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2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen FrankreichFrankreich
ОглавлениеDass das Thema des Anderen und des Fremden und seine diversen Ausformungen so aktuell sind, ja sich geradezu aufdrängen, hat mit geschichtlichen Bedingungen zu tun, die im ersten einleitenden Kapitel umrissen wurden: Sie werden unter den Begriff einer GlobalisierungGlobalisierung gefasst, die politische, ökonomische, aber auch kulturelle Effekte zeitigt und die als ein Langzeitprozess zu verstehen ist. Diese Entwicklung ist ohne den Komplex der Eroberung der sog. Neuen WeltWelt und die daran anknüpfenden Kolonialisierungswellen undenkbar. Der KolonialismusKolonialismus ist die maßgebliche Ursache dafür, dass die Begegnung mit fremdenfremd KulturenKultur von einer kulturellen Schieflage, von einem asymmetrischenAsymmetrie Verhältnis geprägt ist, in der brutale Machtausübung, militärische ExpansionExpansion, Ausbeutung und menschliche Geringschätzung Hand in Hand gegangen sind. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass zwei bedeutende französische Autoren, der Dichter Albert CamusCamus, Albert und der Philosoph Jacques DerridaDerrida, Jacques, aus Algerien stammen und beide den unermesslich blutig verlaufenen Prozess der kolonialen Befreiung hautnah miterlebt haben. Camus’ Der Fremde und Derridas Überlegungen zur AlteritätAlterität nähren sich nicht zuletzt aus dieser historischen ErfahrungErfahrung.1
Dieser realgeschichtlichen Entwicklung steht, komplementär und kontrastiv, eine Wende der okzidentalen philosophischen DiskurseDiskurs gegenüber. In dieser spielt die Figur des/der Anderen bzw. des/der Fremden eine zentrale Rolle, da sie die Allmacht des Ichs in FrageFrage stellt. Exemplarisch hierfür ist die Entwicklung der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, die in diesem Abschnitt vor allem Vincent DescombesDescombes, Vincent folgend skizziert werden soll.
DescombesDescombes, Vincent unterscheidet in seinem Überblickswerk, das den programmatischen Titel Le même et l’autre (Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in FrankreichFrankreich 1933–1978) trägt, zwei Perioden der französischen Philosophie. Die eine umfasst die GenerationGeneration jener, die nach 1900 geboren sind und deren Wirksamkeit sich auf die Jahre 1930 bis 1960 konzentriert. Diese fasst er mit der Formel von den drei H: HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich, HusserlHusserl, Edmund, HeideggerHeidegger, Martin. Diese drei deutschsprachigen Philosophen bilden Descombes zufolge die fixen Bezugsgrößen für die ältere Generation, also für Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul (1905–1980), Alexandre KojèveKojève, Alexandre (1902–1968), Jean HippolyteHippolyte, Jean (1907–1968), Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel (1906–1995) und Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice (1908–1961).
Die zweite Periode wird von der GenerationGeneration der zwischen 1915 und 1930 geborenen Philosophen repräsentiert, die dann ab den 1960er Jahren bestimmend wird und die sich an den Meistern des Zweifels orientieren. Bei letzteren handelt es sich wieder um deutschdeutschsprachige Denker: Karl MarxMarx, Karl (1818–1883), Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) und Sigmund FreudFreud, Sigmund (1856–1939). Sie stellen wichtige Bezugsgrößen für den theoretischen DiskursDiskurs nach 1960 dar. DescombesDescombes, Vincent bezieht sich hierbei auf Theoretiker wie zum Beispiel Michel FoucaultFoucault, Michel (1926–1984), Roland BarthesBarthes, Roland (1915–1980) oder Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004).
Auffällig ist, wie gesagt, die DominanzDominanz deutschsprachiger Meisterdenker in diesem DiskursDiskurs. DescombesDescombes, Vincent kommt in diesem Zusammenhang auf das Problem der ÜbersetzungÜbersetzung zu sprechen. So wurde zum Beispiel HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist erst 1947 durch Jean Hipppolyte vollständig übersetzt und bis in die 1970er Jahre war das Hauptwerk HeideggersHeidegger, Martin SeinSein und ZeitZeit auf Französisch nicht zugänglich. Das Fehlen einer kanonisierten Übersetzung eröffnete freilich einen interpretatorischen und kontextuellen Spielraum und ermöglichte so großzügige Adaptionen. Kultureller TransferTransfer bedeutet immer auch die widersprüchliche, manchmal paradoxe Einfügung des Fremden in den eigenenEigentum Kontext. Dadurch verändert sich beides, das Eigene sowie das Fremde.
Die an sich erstaunliche RückkehrRückkehr zu HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und damit verbunden seine Neu-Interpretation als „Avantgarde-Autor“ lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Ein wesentliches Moment ist das wieder erwachte Interesse am Hegel-Schüler MarxMarx, Karl (der später eine anti-hegelianische, nämlich strukturalistische Lesart durch Louis AlthusserAlthusser, Louis, einen Autor der zweiten Periode der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, erfuhr2) und seinem Verständnis von geschichtlichem Handeln und vom Primat der Praxis (vgl. seine FeuerbachFeuerbach, Ludwig-TheseThesen als Kritik an der Philosophie).3 Ein anderer GrundGrund ist die Neubewertung speziell der PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist durch den russisch-französischen Philosophen Alexandre KojèveKojève, Alexandre.4 In diesem Zusammenhang erfahren die Hegelsche DialektikDialektik und die ihr zugrunde liegende Triade (These – AntitheseAntithese – SyntheseSynthese) eine überraschende Aufwertung. Diese Philosophie wird, andersAndersheit als bei PlatonPlaton, nicht mehr als Modus des DialogsDialog (das Abwägen des Für und Wider und die IntegrationIntegration bzw. Synthetisierung der beiden konträr erscheinenden Positionen), sondern als die maßgebliche, dynamische FormForm des historischen Entwicklungsprozesses selbst begriffen. Die Hegelsche Version der Dialektik wird, wie DescombesDescombes, Vincent hervorhebt, als Korrektiv zum Kantianischen RationalismusRationalismus verstanden. In diesem Sinne betrachtet etwa Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice Hegel als einen Vorgänger von Freud und NietzscheNietzsche, Friedrich.5 Dieser hat in Kojèves Deutung die Forderung nach einer „konkreten“, nicht-idealistischen Philosophie, die den „unvernünftigen UrsprungUrsprung der VernunftVernunft“ zum Thema macht, ins ZentrumZentrum gerückt.6 Bei Merleau-Ponty wird, wie später bei SartreSartre, Jean-Paul, Hegels Idealismus in eine ‚realistische‘ Philosophie integriert, in der das Primat der Vernunft kritisch hinterfragt wird (→ Kapitel 2.6.). Die moralische Last dieses Hegelianismus, in der die EthikEthik ein blinder Fleck ist, wird freilich auch schon von Kojève – Ausgangspunkt sind die Verbrechen des StalinismusStalinismus7 – thematisiert: „Der Erfolg spricht das Verbrechen los.“8
Die Entthronung HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich wiederum vollzieht sich, um bei DescombesDescombes, Vincent’ Generations-Schema zu bleiben, in der zweiten Etappe der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, etwa bei Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles (1925–1995). In diesem intellektuellen Umfeld sind auch die bereits erwähnten Bemerkungen FoucaultsFoucault, Michel zu Hegel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Die OrdnungOrdnung des DiskursesDiskurs zu verstehen. Damit einher geht ein radikaler WandelWandel des Denkens. An die Stelle von NegationNegation und IdentitätIdentität, Pfeiler einer post-hegelianischen DialektikDialektik, tritt bei Deleuze9 und DerridaDerrida, Jacques eine Denkbewegung, in deren ZentrumZentrum die DifferenzDifferenz und die WiederholungWiederholung stehen. Descombes fasst diese folgendermaßen zusammen:
HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich hatte gesagt, der Unterschied sei in sich widersprüchlich. Nun aber geht es darum, einem Denken des nicht-widersprüchlichen, nicht-dialektischenDialektik Unterschiedes Bahn zu machen, der nicht das einfache Gegenteil der IdentitätIdentität ist und nicht unter dem ZwangZwang steht, sich ‚dialektisch‘ mit der Identität identisch erklären zu müssen.10
In dieser theoretischen Anstrengung, das Andere neu zu denken, wird eine bestimmte Auffassung von DifferenzDifferenz entscheidend. DerridaDerrida, Jacques wird den sprachlich ‚unmöglichen‘ Begriff der ‚différancedifférance‘ prägen, der phonetisch, nicht aber in der Schreibweise mit dem klassischen Terminus différencedifférence identisch ist. HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich DialektikDialektik fasst den Unterschied als kontrastiv, um diesen WiderspruchWiderspruch in einem zweiten Schritt zu versöhnen. Diese FormForm der IdentitätIdentität ist dialektisch. NarrativNarrativ gesprochen handelt es sich um die Versöhnung von Widersprüchen. Das anti-dialektischeanti-dialektisch Denken des Anderen beruht bei DeleuzeDeleuze, Gilles und noch stärker bei Derrida auf einer Auffassung, in der Differenz und Identität potentiell zusammenfallen, aber nicht infolge der Figur einer versöhnenden und abschließenden Dialektik. Die Differenz, die kein Widerspruch und kein Unterschied im klassischen Sinn ist, wird gleichsam als eine offene Stelle verstanden, die sich nicht schließt. Das SelbstSelbst und das Andere stehen sich als nicht oppositionell gegenüber, sondern sind schon von vornherein in der Differenz miteinander verbunden. Oder andersAndersheit ausgedrückt, die Differenz ist in dieser Version ein Grenzbegriff. Wie DescombesDescombes, Vincent betont, versteht sich die DekonstruktionDekonstruktion als eine Reflexion der okzidentalen Philosophie, die vor dem postkolonialenpostkolonial Hintergrund, hier dem Ende des KolonialismusKolonialismus, „als Ideologie der europäischen EthnieEthnie“ begriffen wird.11
ManMan, Paul de könnte den ÜbergangÜbergang von der einen Position zur anderen als die Radikalisierung eines rationalitätskritischen Denkens in FrankreichFrankreich, dem Land der AufklärungAufklärung und des RationalismusRationalismus, betrachten. Dieses entzündet sich an der Figur des Anderen und des Fremden als eines prinzipiell Unzugänglichen. Das Fremde ist durch eine GrenzeGrenze markiert, die freilich nicht genau festlegbar ist.
Das klassische, nicht-dialektischeDialektik Denken hat eine klare GrenzeGrenze zwischen dem RationalenRationale und dem IrrationalenIrrationale gezogen. Die dialektische Denkfigur wird nun als eine Möglichkeit begriffen, bisherige Grenzen zu überschreiten, die der klassischen VernunftVernunft verschlossen blieben. Aber damit geht eine Umkehrung der Auffassung von RationalitätRationalität einher. In dieser Denkbewegung kommt es zu einem strukturellen Bezug der Vernunft auf ein ihr ganz Fremdes, ihr Anderes. DescombesDescombes, Vincent schreibt in diesem Zusammenhang:
Die FrageFrage bleibt also, ob diese BewegungBewegung dazu führt, dass das Andere zum Selben gemacht wird, oder ob die VernunftVernunft, um gleichzeitig das RationaleRationale und das IrrationaleIrrationale, das Selbe und das Andere zu umfassen, eine Metamorphose vollziehen, ihre ursprüngliche IdentitätIdentität verlieren, dieselbe zu sein aufhören und mit dem Anderen eine andere werden wird. Das Andere der Vernunft aber ist die Unvernunft, der Wahnsinn. So stellt sich das Problem eines Weges von der Vernunft zum Wahnsinn oder zum Irrtum, eines Weges, ohne den es keinen Zugang zu wahrhafter Weisheit gibt.12
DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar weist daraufhin, dass in der von DerridaDerrida, Jacques maßgeblich beeinflussten Denkbewegung das Selbe und das Andere nicht mehr einander gegenüberstehen, sondern auf paradoxe Weise einen Platzwechsel vollziehen. Das, was in der traditionellen LogikLogik im Sinne einer negativen Definition zur Bestimmung des SelbstSelbst als des Eigenen diente, nämlich das Andere, wird nunmehr zum Bestimmungsmoment dieses Selbst, das dadurch aber sein ‚Eigen-SeinSein‘ verliert. Damit wird auch die VernunftVernunft gleichsam deplatziert, weil sie weder das bestimmende Moment in der nunmehr paradoxen RelationRelation zwischen dem Selbst und dem Anderen darstellt, noch diese paradoxe Relation in ihren ‚klassischen‘ Figuren (NegationNegation, DialektikDialektik) erfassen kann.
Indem die VernunftVernunft aber ihr vorgängig Anderes, das Nicht-Vernünftige, den ‚Wahnsinn‘, nicht länger kategorisch ausschließt, verändert diese ihren Charakter. Es geht also nicht darum, die Vernunft in einem Akt klassischer NegationNegation zu verabschieden, sondern das Andere als ihren paradoxen Bestandteil zu begreifen. Das Denken der DifferenzDifferenz ist eines, das die GrenzeGrenze stark macht: Es handelt sich um jene Grenze, die sich das SelbstSelbst und das Andere ‚teilenteilen‘ (→ Kapitel 1). Der Terminus „Weisheit“, der von KojèveKojève, Alexandre entlehnt ist, steht in DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar offenkundig für eine neue FormForm von Wahrheit, die den Wahnsinn umschließt.
Ganz offenkundig interpretiert DescombesDescombes, Vincent beide Perioden der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie in diesem Sinne. Denn die Umkehrung des Verhältnisses des Selben und des Anderen ist der Tendenz nach schon bei Denkern wie LévinasLévinas, Emmanuel, Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice oder KojèveKojève, Alexandre gegeben. Die Radikalisierung besteht vornehmlich darin, dass sich nachfolgende Denker wie DerridaDerrida, Jacques von jenen Denkfiguren verabschieden, die implizit noch immer die Vorstellung eines autonomenAutonomie SelbstSelbst tradieren. Der Andere13, von dem Descombes spricht, ist Derselbe oder fällt mit diesem in der DifferenzDifferenz zusammen.14 In diesem Sinn kommt es zur Überwindung der EntfremdungEntfremdung (→ Kapitel 11), aber auch zu einem Ende des MenschenMensch als eines handlungsmächtigen Wesens.