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ОглавлениеWie das Wasser den ganzen Tag lang gegen den Beckenrand schlägt, durch die weißen Plastikgitter abgesaugt wird, das ständige Gurgeln und Rauschen, ein Katalog voller Geräusche und doch immer nur eines und immer dasselbe – Fred macht das wahnsinnig. An manchen Tagen nicht nur im übertragenen Sinn. Da sitzt er zehn Minuten lang in einer Umkleidekabine und überlegt beim Aufsperren ernsthaft, wie er dort eigentlich hingelangt ist. Natürlich weiß er es noch, seine Flucht aus der Halle, ihm kommt es aber dennoch immer wieder wie eine echte außerkörperliche Erfahrung vor. Und mit denen kennt er sich schließlich aus.
Wenn Fred nach Badeschluss auf dem Parkplatz steht, fehlt es ihm dann. Wenn er abends zuhause vor dem Fernseher sitzt, wünscht er sich das Rauschen des Wassers zurück. Er geht schlafen, ohne die Zähne zu putzen, und weiß, dass er es morgen wieder kriegen wird.
Am Morgen ist Fred wie immer der Erste und wie immer allein im Bad (glaubt er). Herbert Peter verschwindet raus in den Tag, eine Stunde bevor Fred das Eingangstor auf- und hinter sich wieder versperrt; die anderen kommen erst um neun. Dann heißt es für ihn saubermachen, alles für einen langen Badetag vorbereiten, kontrollieren und optimieren – sprich: ab in die Kantine, Kaffeemaschine einschalten, Kaffee trinken, eine Zeitung durchblättern, später eine Runde ums Becken und vielleicht einmal den Finger ins Wasser halten, wegen der Kontrolle. Wie ernst Fred seinen Job nimmt, das weiß Werner Antl. Zu oft hat er Fred über seine Bildschirme bei dem beobachtet, was er morgens alles nicht macht. Denn nicht selten ist Werner noch früher im Bad, zumeist wenn es am Abend noch Streit mit Marina gegeben hat (selten, aber heftig). In einem solchen Fall fährt er die zehn, elf Kilometer (von Frühjahr bis Spätherbst fährt er sie mit dem Rad), wenn es sein muss, im Morgengrauen, um sich und ihr die Schmach eines schweigsamen Frühstücks zu ersparen, fährt die Kilometer, hält im Büro die Füße still, und wenn sie um neun durch die Tür kommt, gibt er vor zu arbeiten, begrüßt sie beinahe überschwänglich und meist ist bis zum Mittagessen alles wieder vergessen.
Auch Herbert Peters halbherzige Rundgänge kennt Werner, selbst einen seiner Spezialrundgänge musste er einmal über die Bildschirme mitansehen, weil er einfach nicht wegsehen konnte. Denn noch seltener, aber doch, muss er sich und Marina mitunter auch die Schmach einer Nacht ersparen, in der ein jeder von ihnen nach einem Streit im Bett rotiert und sie einander ins Gesicht schnaufen. In einem solchen Fall steigt Werner noch vor Mitternacht in seinen alten Wagen oder auf sein altes Rad und fährt die zehn, elf Kilometer ins Hallenbad, verschwindet im Büro und schläft auch dort, meistens schläft er aber kaum, wenn er die Nacht im Hallenbad verbringt.
Er steigt aus den Hausschuhen und rollt im Drehsessel zum Schnapsschrank hinüber und trinkt sauteuren Whisky, und weil er dabei die Bildschirme beobachtet, kann er gar nicht übersehen, wie Herbert Peter so versucht, die Nacht herumzubringen. Das kann Herbert Peter nicht wissen, womöglich würde es ihn im Nachhinein sogar beruhigen, da ihn das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht getäuscht hat. Aber Werner hat es ihm bis jetzt noch nicht verraten und wird auch nie ein Wort über den Spezialrundgang verlieren. Und er wird kein Wort über das verlieren, was er in der vergangenen Nacht auf einem seiner Bildschirme gesehen hat, allein schon, weil er nicht wüsste, wie er es sagen soll.
Er hat in den fünfzehn Jahren im Hallenbad manches zu sehen geglaubt, von alten Geschichten gehört und einiges mit eigenen Augen gesehen. Vergangene Nacht hat er auf seinem Bildschirm Herbert Peter gesehen, wie der auf dem Gang stand und sich nicht bewegte, so als würde er nicht mehr richtig funktionieren. Dass hinter ihm eine Frau stand, hat Herbert Peter nicht gesehen, Werner aber schon. Eine alte Frau im Badeanzug, auf dem Kopf eine Badehaube, die unförmig wegstand, vielleicht war da auch Blut, das auf dem schwarzweißen Bildschirm schwarz unter der Badehaube hervorkam, vielleicht auch nicht. Werner ging mit dem Gesicht ganz nah ran, bis das Bild unscharf wurde. Sie schien Herbert Peter von hinten anzubrüllen, der bewegte sich aber immer noch nicht. Werner klopfte mit dem Fingernagel gegen den Bildschirm. Die Frau hob den Kopf und sah ihm genau in die Augen.