortete Hüpsch, ganz in den Ausschnitt der Bedienung vertieft.

„Und wohl auch an unserem Thema heute“, ergänzte Plunder.

„So? Wovon wird denn heute geredet? Darf man das wissen?“ Cora war neugierig geworden.

„Ach, das interessiert dich sowieso nicht. Nur Wissenschaftliches und Geschichtliches“, antwortete Meiseneier.

„Geschichtle hör’ ich gerne. Darf man zuhören?“

„Ich weiß aber nicht, ob dich unsere Geschichten interessieren. Es geht um ein kirchliches Thema. Um ein Spezialthema mit Christus“, versuchte Meiseneier Cora abzuwimmeln.

„Ach, mein lieber Meiseneier, lassen Sie sie doch zuhören. Das mit dem Sie wissen schon, was ich meine, können Sie ja weglassen“, bestimmte plötzlich Hüpsch den Fortgang des Gesprächs. Komm, setz dich neben mich und hör schön zu!“

Hüpsch rutschte gerade so weit zur Seite, dass Cora dicht bei ihm saß.

Meiseneier nahm seufzend den Faden wieder auf: „Meine Nachforschungen in den alten Schriften und Aufzeichnungen des Domkapitels lassen den Weg des Sie wissen schon, was ich meine, vom Heiligen Land bis nach Würzburg, abgesehen von einigen Lücken, gut zurückverfolgen. Viele alte Schriften sind zwar verbrannt oder geraubt worden, doch gibt es immer wieder Hinweise in Büchern und Schriften, die von ihm berichten.“

„Was ist das, was Sie mit dem ‚Sie wissen schon, was ich meine’ meinen?“, fragte Cora naiv, aber doch sichtlich neugierig.

„Meine Liebe, genau das darf und soll nicht bekannt werden“, versuchte Meiseneier ihre Neugier zu dämpfen.

„Aber nun weiter. Die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern nach dem letzten Abendmahl ist uns allen bekannt. Als er von den Römern gefangen genommen wurde, hatten diese zuvor das Haus, in dem das Mahl stattgefunden hatte, durchsucht. Dabei muss ein römischer Soldat den Sie wissen schon, was ich meine, an sich genommen haben, offenbar in der Absicht, ihn zu verkaufen. Bekanntlich würfelten römische Soldaten unter dem Kreuz um Jesu letzte Habseligkeiten. Dabei ist der Sie wissen schon, was ich meine, wieder aufgetaucht, da er bei diesen Gegenständen erwähnt wird.“

Cora ließ nicht locker. „Wieso sagen Sie ‚Sie wissen schon, was ich meine’, wenn ich eben nicht weiß, was Sie meinen?“

„Nun, die Angelegenheit ist heikel und darf unter keinen Umständen bekannt werden“, wand sich Meiseneier.

„Ja, man darf nicht darüber reden, Cora“, assistierte Hüpsch, der Coras enge Nachbarschaft sichtlich genoss. „Es geht dabei, ja, was soll ich sagen, was darf ich sagen?“ Fragend blickte er in die Runde und hoffte auf Beistand.

„… um einen Potschamber“, versuchte Feuerlein zu helfen.

„Um was?“, fragte Cora.

„Einen Potschamber, einen Nachttopf“, erklärte Feuerlein ungerührt.

„Doch nicht um den, um Himmels willen, den von …?“, unterbrach Cora die plötzliche Stille.

Die Herren saßen wie versteinert. Man merkte, dass Feuerlein etwas gesagt hatte, was alles veränderte. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

„Äh, nein, natürlich nicht“ – sichtlich entgeistert rang Meiseneier um Fassung: „Nein, Cora. Den Potschamber, der damals in dem Haus gewesen ist, also in dem Haus, wo alle waren“, versuchte Feuerlein zu retten, was noch zu retten war. Jetzt endlich hatte er begriffen, dass sein Einfall nicht gelungen war.

Meiseneier gewann die Fassung zurück:

„Sicher ist, dass ein Soldat den Pot…, äh, Sie wissen schon, was ich meine, an einen Juden von kräftiger Statur verkauft hat, der sich immer bei den Jüngern Jesu aufgehalten hatte. Es kann sich bei ihm nur um Petrus, den Fischer, gehandelt haben, da in der Bibel erwähnt wird, dass der betreffende Jünger sich kurz in römischem Gewahrsam befand, weil er einen römischen Soldaten verletzt hatte. Überdies hatte Petrus auch ein starkes Interesse, den Sie wissen schon, was ich meine, in der Gemeinschaft der Jünger zu halten und ihn nicht von Römern verschachern zu lassen.“

„Na klar, was fangen die auch mit einem Nachttopf an!“, nickte Cora.

„Da hast du sicher recht. Das kann ich mir auch nicht vorstellen“, fuhr Meiseneier fort. „Nach dem Erwerb des Sie wissen schon durch Petrus hört man lange Zeit nichts mehr von ihm, äh, dem Pot… und seine Spur verliert sich vollends in Palästina. Lediglich in einem Brief des Petrus an die Pharisäer wird er in einer Episode erwähnt. Als er unter diesen weilte, wurde er zu einem Hochzeitsmahl eingeladen. Der reich begüterte Vater der Braut richtete die Feier aus. Es wurden alle erlesenen Speisen zubereitet, die man seinerzeit kannte.“

„Ja, ich habe gehört, der Dompfarrer Liebkind habe in der letzten Predigt davon erzählt. Bratwürste mit Kraut habe es gegeben. Es habe ihn arg gebläht, den Petrus, soll der Liebkind gesagt haben“, warf Feuerlein ein.

„Das muss aber ein schlechtes Kraut gewesen sein, sicher aus der Dose. Unseres ist viel besser. Mindestens vier-, fünfmal aufgekocht. Da findet man keine Spur Vitamin mehr drin!“, warb Cora sichtlich stolz fürs Kraut in der „Himmelsleiter“.

Meiseneier schaute mit offenem Mund zwischen Feuerlein und Cora hin und her. Er verstand die Welt nicht mehr. Von was redeten die beiden bloß?

„Klar, Cora, eures ist viel besser. Aber fahren Sie ruhig fort, mein lieber Meiseneier!“, forderte er den Historiker auf.

„Nun ja, wie dem auch sei, es hilft mir nicht. Ich fahre nun fort mit meinen Ausführungen: Bei der Hochzeit wurde weder an edlen Gewürzen aus fernen Ländern noch an weiteren kostbaren Zutaten gespart. Nur der beste Wein des Landes wurde aufgetischt.“

„Randersackerer Teufelskeller war’s, sagte der Liebkind“, warf Feuerlein ein.

„Bitte, Feuerlein, nicht noch mehr davon!“, flehte Meiseneier und fuhr nach einer kurzen Pause fort. „Den zahlreichen Gästen der Hochzeit sollte es an nichts mangeln. Der Brautvater scheute weder Geld noch Mühen; alle sollten sehen, dass seine Tochter aus wohlhabendem Haus kam. Dies galt auch für den Bräutigam, sodass mit der Hochzeit zwei mächtige Familien der Pharisäer zusammenkamen, die beide dem christlichen Glauben verbunden waren. Die Braut hatte ob ihrer großen Liebe die Werbung eines anderen, gleichwohl weniger begüterten jungen Mannes verschmäht. Der aber, in großer Leidenschaft zur jungen Braut entflammt, konnte die Zurückweisung nicht überwinden und war entschlossen, sich und die Braut bei der Hochzeit durch einen Gifttrank zu töten. So wollte er mit ihr für immer im Tod vereint bleiben.“

„Ach, wie romantisch. Das könnte in der ‚Gala’ nicht schöner geschrieben sein“, seufzte Cora und verdrehte dabei die Augen.

„Und so reichte er ihr den mit Schierling vergifteten Trank“, erzählte Meiseneier weiter, „jenem tödlichen Gift, mit dem auch schon der Philosoph Sokrates sich das Leben nehmen musste. Die Braut trank ahnungslos aus dem Becher, den der verschmähte Verehrer ihr reichte, nachdem er zuvor bereits einen Schluck genommen hatte. Bald schon wand sich der junge Mann in tödlichen Krämpfen. Als sich wenig später auch bei der Braut erste Anzeichen einer Vergiftung zeigten, erkannten alle, dass auch sie dem Tode nah war.“

„Meiseneier, ein Antidot!“, sagte plötzlich Feuerlein.

„Wieso nennen Sie den Professor einen Idioten?“, fuhr Cora ihn an.

„Nein, Cora, kein Idiot. Ein Antidot. Das ist ein Gegengift zum Schierling“, dozierte Feuerlein gelassen.

„Ein Gegengift gab es nicht, Feuerlein. Eltern und Angehörige beteten in ihrer Not zu Gott um das Leben der Braut. Petrus, der in der unmittelbaren Nähe des Paares am Hochzeitstisch gesessen hatte, sah, dass nur ein Wunder die junge Frau retten konnte, und dachte sogleich an den Sie wissen schon, was ich meine, dessen Geheimnis er kannte. So holte er ihn aus dem mitgeführten Gepäck und trug der Braut auf, sich dahinein zu übergeben. Kaum geschehen, hörten ihre Krämpfe auf und es kam Leben in ihre Wangen. Durch dieses Wunder wurde die Frau gerettet und lebte fortan glücklich mit ihrem Mann.“

„Es ist unglaublich: ein Nachttopf, der Wunder wirkt, wenn man reinkotzt“, entfuhr es Cora.

„Man kann doch sagen, dass damit der Mythos dieses Gefäßes begann und die Menschen zum ersten Mal von den Wundern hörten, die es vollbringen konnte“, sagte Plunder erfreut.

„Richtig, mein Lieber“, antwortete Meiseneier, „mit diesem Brief des Apostels Petrus wurden der Sie wissen schon und seine Wirkung in der Öffentlichkeit bekannt. Sehr zum Verhängnis vieler Christen, wie sich herausstellen sollte. Einige Jahrzehnte später taucht er wieder in der Geschichte auf, zu Zeiten des Kaisers Nero und der großen Christenverfolgung. Auch dem römischen Kaiser war seinerzeit die Wunderkraft zu Ohren gekommen. Der Pot…, äh, Sie wissen schon befand sich damals in Rom in der christlichen Gemeinde. Petrus hatte ihn ihr offenbar vor seiner Kreuzigung dort überlassen. Besessen von dem Gedanken, das Gefäß ob seiner Wunderkraft zu besitzen, ließ Kaiser Nero unerbittlich danach suchen.“

„Was erhoffte er sich denn von dem Sie wissen schon, was ich meine? Krank wird er doch wohl nicht gewesen sein?“, warf Feuerlein dazwischen.

„Doch, das war er. Nierensteine hatte er“, entgegnete Meiseneier geistesgegenwärtig. „Man sagt, dass er sich eine Linderung seines Nierenleidens erhoffte. So setzte er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein, um in seinen Besitz zu gelangen.“

„Und, hat’s geklappt?“, fragte Cora.

Meiseneier hielt in seinen Ausführungen inne. Genüsslich führte er sein Glas an die Lippen, was die Spannung am Tisch merklich steigerte und ihm Gelegenheit gab, seine Ausführungen der geänderten Situation anzupassen. „Nun ja, meine lieben Stammtischbrüder, wie Sie alle wissen, ist auch Nero – Gott sei Dank – nicht unsterblich geblieben. Seine Soldaten spürten den Sie wissen schon in den Katakomben auf und brachten ihn dem Kaiser, der diesen Triumph auskosten wollte. Wie allen bekannt sein dürfte, hat Kaiser Nero die Stadt Rom anzünden lassen. Es wird gesagt, dass er dabei die Zauberkraft des Sie wissen schon, was ich meine, erstmals anwenden wollte. Als er von den Zinnen seines Palastes auf das brennende Rom herabblickte, setzte er sich auf das Gefäß und soll dabei gerufen haben: „So schenk’ mir, du wundersamer Topf der Christen, Linderung von diesen elenden Nierensteinen!“

„Und? Was ist passiert?“, drängte Cora.

Meiseneier hielt kurz inne. Atemlose Stille herrschte am Tisch der Philosophen, als der Professor mit ruhiger Stimme fortfuhr:

„Wie ich Sie bereits wissen ließ, entfaltet der Sie wissen schon, was ich meine, seine Wunderkraft nur in rechtschaffenen Händen, wohingegen ein unredlicher Besitzer mit verbrecherischen Absichten vergeblich auf die Wirkung wartet. So geschah es auch dem römischen Kaiser. Es wird berichtet, dass er sich plötzlich wild schreiend auf den Boden warf und in Krämpfen wand. Er hatte wieder eine Nierenkolik.“

„Geschieht ihm recht. Unser Nachbar hatte mal einen Hund, der hieß auch Nero. Der hatte auch Probleme beim Wasserlassen“, trug Cora zur Historie bei.

„Ach ja? Interessant“, sagte Meiseneier und fuhr fort: „Dann wurde es für lange Zeit still um ihn.“

„Um Nero?“, fragte Cora.

„Nein, um den, na Sie wissen schon, was ich meine. Für mehrere Jahrhunderte hört man nichts mehr von seiner Existenz. Er muss aber in Rom verblieben sein, denn nirgendwo findet sich ein Hinweis. Erst viel später, nachdem das Römische Reich untergegangen war, taucht er plötzlich an einer gänzlich anderen Stelle des alten Imperiums auf. Im fünften Jahrhundert wird er erwähnt als Besitz eines römischen Offiziers in der Provinz Britannia. Dessen im christlichen Glauben erzogener Sohn Patricius wurde samt dem Gefäß, das er als seinen eigenen na Sie wissen schon gebrauchte, von Sklavenjägern verschleppt, konnte sich aber befreien. Er wurde Bischof und von Papst Coelestin nach Irland gesandt, wo er die Heiden missionieren sollte.“

„Jetzt sagen Sie bloß nicht, mein lieber Professor, dass dieser Bischof jener heilige Patrick gewesen ist, der als irischer Nationalheiliger verehrt wird“, staunte Bernhard Hüpsch.

„Richtig erkannt, Herr Hüpsch, genau um den handelt es sich hier“, nickte Meiseneier: „Er gründete seinerzeit den bedeutendsten Missionarsorden. Den Nachthafen bewahrte der Hl. Patrick im Kloster auf. Einer seiner Nachfolger wurde unser Sankt Kilian, dem man das Geheimnis des na Sie wissen schon anvertraute. Der zog dann gegen Ende des siebten Jahrhunderts mit seinen beiden Begleitern Kolonat und Totnan, zwei Novizen aus alten irischen Adelsfamilien, und dem Pot…, dem gewissen …, zu uns ins damals heidnische Frankenland an den Hof des fränkischen Herzogs Gosbert. Den Rest der Kiliansgeschichte kennen Sie ja alle aus dem Religionsunterricht“, endete ein erschöpfter Professor Meiseneier.

„Ich werd’ verrückt!“, rief Cora. „Da haben wir einen Potschamber aus der Zeit Christi hier bei uns und keiner weiß etwas davon. Wenn ich das jemandem erzähle, das glaubt mir keiner!“

„Dann lass’ es lieber sein“, hoffte Plunder ihr ein Schweigegelübde auferlegen zu können.

„Man stelle sich das vor! Ein Potschamber, der Wunder wirkt! Das glaubt mir doch eh keiner!“, wiederholte Cora und wippte zurück zum Tresen, verfolgt von den Blicken der Stammtischbrüder. Nur Meiseneier hatte kein Auge für die dralle Schönheit. „Uff, das war knapp. Wenn sich die Cora nicht mal bei anderen verplappert! Mensch, Feuerlein, musste Ihnen unbedingt ein Potschamber einfallen?“

„Na ja, ich hatte plötzlich so einen Drang, auf die Toilette zu gehen, und da kam mir das in den Sinn“, versuchte Feuerlein eine Erklärung.

„Ach, vergessen Sie den Potschamber, meine Herren“, unterbrach Plunder die beiden: „Das ist ja eine tolle Geschichte, die Sie uns da aufgetischt haben, Herr Professor. Wenn das alles stimmt, was Sie erzählt haben, und ich habe da keinen Zweifel, dann steckt in unserem Dom einer der kostbarsten Schätze der Christenheit. Unbezahlbar. Man stelle sich nur die Möglichkeiten vor, die der Kelch mit seinen Wundern vollbringen kann. Ganz abgesehen von dem materiellen Wert, dem Gold und den Edelsteinen!“

„Meine Herren, was ich Ihnen hier und heute erzählt habe, mutet sehr unwahrscheinlich an. Bis heute habe ich von meinen Forschungen zu dem Kelch nur einer kleinen Schar mir gut bekannter, seriöser Menschen berichtet, zu der nun auch Sie gehören. Ich vertraue deshalb auf Ihr Wort, das, was Sie heute von mir gehört haben, für sich zu behalten.“

Der Professor sah dabei jedem der drei Anwesenden mit festem Blick in die Augen.

„Selbstverständlich, Herr Professor, auf uns können Sie sich verlassen. Ehrenwort, kein Wort zu Dritten!“, beteuerten die drei.

„Meine Herren, es ist schon ein Uhr vorbei. Bei all den spannenden Geschichten haben wir gänzlich die Zeit aus den Augen verloren. Wir sollten nach Hause gehen und das Mittagessen einnehmen. Ganz abgesehen davon, dass ich einen mächtigen Kohldampf habe. Über die Bezahlung machen Sie sich keine Gedanken, die Runde geht auf meine Rechnung, das war’s mir wert“, sprach Bernhard Hüpsch, beglich bei Cora die Rechnung und verließ mit den anderen Philosophen später als üblich die „Himmelsleiter“.

„Und wo steht der Potschamber jetzt? Hilft der auch bei Tieren? Wegen dem Nero vom Nachbarn, frag’ ich“, rief ihnen Cora noch hinterher, aber sie erhielt keine Antwort.

Von Mäusen, Ratten und Priestern

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