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1.3. AlteritätAlterität und Raum

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Wie an mehreren Stellen deutlich wird, gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Thema der AlteritätAlterität und einem anderen Themenkomplex, der mit dem „spatial turn“, der Hinwendung zu Phänomenen des Räumlichen, in Zusammenhang steht. Die Rede ist von der LiminalitätLiminalität, ohne die die Diskussion über räumliche oder auch raum-zeitliche PhänomenePhänomen nur schwer denkbar ist. Alle FormenForm von GrenzenGrenze und Rahmungen implizieren eine TeilungTeilung des realen, symbolischen und imaginären RaumRaum (imaginär)es, wobei das deutschedeutsch Wort ‚teilenteilen‘ einen doppelten Sinn in sich trägt. Etwas zu teilen, bedeutet einerseits eine Grenze zu ziehen (in unserem Falle also zwischen zwei Individuen), es meint aber andererseits auch, mit jemand anderem etwas gemeinsam zu haben. Das deutsche Wort teilen umfasst also die Bedeutung der beiden englischen Wörter separate und share. Interessanterweise ist das IndividuumIndividuum etymologisch als eine existentielle Entität zu begreifen, die, wie das Präfix ‚in‘ anzeigt, kein Teilbares (dividuum) ist. Im heutigen Verständnis ist aber dieses unteilbare SelbstSelbst indes fragmentiert und diese ‚Teilung‘ verbindet es wiederum mit einem Anderen. Das Gemeinsame in dieser reziproken AndersheitAndersheit ist eben der Grenzverlauf oder der trennende RahmenRahmen. Massimo CacciariCacciari, Massimo hat deshalb das Doppel-Phänomen der Grenze – TrennungTrennung und VerbindungVerbindung – mit den Begriffen limes und limen beschrieben, wobei ersteres das Hindernis und die Trennung darstellt, zweiteres die ÖffnungÖffnung und den ÜbergangÜbergang.1

Das klassische Gemälde ist von seiner Umgebung durch einen Bilderrahmen getrennt und zugleich mit ihm als seinem Kontext verbunden. Bekanntlich ist der RahmenRahmen, SimmelSimmel, Georg folgend,2 jenes Strukturelement, das dem, was es umrahmt, Bedeutung verleiht, indem es ihm einen Kontext zuweist, ohne den das so Gerahmte keine Bedeutung hat. Das gilt auch für jene vielschichtigen Dispositionen, die hier im Überbegriff des Alteritären, der AndersheitAndersheit, versammelt sind.

Wir sprechen über AndersheitAndersheit, weil wir in einer WeltWelt leben, in der sich das Denken darüber nachhaltig verändert hat. Nimmt man die GlobalisierungGlobalisierung nämlich nicht als einen Effekt, der sich vornehmlich auf die ZeitZeit nach 1989 bezieht, sondern im Sinne einer longue duréelongue durée, eines sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozesses, so wird sichtbar, dass diese Globalisierung, die in der NeuzeitNeuzeit mit den außereuropäischen Entdeckungsreisen beginnt, gegenläufige Tendenzen in sich birgt, die den Vereinheitlichungstendenzen zuwiderlaufen und neue Partikularitäten begründen. Globalisierung bedeutet eine Weitung und ExpansionExpansion in den Raum. Sie nimmt insofern von europäischem BodenBoden ihren Ausgang, indem sie den Raum um Dimensionen, die zuvor undenkbar waren, öffnet und die zu Beginn dieser Ausfahrt mit phantastischen Welten und Völkern assoziiert worden sind. Diese unbekanntenunbekannt Populationen sind es nun, die als ‚Andere‘ konstruiert werden und somit die neuen peripheren Ränder der Erde bevölkern.3 Mit der Ausweitung des Raumes beginnen indessen die kollektiven Anstrengungen, diesen Raum zu komprimieren, einerseits durch die Überführung europäischer KulturKultur in die neu entdeckten Räume, andererseits durch die Entwicklung von MedienMedien, die eben diesen TransferTransfer von MenschenMensch, GüternGüter und IdeenIdee forcieren. Beispiele dafür sind die Beschleunigung des Schiffsverkehrs und die Erfindung der ‚LuftschiffeLuftschiff‘, der BuchdruckBuchdruck (Zeitung, technisch produzierte Bücher) und die sich daran anschließenden medialen Revolutionen im Bereich von InformationInformation und KommunikationKommunikation (RadioRadio, TelefonTelefon, ComputerComputer). Von entscheidender Bedeutung ist außerdem der kulturgeschichtliche Triumph der wohl wichtigsten Neuerung der Neuzeit, der Tauschwährung GeldGeld, die sich in diesem Langzeitprozess als entscheidendes Movens erweist, um das asymmetrischeAsymmetrie Zusammenwachsen der Welt voranzutreiben. Der unübersehbare Effekt all dieser Weiterentwicklung ist nämlich, dass sich, zumindest oberflächlich, Entferntes näher kommt. Dass der Globus, auf dem wir leben, eine runde Gestalt besitzt und sich nicht unendlich linear erstreckt, trägt real wie symbolisch zu diesem ZusammengehörigkeitsgefühlZusammengehörigkeitsgefühl bei. Letzteres manifestiert sich darin, dass wir eine globale KatastrophengemeinschaftKatastrophengemeinschaft geworden sind: Jeder Unfall, jedwede Umweltkatastrophe sowie die KriegeKrieg und Bürgerkriege dieser Welt werden in unterschiedlichen narrativen Versionen, von allen Menschen auf diesem Erdball wahrgenommen.

Die ÖffnungÖffnung der Räume mit der damit einhergehenden ErfahrungErfahrung des kulturell Fremden und die SchließungSchließung der Räume, die eine VerbindungVerbindung mit jenen neuen AlteritätenAlterität mit sich bringt, sind zwei einander bedingende Effekte. Sie sind Teil desselben kulturellen Prozesses, der keineswegs linear verläuft sondern Gegenreaktionen dadurch erfährt, dass neue GrenzenGrenze gesetzt werden, die Räume strukturieren und zugleich trennen. Ein Beispiel dafür ist der klassische NationalstaatNationalstaat, der nach innen HomogenisierungHomogenisierung forciert und sich – die europäische FlüchtlingskriseFlüchtlingskrise der Jahre 2015/2016 ist ein besonders illustratives Beispiel – gegen den EinflussEinfluss von außenAußen abschotten möchte bzw. diesen zumindest streng reglementieren und kanalisieren möchte. Mittels einseitiger territorialer und symbolischer Abgrenzung wird HeterogenitätHeterogenität produziert. Wie gegenläufig diese Prozesse verlaufen, lässt sich an den zentral-, ost- und südosteuropäischen MetropolenMetropolen erkennen: Keine von ihnen, weder Wien noch Budapest, weder Prag noch Belgrad, weder Zagreb noch Triest, weder Thessaloniki noch Wilna waren sprachlich, ethnischEthnie oder religiös homogen, sie sind es erst infolge des Ersten und Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieges bzw. durch die Ereignisse um und nach 1989 geworden. Umgekehrt strömen heute MenschenMensch aus ärmeren Teilen der WeltWelt in viele wohlhabende europäische und nicht-europäische Städte und generieren so neue Fremden und auch neue Heimaten.

Der marxistische SozialismusSozialismus hat sich zunächst als eine globale Alternative zur kapitalistischen GlobalisierungGlobalisierung verstanden und hat so dem kapitalistischen WeltmarktWeltmarkt und der medialen Globalisierung markante GrenzenGrenze gesetzt. Dazu gehören sichtbare Beschränkungen wie der Eiserne VorhangEiserner Vorhang sowie unsichtbare wie beispielsweise die Kontrolle von MedienMedien und Binnenmärkten.

Wie ich in einem anderen Buch (Niemand zu Hause) dargelegt habe, wird das Fremde in einem exotischen Sinn infolge dieser Doppelbewegung von ÖffnungÖffnung und SchließungSchließung zum raren Gut.4 Wer in den vielen Städten dieser WeltWelt mit dem Flugzeug landet, der ist nicht nur von der FremdheitFremdheit des anderen Landes überrascht, sondern auch davon, dass sich bestimmte Infrastrukturen ähneln und dass er dort neben Flughäfen und breiten Fahrstraßen all jene globalen ProdukteProdukt, Markennamen, elektronischen Ausrüstungen, Imbiss-Restaurants und postmodernepostmodern Einkaufszentren findet, die er auch aus seinem eigenenEigentum kulturellen Kontext kennt. Dieses Zusammenwachsen vollzieht sich an einer fragilen, sich schnell ändernden Oberfläche, die Marc AugéAugé, Marc als ein SystemSystem von Nicht-Orten bestimmt hat.5 Dennoch bleiben die klassischen, oft vormodernen OrteOrt, ohne die der modernemodern NationalismusNationalismus sein Auskommen nicht finden kann, nach wie vor als symbolische Ressourcen intakt. Unter der homogenisierenden Fassade einer gleichförmigen, scheinbar alles nivellierenden GlobalisierungGlobalisierung halten sich hartnäckig partikulare Charakteristika, die etwa einer stärkeren IntegrationIntegration Europas im Wege stehen; von diesen auch medial gepflegten Besonderheiten, die ja auch dem SelbstbildSelbstbild des multiplen Halbkontinents bis zu einem gewissen Grad entsprechen, profitieren in jüngster ZeitZeit nicht zuletzt radikale Rechte wie Linke, die gegen eine gemeinsame PolitikPolitik, KulturKultur und ÖkonomieÖkonomie bereits innerhalb Europas Sturm laufen. Problematisch ist dabei nicht so sehr der unvermeidliche Fortbestand von Partikularitäten, der zur prozessualen LogikLogik von Kultur gehört und der sich positiv als Vielheit von Fremdem begreifen lässt, sondern vielmehr die Instrumentalisierung der feinen Unterschiede für die WiederherstellungWiederherstellung von GrenzenGrenze, die nur mehr einen Aspekt des Teilens, nämlich den der Abschottung, im Sinn hat. Die neo-nationalistischen Strategien vieler europäischer Staaten lassen sich hier als plastisches Beispiel anführen.

Wo niemand zu Hause ist, da sind die MenschenMensch räumlich gesprochen potentiell unterwegs, ohne dass freilich die Menschen globale NomadenNomaden geworden sind. Gewiss, die privilegierten Erdenbürger ziehen in den Urlaub, sie nutzen akademische Austauschprogramme oder verlassen gar ihre angestammten Länder, aber eigentlich machen sie sich damit zugleich andernorts sesshaft:6 So wie sich MedienMedien und ZeichensystemeZeichensystem vermischen, so kombinieren sich umherziehende und sesshafte Existenzen. Das bedeutet aber auch, dass jene letztendlich auf der SesshaftigkeitSesshaftigkeit beruhenden fixen IdentitätenIdentität – und nichts anderes meint das problematische deutschedeutsch Wort ‚HeimatHeimat‘ – mit Anführungszeichen versehen werden sollten. Die – neue – Bedeutung von ‚Heimat‘ als einem OrtOrt, an dem sich der Mensch befindet, dem er sich zurechnet und in den er, unabhängig von seiner Herkunft, mitgestaltend eingreifen möchte, besitzt durchaus politisches und kulturelles Gewicht. Dennoch verfügt ‚Heimat‘ in dieser entpathetisierten kulturellen Neufassung nicht mehr über das gleiche metaphysische Potential wie der NationalismusNationalismus und FamilialismusFamilialismus,7 wie er dem traditionellen pathetischen Verständnis von ‚Heimat‘ im 19. und 20. Jahrhundert innegewohnt hat. Auch wenn neuerdings die Berufung auf Heimat, TraditionTradition und NationNation durch den RechtspopulismusRechtspopulismus wieder virulent wird, so ist doch eine gewisse SäkularisierungSäkularisierung des Heimat-Begriffs unübersehbar. Harmlos ist derlei politische Indienstnahme von ‚Heimat‘ indes keineswegs, vor allem dann, wenn die Anrufung des scheinbar substanziell Eigenen in einem Akt symbolischer Aufrüstung als binäre OppositionOpposition zu den diversen Phänomenlagen von FremdheitFremdheit und AndersheitAndersheit forciert wird.

„Niemand zu Hause“, das bedeutet auch, dass der modernemodern (post- bzw. hypermodernehypermodern) MenschMensch nicht mehr bei sich zu Hause ist. Während also das Fremde in der weiten WeltWelt draußen seine FremdheitFremdheit einzubüßen scheint, wächst das Fremde in der eigenenEigentum KulturKultur, äußerlich durch die AnwesenheitAnwesenheit von Menschen aus historisch anderen Kulturen, innerlich durch die Einsicht jener SelbstSelbst-Fremdheit, wie sie Sigmund FreudsFreud, Sigmund Lehre vom UnbewusstenUnbewusste nahelegt (→ Kapitel 3). Nicht zuletzt – und das wäre ein anderer, letztendlich auf den frühen Karl MarxMarx, Karl rekurrierender kulturkritischer Befund – ist dem Menschen jene Welt, die er selbst als ein kollektiver Demiurg ge- und erschaffen hat, fremdfremd geworden. Das Entäußerte tritt ihm dabei, so die einstmals sehr prominente und heute ein wenig verschattete Theorie der EntfremdungEntfremdung, als ein fremdes Anderes und Unbekanntes entgegen (→ Kapitel 11).

Der Einbruch der Figur des bzw. der Anderen (Singular und Plural, MannMann und FrauFrau) in den philosophischen DiskursDiskurs wäre neben der GlobalisierungGlobalisierung der zweite RahmenRahmen, innerhalb dessen heute PhänomenePhänomen des Alteritären verhandelt werden. Er bedeutet den Bruch mit einer TraditionTradition des Philosophierens, die vornehmlich – Ausnahmen hat es immer gegeben – monologisch und monadisch nach dem Verhältnis von MenschMensch und WeltWelt gefragt hat und letzte dabei unter die Kategorie eines gegenständlichen ObjektsObjekt gefasst hat, mit dem das theoretisch fragende SubjektSubjekt konfrontiert ist. Dieser Bezug ist heute von einem anderen gleichsam überschrieben, in dem es um die RelationRelation zwischen Subjekten, um eine Subjekt-Subjekt-Beziehung geht. Martin BuberBuber, Martin und Gabriel MarcelMarcel, Gabriel haben sie im Sinne einer Ich-Du-Beziehung skizziert, aber vielleicht markiert dieses Du doch tendenziell ein exklusives und intimesintim Verhältnis zweier Menschen und unterschlägt eben die in und durch die ModerneModerne erkannte und formulierte ‚HeimatlosigkeitHeimatlosigkeit‘ des modernenmodern Menschen, der sich selbst fremdfremd ist und dem auch sein Gegenüber an einem entscheidenden Punkt fremd bleibt. Insofern beginnt der Diskurs der AlteritätAlterität, der mit der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie anfängt, tatsächlich erst, als dieses Gegenüber in einem schillernden und vieldeutigen Sinn mit dem Epitheton des Anderen versehen wird.

Der Blick auf die beiden Rahmungen unseres Themas, GlobalisierungGlobalisierung einerseits, AlteritätAlterität andererseits, macht deutlich, dass diese Überlagerungen sich wechselweise produktiv beeinflussen, ohne doch theoretisch und ‚kategorisch‘ identisch zu sein. Rückt nämlich der mit den Globalisierungsphänomenen befasste kulturwissenschaftliche Blick die Figur des oder der kulturell Anderen, der mit der Zuschreibung des Ausländisch-Exterritorialen und darüber hinaus mit der des Fremden verbunden ist, ins ZentrumZentrum, so kreist der philosophische viel stärker um die FrageFrage der ZweiheitZweiheit, GespaltenheitGespaltenheit und FragmentierungFragmentierung der conditio humanaconditio humana. Die FremdheitFremdheit, die sich dabei auftut, unterscheidet sich prinzipiell von der traditionellen AngstAngst-LustLust vor anderen KulturenKultur. Strukturell löst sie ebenfalls Angst-Lust aus, aber sie entzündet sich nicht an der kulturellen Fremdheit eines MenschenMensch, sondern an der Tatsache, dass es ein unübersteigbares Moment an Fremdheit in uns gibt, das wir nicht zu übersteigen vermögen, das wir im Sinne einer nachtraditionellen EthikEthik aber produktiv entfalten können.

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