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Eine etwas andere Sonntagsmesse im Dom

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Noch immer war es ein friedlicher Sonntagmorgen. Das helle Licht der Sonne erfüllte den Dom, in dem sich die Gläubigen zur Sonntagsmesse versammelt hatten. Links und rechts des Mittelschiffes an den gewaltigen Pfeilern standen die Grabdenkmäler der Fürstbischöfe – Kunstwerke aus tausend Jahren Geschichte. Hinter diesen Epitaphen lebten die Familien der Dommäuse in ihren Löchern. Jede von ihnen hatte ihre eigene, lange Geschichte, die mit der desjeweiligen Fürstbischofs eng verbunden war. So trugen diese Sippen auch die Namen des Hausherrn, bei dm sie wohnten. Julius etwa lebte mit den Seinen hinter dem Grabstein des Bischofs Julius Echter von Mespelbrunn und Melchior hinter dem des Melchior Zobel von Guttenberg. Otto residierte hinter dem Denkmal für Bischof Otto von Wolfskeel und Gottfried beim Bischof Gottfried von Spitzenberg. Zu den bedeutendsten Geschlechtern zählten die von Rudolf und Lorenz, Bewohner der Grabmale Rudolfs von Scherenberg und des Lorenz von Bibra. Ihre „Häuser“ hatte der berühmte Würzburger Bildhauer Tilman Riemenschneider gemeißelt, worauf die Familienoberhäupter besonders stolz waren. Und sie verpassten niemals eine Gelegenheit, sich in diesem Glanze zu sonnen.

In der Vierung des Doms stand der schlichte Opferaltar aus schwarzem, weißgeädertem Marmor, der in seinem Inneren den kostbaren Schrein mit den Häuptern der drei heiligen Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan barg.

Ein helles Glockenläuten hieß die versammelte Kirchengemeinde sich erheben, als sich die Sakristeitüre öffnete und Dompfarrer Liebkind mit seiner kleinen Prozession herausschritt. In seinen Händen hielt er vor dem Bauch den „Kelch des Abendlandes“, bedeckt mit einem gefalteten Tuch. Ihm folgten in kurzem Abstand die beiden Ministranten. Ronny trug auf einem silbernen Tablett zwei kleine Kännchen mit Wasser und Wein für die Messe, neben ihm ging Fabian mit gefalteten Händen und dahinter – von den Bänken aus nicht zu sehen – Dommaus Dominik.

Während die Gemeinde das erste aus der Reihe von Kirchenliedern sang, deren Nummern die Tafel über der Kanzel anzeigte, schlüpfte Dominik unbemerkt entlang der Wand hinter den Hochaltar im Chorraum, dem äußersten Teil des Domes. Nur Fabian erhaschte aus den Augenwinkeln einen Blick auf die kleine Maus, die mit wehendem Ministrantengewand nach hinten sauste.

Hinterm Altar verborgen wartete bereits die kleine Gemeinde der Dommäuse auf Dominik. „Mein Gott, wirst du es denn nie lernen, pünktlich zur Messe zu kommen“, empfing ihn Constanze, eine kleine hagere Maus fortgeschrittenen Alters mit runder Nickelbrille auf der Nase. Als Archivarin der Dommäuse hütete sie die kostbare Sammlung der vielen Protokolle und Schriften der Versammlungen des Großen Rates. Constanze wohnte unter dem Taufbecken nahe dem Eingang des Domes, hatte die längste Strecke zur Sonntagsmesse zu überwinden und machte sich deshalb immer rechtzeitig auf den Weg.

„Entschuldige, Constanze, der Berthold hat mich aufgehalten“, antwortete Dominik ganz außer Atem.

„Der Berthold, dieses Weinfass, sag bloß, du hast mit ihm noch gezecht und bist deshalb zu spät gekommen. Hauch mich bitte einmal an!“ Constanze streckte ihm ihr kleines Näschen entgegen. „Gott behüte, Constanze, keinen Tropfen habe ich getrunken, riech’ selbst.“ Dominik hauchte die strenge Mäusedame an. Ihre Brillengläser liefen von Dominiks Atem an und ließen sie wie eine blinde Maus aussehen.

„Gut, stimmt“, entgegnete die Archivarin spitz und rümpfte die Nase. „Aber die Zähne hättest du dir schon putzen können.“

Dominik lächelte verlegen und lief rot an, so rot wie sein Ministrantengewand. Er drehte sich nach links und grüßte freundlich die übrigen Dommäuse.

„Als ich heute Morgen mein stilvolles Zuhause von Meister Till verließ …“, begann sogleich Rudolf mit spitzer Zunge.

„Mein Gott, jetzt fängt wieder diese Leier an“, flüsterte Otto seinem Nachbarn Gottfried zu. Der verdrehte die Augen und wisperte zurück: „Dieser feine Pinkel macht sich wieder wichtig wegen seiner Behausung. Ich möchte um keinen Preis mit ihm tauschen. Bei dem Andrang von Touristen jeden Tag vor dem Loch hast du doch keine ruhige Minute!“

„… wusste ich, dass das heute mein Tag ist!“, fuhr Rudolf unbeirrt fort. „Luise, sagte ich zu meiner geliebten Ehemaus, heute räume ich bei der Morgenmesse ab. Ich setze drei zu eins Körner auf Escherndorfer Lump.“

„Die Wette gilt“, rief Dominik und trat mit dem linken Fuß an die kleinen Ministrantenglöckchen neben ihm, was ein für die Menschen vorne im Hauptschiff nicht hörbares „Bing“ erklingen ließ.

„Das Wettbüro ist ab sofort eröffnet, es kann gesetzt werden!“, rief Dominik in die Runde und zückte ein kleines Notizbuch mit spitzem Stift. Rege Betriebsamkeit erfasste die Mäusegemeinde. Alle drängten sich um Dominik, um ihre Wetten abzugeben. Jeden Sonntagfrüh zur Messe trafen sich die Dommäuse, um darauf zu wetten, welchen Wein sich der Dompfarrer bei der Wandlung wünschte. Ihnen war ja das Geheimnis des Kelches schon seit Langem bekannt. Sie hüteten es seit Generationen ebenso wie der Dompfarrer, der die Wunderkraft durch Zufall entdeckt hatte.

Eines Tages hatte Liebkind wie gewohnt dem Schrank eine Flasche Messwein entnommen, einen durchschnittlichen, aber trinkbaren Silvaner vom Würzburger Pfaffenberg. Der ausgewiesene Weinliebhaber nahm solch ein eher schlichtes Gewächs fast schon als eine Art von Bußübung hin und nicht mehr als nötig davon zur Messe mit. Als an diesem Tag die Wandlung anstand, schoss dem Dompfarrer plötzlich ein Gedanke durch den Kopf: In dem Moment, als er sich in der Liturgie über den Kelch beugte, murmelte er die Worte „Lieber Gott, könnte es nicht ein Würzburger Stein vom 75er-Jahrgang sein?!“ – ein edler Tropfen, den er noch am Vorabend genossen hatte. Als er sodann den Kelch an die Lippen führte, mochte er seinen Geschmacksknospen nicht trauen: Edler Rebensaft vom Würzburger Stein des besagten Jahrgangs floss lieblich entlang der Schleimhäute seines Mundes, benetzte samtgleich seine Kehle und breitete sich mit einem warmen Wohlgefühl in seinem Magen aus.

„Ein Wunder“, kam es ihm augenblicklich in den Sinn und tief zufrieden beschloss er den Gottesdienst.

In den folgenden Tagen dachte Liebkind immer wieder an die wundersame Verwandlung bei der Sonntagsmesse. Ob es wohl ein einmaliges Ereignis gewesen ist? Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass eine Wiederholung dieses Mysteriums die Sonntagsmesse durchaus bereichern würde. Gleichwohl verdrängte Liebkind solche Gedanken und sah sie als eine Versuchung des Teufels an, der er widerstehen müsse. Doch als in der nächsten Sonntagsmesse der Kelch vor ihm stand, war es mit den guten Vorsätzen des Dompfarrers vorbei. Er beugte sich wieder über den Kelch und hörte sich murmeln:

„Vom 88er Iphöfer Julius-Echter-Berg einen Silvaner!“

Und als er die Nase in den Kelch tauchte, roch er den für diesen Jahrgang typischen würzigen Duft von Johannisbeeren, der ihm so wohlvertraut war. Das Wunder war wieder geschehen und für den Dompfarrer ein Zeichen des Himmels. Wenn es eine Sünde gewesen wäre, hätte es der liebe Gott sicher nicht ein zweites Mal zugelassen und so freute sich Liebkind schon auf den kommenden Sonntag.

Die Gläubigen in der Kirche bekamen vom Weinwunder des Dompfarrers selbstredend nichts mit, da sie bei der Wandlung stets ehrfürchtig den Kopf senken mussten. Nur die Ministranten bemerkten eine Änderung. Statt wie sonst den Messwein in einem Zug und ruckartig wie bittere Medizin herunterzuschlucken, schwenkte der Dompfarrer den Kelch zuerst mit kreisenden Bewegungen, tauchte die Nase tief ins Innere und schloss genussvoll die Augen. Dann führte er den Kelch zum Mund und spitzte dabei die Lippen, als ob er zum Küssen ansetzen wolle. Das war dann der Moment, in dem Fabian dachte: „Jetzt küsst der Liebkind die Engelchen!“

Den Dommäusen indes war die allsonntägliche Zeremonie nicht verborgen geblieben, mit der am Altar sämtliche Weinlagen vom Steigerwald bis zum Untermain verkostet wurden. Während der Dompfarrer dieses Wunder seinem Herrgott zuschrieb und es als Belohnung für treue Dienste ansah, war den Dommäusen der wahre Grund bekannt. Schon bald scherzten sie vor der Messe, welchen Wein er diesmal nennen würde. Berthold, dem jedes Spielchen recht war, kam als Erster auf den Gedanken, eine Wette abzuschließen. Es dauerte nicht lange und die Dommäuse zockten jeden Sonntag rund um Liebkinds Wein.

„Ich setze auf Randersackerer Ewig Leben“, rief Lorenz hinüber zu Dominik.

„Wie viel darf ich notieren?“

„Drei Stückchen Leberwurstpellen, Dominik“, wagte sich Lorenz nach vorn.

„Auf keinen Fall drei“, rief seine Frau Berta dazwischen. „Das letzte Mal hast du mit dem Pfaffenberg vollkommen danebengelegen und zwei Wochen lang gab’s keinen Käse im Haus. Zwei, Dominik, nein, besser eins, schreib ein Stück Leberwurstpelle, das genügt. Die ist meine Leibspeise und der Verlust ist nicht so groß, wenn Lorenz wieder danebenliegt.“

„Wie viel ist eigentlich im Jackpot?“, fragte Otto.

„Drei Stückchen Käse von Lorenz, 15 Getreidekörner, eine wunderbare Pelle Leberwurst und diverse Brotkrümel in nicht unerheblicher Menge.“ Mit der Aufzählung stachelte Dominik die anderen an. „Leute, es ist lange her, dass einer von euch den Jackpot geknackt hat, also macht eure Wetten!“

„Hab’ ich Kredit, Dominik?“, fragte Otto und schielte zu Gattin Kunigunde, die ihm einen unfreundlichen Blick zuwarf.

„Ausnahmsweise, Otto. Was darf ich notieren?“, antwortete Dominik und begann zu schreiben.

„Ich setz’ ein Stück Emmentaler auf Obereisenheimer Höll“, rief Otto und erhielt im selben Augenblick von Kunigunde einen Stoß in die Seite:

„Bist du verrückt? Obereisenheimer Höll, das hat der Liebkind doch noch nie gesagt. Da kannst du den Käse gleich den eingebildeten Pinkeln von Lorenz und seiner Sippe vors Loch werfen!“ Kunigunde sah Lorenz und die Seinen verächtlich an.

„Den würden wir nicht mal geschenkt nehmen! Nicht von denen …“, geiferte Berta zurück.

Obereisenheimer Höll, das war so etwas wie der absolute Hauptgewinn beim Wetten, wie ein Sechser im Lotto oder die Null beim Roulette. Obereisenheimer Höll brachte nämlich den zehnfachen Einsatz und konnte eine ganze Mäusefamilie leicht einen Monat lang in Saus und Braus leben lassen.

In diesem Moment ertönte das helle Läuten der Ministrantenschellen, das den Beginn der Wandlung signalisierte. Jetzt begann die heiße Phase der Wett-Andacht.

„Obereisenheimer Höll bleibt stehen!“, rief Otto laut. „Ich wag’s, was soll’s.“

Kunigunde schloss die Augen und taumelte leicht, während die anderen Dommäuse aufgeregt über Ottos Mut tuschelten.

„Rien ne vas plus, nichts geht mehr!“, rief Dominik und schloss das Wettbuch.

Drei Mäuse mussten sich unter Dominiks Leitung um den Altar herumschleichen, an jeder Ecke blieb eine stehen und Dominik selbst wagte sich bis unter den Altar vor, dorthin, wo der Dompfarrer stand. Sobald er dann den Namen des „bestellten“ Weines hörte, gab er diesen weiter und von einem Posten zum nächsten drang die Kunde bis zur wartenden Mäusegemeinde. Wegen Ottos Wett-Diskussionen war Dominik diesmal spät dran. Schon hörte er das zweite Läuten, eigentlich das Zeichen, dass der Pfarrer den Kelch jetzt geleert hatte.

„Mein Gott, zu spät!“, durchfuhr es Dominik. „Der Wein ist getrunken, die Worte sind verpasst!“

Dem kleinen Wettpaten stand der Schweiß auf der Stirn. Sollte alles vergebens gewesen sein? Dominik lief hinüber zu Ronny, der mit gesenktem Haupt kniete, die geballte Faust an die Brust gedrückt, in der anderen Hand die Schellen. „Hey, Ronny, hast du gehört, was der Liebkind gesagt hat, als er sich über den Wein gebeugt hat?“, rief Dominik zu ihm hinauf.

„Keine Ahnung, ich habe gerade an die Marshmallows in meiner Tasche gedacht und nicht zugehört. Frag mal Fabian“, flüsterte Ronny leise nach unten.

Dominik war außer sich vor Erregung und rannte am Altar entlang auf Fabian zu. Gerade als er in der Mitte des Altars angekommen war, setzte der Dompfarrer den Kelch ab und leise ließen sich die Worte vernehmen: „Mein Gott, was für ein Geschenk Gottes, diese 78er Müller-Thurgau Spätlese von … der Obereisenheimer Höll!“

Dominik stand für Sekunden wie vom Blitz getroffen. Er traute seinen Ohren nicht, dabei hatte er doch ganz deutlich Obereisenheimer Höll gehört.

„Die Höll ist es! Die Obereisenheimer Höll!“, rief er hinüber zur Altarecke, wo die nächste Dommaus wartete.

Ihr Ruf „Die Obereisenheimer Höll hat er getrunken!“ pflanzte sich sogleich fort bis zur Schar der wartenden Dommäuse. Ottos Frau Kunigunde stieß einen leisen, spitzen Schrei aus und fiel mit ausgebreiteten Armen rücklings in Ohnmacht. Ihr glücklicher Gatte schlug mit der Faust in die Hand und hüpfte von einem Bein aufs andere:

„Yipiiiieee! Die Höll wars! Ich hab’ gewonnen! Ihr seid alle meine Gäste heute, ich lad’ euch ein auf Käse und Brotkrümel bis zum Umfallen!“

Längst war auch Dominik vom Altar zurück und stimmte in den allgemeinen Jubel ein. Die restliche Messe verlief ohne weitere Zwischenfälle, sieht man einmal davon ab, dass Kunigunde, kaum aus der Ohnmacht erwacht, ihrem Otto heftige Vorwürfe ob seiner Spendierfreudigkeit machte. Nachdem der Dompfarrer den Segen der Gemeinde erteilt und sich mit den Ministranten in die Sakristei zurückgezogen hatte, leerte sich das Gotteshaus schnell. Der letzte Gläubige hatte den Kirchenraum verlassen, als eine Schar lachender, tanzender Mäuse zum Grabmal des Bischofs Otto von Wolfskeel zog, vornweg auf den Schultern eine euphorische Dommaus Otto, gefolgt von seiner Frau Kunigunde, die sich die Tränen aus den Augen wischte.

Zur gleichen Zeit verließen Liebkind und die Ministranten Ronny und Fabian die Kirche. Ronny dachte noch immer an die Marshmallows in seiner Hosentasche.

Von Mäusen, Ratten und Priestern

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