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4.

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19 Uhr – Dienstantritt: umziehen, aufwärmen, dann in die Kantine. »Herbert!«, rufen die einen, »Peter!« die anderen. Herbert Peter salutiert und leuchtet mit seiner Taschenlampe einmal durch die Runde. Er steht gut da in seinen schweren Stiefeln und im Kampfanzug, den er Uniform nennt. Steht gut da und weiß es und brüllt: »Was ist da los?! Dienstantritt!« – »Scheiß drauf! Wir haben bald Dienst-Abtritt.« – »Gratuliere! Deshalb bin ich ja nicht ihr.« – »Eben!« – »Dann bis morgen!« – »Gute Nacht!« – »Fängt gerade erst an«, sagt Herbert Peter, lacht laut, geht ab und hofft, dass ihm jemand hinterhersieht, denn es sieht gut aus, wie er den Raum verlässt. Er ist ein Cowboy, oh ja.

Herbert liebt das. Er trinkt fast immer nur zwei Bier mit ihnen. Wenn er die Kantine verlässt, ruft Fred gerne: »Keine Straßenschuhe im Bad!« – »Kein Problem«, lacht Herbert, »nicht mein Problem …« Dann geht er – raus in die Halle und über den Gang. Er hat die Schlüssel und kann gehen, wohin er will, geht aber direkt ins Bad, legt sich am Beckenrand in einen Liegestuhl und behält das große Kantinenfenster im Auge, wartet, bis dahinter alle Lichter ausgegangen sind. Bis das Haus ihm gehört, komplett in Schwarz, mit Schlüsselbund, Taschenlampe und schweren Stiefeln.

Wenn Nachtwächter arbeiten (und es dauert nur ein paar Wochen, dann machen sie es auch in ihrer Freizeit und überhaupt zu jeder Zeit), dann machen sie es so: Den Kopf immer leicht zur Seite geneigt, halten sie das Ohr in die Dunkelheit und kneifen die Augen zusammen. Sie horchen.

Herbert Peter hört dem Wasser zu. Dem Gurgeln und Plätschern, und es bleibt dabei: In regelmäßigen Abständen hört er im Becken etwas auftauchen – was in einem Teich und vielleicht sogar in einer Sommernacht im Freibad kein Problem wäre. Aber in einem Hallenbad sollte nachts nichts auf- und abtauchen; schon gar nicht etwas, das man nicht sieht, wie schnell man den Kopf auch dreht.

Diese Geräusche, jene, die einen verfolgen, nennt man in seiner Branche Spaßverderber. Und wenn Nachtwächter im kleinen Kreis zusammensitzen, dann erlauben sie es, dass auch darüber geredet wird. Kaum einmal wird dabei gelacht und nicht selten haben die Spaßverderber eine solche Laufbahn beendet, haben aus dem Nachtwächter einen Kaufhausdetektiv, Versicherungsmakler oder Jahrmarktfahrer gemacht.

Was Nachtwächter sonst noch machen: Sie öffnen alle Schubladen, weniger aus Neugier denn aus Langeweile; sie essen ständig aus dem Kühlschrank (ebenfalls aus Langeweile); sie versuchen zu schlafen, und immer wieder horchen sie und reden sich ein: Da war nichts … Sie fahren tatsächlich mit Bürostühlen auf den Gängen Rennen gegen sich selbst. Sie singen und pfeifen (gegen die Angst). Und dann und wann und öfter, als man denkt, masturbieren sie sich einmal quer durch das zu bewachende Objekt. Ist es ein Hallenbad, so begünstigt das natürlich diesen Zeitvertreib: Da kommt man auf Ideen, würden ähnlich Interessierte Herbert Peter recht geben. So war das bis vor Kurzem auch; aber in letzter Zeit hat er keine Lust auf den Spezialrundgang. Schuld daran ist ein Stuhl, und wie er da stand – allein am Beckenrand.

Herbert Peter war und ist sich bis heute sicher, dass er ihn nicht übersehen und schon gar nicht selbst dort hingestellt hat. Wie denn auch? Es war keiner von den grünen Plastiksesseln, sondern eines der alten Ungetüme aus der Eingangshalle, die aus Holz mit oranger Polsterung. Stand da am Beckenrand, das war nicht sein Platz. Herbert Peter dachte nicht daran, ihn zu umkreisen, mit dem Fuß anzustoßen oder gar darauf zu sitzen. Er dachte an nichts, sondern ging ins Büro (wobei sich die Haut auf seinem Nacken zusammenzog und erst am nächsten Morgen zuhause unter der Dusche wieder einigermaßen entspannte) und wartete ab. Er fragte nicht nach, was aus dem Stuhl geworden war, ob man ihn wieder in die Eingangshalle zurückgetragen hatte und wer das getan haben sollte, oder ob er von selbst dort hingegangen war. Am Ende wäre es wohl auf das eine hinausgelaufen: He, ist doch nur ein Stuhl …

Wie in den gut vierzig Nächten davor ist auch heute Nacht alles friedlich – bis jetzt. Die orangen Stühle stehen draußen in der Halle (diesen Kontrollblick lässt er sich nicht nehmen; er zählt sie jeden Abend durch), sie sind nicht hinter Herbert Peter her. Das Wasser plätschert weiter, dass irgendetwas von Zeit zu Zeit auf- und abzutauchen scheint, überhört er.

Herbert Peter zieht sein Mobiltelefon hervor: keine Anrufe. Er hat versprochen, Bescheid zu geben, wenn die Luft rein ist. Er hat schon lange nicht mehr zu einem seiner Nachtschwimm-Specials eingeladen, heute hat er aber zwei Autoschrauber mit Anhang an der Angel und da würde er eine Ausnahme machen. Seit Monaten gelingt es ihm nicht so recht, in die Szene reinzukommen; das würde vielleicht helfen. Denn wer möchte nicht einen Nachtwächter zum Freund haben – den mit den Schlüsseln? Zugleich ahnt er, dass dieser eine Anruf vermutlich in einem Gelage von zwanzig oder mehr Autoschraubern plus Anhang enden würde. Das wäre dann selbst ihm zu viel, das kriegt man bis zum Morgen nicht mehr sauber.

Herbert Peter steckt sein Mobiltelefon wieder in die Tasche und horcht und riecht. Manchmal wird er hier drinnen auch von Gerüchen überrascht, die sich trotz der Chlorwolke, die über dem Becken hängt und alle Ecken ausfüllt, breitmachen – meistens undefinierbare Gerüche, dann wieder eindeutig Erdbeeren, zum Beispiel. Jetzt aber hört er nichts und riecht nichts Verdächtiges. Kurz kehrt die Euphorie zurück, wobei er das lächerlich findet, aber es kribbelt wieder: Das Haus gehört ihm allein, er ist der Boss!

Dann geht das Licht in der Kantine aus. Das war’s: Sperrstunde, früher als sonst. Herbert Peter ist allein, die Euphorie verflogen, das Wasser im Becken laut.

Er macht die Taschenlampe an und lässt sich für den Weg durch die Halle ausdrücklich Zeit. Er sperrt die Tür zur Kantine auf und schaltet das Licht ein. Nicht nur einmal hat er einen der Stammgäste überrascht, den Bella einfach an der Schank liegen gelassen hatte. Von einer solchen nächtlichen Begegnung hat niemand etwas, beiderseitiger Schreck, viel Gebrüll und Adrenalin. »Gut, dass sie mir keine Waffe geben«, hat Herbert Peter dann immer gesagt und er und Grant, oder wer auch immer von diesem Pack, haben übertrieben laut und lang gelacht, denn so ist das, wenn einem das unnötig ausgeschüttete Adrenalin aus dem Körper fährt. Und zu zweit hat ihnen das Gratisbier gleich noch besser geschmeckt und Grant, oder wer auch immer, hat gleich wieder vergessen, dass er einen Teil seines Rausches bereits weggeschlafen hatte, und wollte bleiben und noch mehr Gratisbier. »Aber auf gar keinen Fall«, hat Herbert Peter in einem solchen Fall schnell seine Fassung und seine Autorität wieder beisammen.

Jetzt liegt aber niemand mit dem Kopf auf der Schank, die Kantine ist leer; nur die Geräte brummen. Wenn es Nacht ist, wird es im Hallenbad erst so richtig laut. Herbert Peter sieht auch unter die Tische, nur um sicherzugehen. Er klatscht in die Hände und ist für den Moment ganz zufrieden, hält ein großes Glas unter den Zapfhahn und lässt den letzten Schwall dann direkt in seinen Mund. Er ist wieder da, er ist der Boss!

Der Mut aus der Kantine dauert an. Herbert Peter steht im Bad, hält sein Ohr in die Luft und hört nur das Wasser, dann steckt er einen Kopfhörer rein, dreht die Musik auf volle Lautstärke und geht los. Zunächst rückwärts im Moonwalk, Moonwalk, Moonwalk. Der gelingt ihm nicht ganz, was er auf die schweren Stiefel zurückführt, aber es hat ihn ja keiner gesehen (hoffentlich, denn sonst wäre ja einer hier).

Herbert Peter steckt den zweiten Kopfhörer in sein zweites Ohr und startet seine Runde: raus durch die Schwingtür und rechts herum, quer durch die Eingangshalle (aus den Augenwinkeln beobachtet er die orangen Stühle, sie stehen still), er biegt in den Gang ab, das Licht geht automatisch an, eine Neonröhre flackert, das muss so sein. Er lacht, sieht über seine Schulter, dann eine Drehung und wieder geradeaus, er tänzelt zur lauten Musik, irgendein Techno ohne Namen, bumm bumm, tack tack … Als er an der Tür zu den Umkleidekabinen vorbeikommt, nimmt er den Kopfhörer aus seinem linken Ohr und stellt das Tänzeln ein. Er atmet durch die Nase ein und aus, ignoriert den Aufzug (in den Keller führt seine Runde immer erst nach fünf Uhr morgens, wenn es draußen langsam hell wird, obwohl man das im Keller nicht mitbekommt – und eigentlich wäre es auch egal, sicherheitstechnisch, eigentlich alles egal, aber das Drehen von Runden gehört für einen Nachtwächter eben dazu, außerdem vergeht dann die Zeit). Er ignoriert den Aufzug und steckt den Kopfhörer zurück in sein linkes Ohr, bleibt stehen und deutet ein Schlagzeugsolo an, das so nicht zur Musik passt, dann tänzelt er wieder.

Scheiß Job, denkt Herbert Peter und lacht leise, und ab in den langen Gang. Und da hört sich der Spaß auf. Lange Gänge sind die Spielverderber, auch für Nachtwächter (vor allem für Nachtwächter): Schon nach den ersten Schritten gelangt man an jenen Punkt, ab dem es kein Vor und Zurück mehr gibt; sollte am Ende des langen Ganges jemand auftauchen, der dir den Weg versperrt, oder einer hinter dir, der dich verfolgt. Eigentlich will er schneller gehen, eigentlich will er laufen, wird aber immer langsamer – bis er stehen bleibt und sich nicht mehr bewegt. Die Musik kommt immer noch laut aus seinen Kopfhörern, aber eigentlich hört er nur das Wasser. Also bleibt er stehen und hört dem Wasser zu.

Kopf über Wasser

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