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Kapitel 5 Georg SimmelSimmel, Georg: GeldGeld und ModeMode
ОглавлениеBei der Beschäftigung mit der Theorie der Kulturwissenschaft – und als solche wird Kulturtheorie in diesem BuchBuch (als Medium) verstanden – stellt sich eine fortwährende Verunsicherung ein, für die die Begriffe des Transdisziplinären oder Interdisziplinären gar nicht hinreichen. Denn Interdisziplinarität beschreibt das Verhältnis zweier mehr oder weniger kompakter und gut voneinander abgegrenzter Wissenschaftsdisziplinen. Transdisziplinarität wiederum meint ein Überschreiten der disziplinären Grenzen in einem Niemandsland, einer Art terra incognita. Die Verunsicherung, um die es hier geht, reicht tiefer: Man weiß nicht mehr, auf welchem Feld und in welcher Disziplin man sich gerade aufhält. Aus heutiger Warte ist gänzlich unklar und kaum entscheidbar, ob man sich in SimmelsSimmel, Georg Werk auf kultursoziologischem, kulturphilosophischem oder eben kulturwissenschaftlichem Boden befindet. Sein Werk entzieht sich einer eindeutigen Beschreibung. Vielleicht ist es ein Charakteristikum der heutigen Kulturwissenschaften, dass sie nicht auf trittfestem Gelände agieren, dass sie zusammengesetzte ad hoc-Disziplinen hervorbringen und sich zudem nur schwer von jenen transdisziplinären Anstrengungen abgrenzen können, die sich seit den 1970er Jahren um das Makrophänomen ‚GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich‘ herum gebildet haben.
In jedem Fall ist SimmelsSimmel, Georg Werk in dem unsicheren Zwischengebiet angesiedelt, das sich durch drei Zuschreibungen umreißen lässt: Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie. SimmelSimmel, Georg beginnt seine Karriere als Philosoph in einem akademischen Milieu, in dem sich die Soziologie noch nicht etablieren konnte. Zudem hat seine jüdische Herkunft seinen akademischen Aufstieg überschattet, erschwert und verzögert, obschon die Vorlesungen des Privatdozenten in Berlin enormen Zulauf erfahren haben.
Was SimmelSimmel, Georg jedoch fast lebenslang zum akademischen Außenseiter gemacht hat, ist seine assoziative, konkrete SpracheSprache, das Pendeln zwischen beobachtender Assoziation und eingehender Analyse, seine Abwehr des Deduktiven, seine induktive analytische Phantasie und Gesinnung. Nicht selten beginnt er mit unscheinbaren, geringfügigen, ‚irdisch‘-alltäglichen Dingen und Phänomenen. Oder anders formuliert: SimmelSimmel, Georg ist ungeachtet seiner enormen analytischen Schärfe kein Systematiker, sondern ein Essayist des Konkreten. Sowohl seine Themen (KunstKunst, Kunstwerk, GeldGeld, Phänomene wie BriefBrief, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, Geheimnis, Ruine, ModeMode) als auch seine Methode der genauen Beobachtung der Erscheinungen der modernenModerne, modern, -moderne Welt, „die Anknüpfung der Einzelheiten und Oberflächlichkeiten des LebensLeben, Lebens-, -leben an seine tiefsten und wesentlichsten Bewegungen“,1 machen ihn zu einem Vorläufer und Anreger der Kulturwissenschaften sowie zu einem der fruchtbarsten Kulturanalytiker.
Ähnlich wie bei FreudFreud, Sigmund, sind seine expliziten Aussagen und Begriffsbestimmungen im Hinblick auf ‚Kultur‘ aus heutiger Sicht vergleichsweise traditionell, operieren sie doch nicht selten vonehmlich mit der binären Opposition von Kultur und NaturNatur, auch wenn er dabei betont, „daß Kultur und Natur nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines und desselben Geschehens sind“.2
Das Innovative seiner Überlegungen kommt zumeist in seinen kleinen essayistischen Medaillons zum Vorschein, etwa in seiner Analyse von scheinbar nebensächlichen Gegenständen, Vorrichten und Artefakten wie dem Bilderrahmen, dem Henkel, dem Fenster, der Tür oder der Brücke, die allesamt einen Schlüssel zu SimmelsSimmel, Georg Verständnis von Kultur als einem prozessualen, relationalen und medialen Großphänomen beschreiben, das durch Mechanismen wie Öffnen und Schließen, durch Exklusion und Inklusion, durch mediale An- und Abwesenheit oder durch Kontextualität bestimmt ist.
Zugleich und anders als viele traditionelle aber auch gegenwärtige Denker in diesem Feld ist SimmelSimmel, Georg einer der wichtigsten Theoretiker der ModerneModerne, modern, -moderne und ihrer ganz spezifischen kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben. Der Begriff der Modernität, der in den angelsächsischen Kulturstudien wie in den deutschen Kulturwissenschaften eher unterbelichtet geblieben ist, umfasst mehrere Bereiche, den gesellschaftlichen, den kulturellen und den philosophischen. Die zentrale Frage SimmelsSimmel, Georg lautet: Was macht diese moderne Kultur aus, was macht sie eigentlich so unvergleichlich?
In gewisser Weise hat sein Kulturbegriff, der dezidiert über den engen Bereich der KunstKunst, Kunstwerk-Kultur hinausgeht (Kultur III → Kap. 1), Ähnlichkeiten mit jenem EliotsEliot, Thomas S. (der, wenn auch aus konservativer Perspektive, durchaus das Phänomen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ins Auge fasst) und Raymond WilliamsWilliams, Raymond: Kultur bedeutet symbolische und reale Ausgestaltung der LebensweltLebenswelt, die sich in unverwechselbaren LebensstilenLebensstil manifestiert, die wiederum durch die moderne Welt geprägt sind – durch sich wechselseitig bedingende Phänomene wie GeldGeld, IndividualitätIndividualität, ModeMode und Rationalität.
Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918) war – wie Ernst CassirerCassirer, Ernst – jüdischer Herkunft, ein Freigeist, ein Sammler; er unterhielt enge Beziehungen zum kulturkonservativen George-Kreis, war aber wohl selbst eher ein Liberaler und darüber hinaus ein keineswegs polemischer oder respektloser Kritiker des MarxismusMarxismus, marxistisch. Philosophisch steht er dem Neukantianismus und der PhänomenologiePhänomenologie nahe. Das lässt sich an den Leitmotiven seiner Kulturtheorie sehr gut demonstrieren: Dignität der einfachen DingeDinge. Schlüsselbegriffe seines Denkens sind ferner Begriffe wie FunktionFunktion, RelationRelation und Wert. SimmelSimmel, Georg hat auch als Erster jenes Phänomen beschrieben, das man in der Systemtheorie als AusdifferenzierungAusdifferenzierung, ausdifferenziert bezeichnet. Es besagt, dass moderne Gesellschaften, die in mancher Hinsicht kulturell womöglich homogener sind als vormoderneModerne, modern, -moderne (SpracheSprache, allgemeine BildungBildung), funktional besehen komplexer sind und im Verlauf ihrer Entwicklung immer neue gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Subsysteme mit eigenen Spielregeln hervorbringen. Die gegenwärtige Aktualität SimmelsSimmel, Georg hat freilich auch mit einer Haltung zu tun, die seit der PostmodernePostmoderne, postmodern nicht nur in intellektuellenIntellektueller, intellektuell Diskursen auffällt: AmbivalenzAmbivalenz. Dieser Terminus meint nicht einfach ein Sowohl-als-Auch, schon gar nicht eine bloße Kompromisshaltung, sondern eine Unentschiedenheit, die daher rührt, dass man sich einer Welt gegenüber sieht, deren produktive und problematische Aspekte nur zwei Seiten ein und derselben Sache sind. Zum Beispiel wird nicht selten, zumeist von konservativer Seite der Orientierungs- und WerteverlustWerteverlust in den modernen Zivilgesellschaften des Westens beklagt, aber zugleich ist dieser RelativismusRelativismus, relativ SimmelSimmel, Georg zufolge der Ausgangspunkt für unsere verhältnismäßig hohe Friedfertigkeit. SimmelsSimmel, Georg Radikalität als Kulturtheoretiker besteht gerade darin, an dieser Ambivalenz unbeirrbar festzuhalten. Sie bezeichnet die unmögliche dritte Position zwischen der Affirmation des Bestehenden und jenem pauschalen Unbehagen an der Kultur, das gerade in Deutschland – politisch rechts wie links – so prominent und prekär gewesen ist. Vor diesem Hintergrund ist jene IronieIronie zu verstehen, jener Vorbehalt gegenüber der Wirklichkeit, der diese vielleicht nicht vernichtet, aber doch relativiert. Georg SimmelsSimmel, Georg Theorie der modernen Kultur unterschlägt nicht den Preis, den wir für sie bezahlen.
Die wichtigsten Arbeiten SimmelsSimmel, Georg sind in den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts entstanden. Das Verblüffende an ihnen ist, dass sie ungeachtet der zeitlichen Distanz, die wesentlichen Momente der modernenModerne, modern, -moderne liberalen, durch GeldGeld und Markt geprägten Kultur und die wichtigsten Vollzugslogiken unserer modernen LebensweiseLeben, Lebens-, -leben beschreiben. Sie lassen sich noch immer als eine theoretische Landkarte unserer Kultur lesen. Um diese erstaunliche Aktualität zu begreifen, braucht man nicht auf irgendeine Genialität zu verweisen, obschon SimmelsSimmel, Georg Originalität, sein Gespür für die inneren Befindlichkeiten und Verschiebungen in der modernen Kultur beeindruckend sind. Vielleicht als Erster hat er das Neue an dieser modernen Kultur des Geldes, die sich nach den historischen Krisen und Katastrophen (Erster Weltkrieg, StalinismusStalinismus, FaschismusFaschismus, NationalsozialismusNationalsozialismus) wieder etabliert und entwickelt hat, erfasst, zu einem Zeitpunkt, als dieses Neue noch wahrnehmbar gewesen ist. Heute fällt es uns schwer, diesen dramatischen Wandel überhaupt zu erfassen, den SimmelsSimmel, Georg Schriften so penibel beschreiben und analysieren. Aber noch jede postmodernePostmoderne, postmodern soziologische Analyse über die Erlebnis-, die Risiko- oder die Multioptionsgesellschaft3 argumentiert, explizit oder nicht, im Schatten Georg SimmelsSimmel, Georg. Im Rückblick lässt sich sogar behaupten, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebenen allgemeinen Tendenzen der modernen, durch das MediumMedium Geld gesteuerten Kultur erst heute voll zum Tragen kommen, unmittelbarer als zu seiner ZeitZeit, als die kulturellen Verhaltensmodalitäten aus vorangegangenen Zeiten noch nachwirkten und der LebensstilLebensstil nur an den urbanen ElitenElite, elitär der Zeit ablesbar waren. Der Untergang des ‚realen SozialismusSozialismus‘ hat entscheidend zur Beschleunigung der ökonomischen wie kulturellen Eigenlogik der HerrschaftHerrschaft des Geldes beigetragen.
Die entscheidende Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie besteht darin, dass er GeldGeld als kulturelles Phänomen und als MediumMedium, als ein Mittel begreift, das zwischen DingeDinge und Menschen tritt. Wobei dieses Medium nicht einer spezifischen, ethnischEthnie, ethnisch, religiösReligion, religiös oder sprachlich bestimmbaren Kultur (Kultur I → Kap. 1) zugeschrieben und auch nicht in seiner historischen Genese beleuchtet wird. Das Geld ist schlicht die Münzprägung einer voll entwickelten, kulturell scheinbar unspezifischen Modernität.
SimmelSimmel, Georg untersucht das GeldGeld als ein ‚MediumMedium‘ des modernen LebensLeben, Lebens-, -leben, das nicht nur die Welt der Ökonomie bestimmt, sondern eine ganz spezifische Kultur beinhaltet. Er abstrahiert, anders als etwa VicoVico, Giambattista und HerderHerder, Johann G., von der ethnischenEthnie, ethnisch DifferenzDifferenz ganzer umfassender Kulturen (Kultur I). Der – kontrastive – Zusammenhang zwischen der vormodernenModerne, modern, -moderne okzidentalen und der modernen, sich globalisierenden Geldkultur wird nicht hinterfragt; von daher lässt sich auch kaum die Frage stellen, warum bestimmte Gruppen nicht nur in der arabischen Welt die westlich-amerikanische Kultur ablehnen, weil sie als ‚modern‘ oder weil sie als kulturell different, d.h. als unvereinbar mit den Werten der eigenen Kultur empfunden wird. Im ersten Fall interpretiert man diesen Konflikt als ein Drama der Moderne, im zweiten als einen (medial inszeniertenInszenierung, inszeniert) Konflikt von Mega-Kulturen. SimmelsSimmel, Georg Analyse der modernen Kultur abstrahiert also – im Gegensatz etwa zu SpenglerSpengler, Oswald – von deren raumzeitlichem, d.h. kulturellem und historischem KontextKontext und folgt damit bis zu einem gewissen Grad dem SelbstbildSelbstbild einer Moderne, die sich als universal und globalGlobalisierung, global versteht und missversteht.
Im ersten Teil der Philosophie des GeldesGeld entfaltet SimmelSimmel, Georg eine Theorie des Wertes. Er beschreibt dies als einen Perspektivenwechsel, der sich zunächst innerhalb der Philosophie vollzieht. Die traditionelle Frage der Philosophie richtet sich auf die Beschaffenheit der DingeDinge und der Möglichkeit ihrer ErkenntnisErkenntnis. Diese Frage tritt bei SimmelSimmel, Georg in den Hintergrund, zugunsten einer ganz neuen Frage, nämlich der Frage unseres Verhältnisses zu den Dingen. An die Stelle eines substanziellen Denkens, das eben nach dem Seinsgrund der Dinge fragt, tritt also ein funktionales und relationales Denken, das die vielfältigen Beziehungen untersucht, die wir zu ihnen unterhalten. Das, was der Mensch bislang für wesentlich hielt, tritt in den Hintergrund. Die Frage der Wertigkeit der Dinge bildet demgegenüber den philosophischen Nucleus der Philosophie des Geldes. SimmelSimmel, Georg legt dabei nahe, dass dieser Übergang vom Sein zum Wert, von der Substanz zu RelationRelation und FunktionFunktion idealtypisch den historischen Weg in die moderneModerne, modern, -moderne GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich beschreibt.
Nun erfolgt der nächste Schritt in SimmelsSimmel, Georg Gedankengang. SimmelSimmel, Georg stellt sich nämlich die Frage, was es heißt, den Dingen einen Wert zuzuschreiben. Seine Antwort lautet verblüffend einfach: Werten bedeutet immer, eine RelationRelation herzustellen, sich in Beziehung zu etwas oder jemandem zu setzen. Der betreffende Gegenstand, weit entfernt davon, nur ein Gegenstand interesselosen Wohlgefallens zu sein, ist mir etwas wert, d.h. ich möchte ihn gerne haben, besitzen. So beschreibt der Wert eine Beziehung zwischen Mensch und Gegenstand.
Entscheidend ist dabei mein jeweiliges BegehrenBegehren. Das BegehrenBegehren des SubjektsSubjekt nach dem Gegenstand manifestiert sich demnach im Wert. Die heutige WerbungWerbung, die genau um dieses Zusammenspiel von BegehrenBegehren und Wert weiß, drückt dies direkt in ihren Slogans aus, so etwa wenn das deutsche Modell Claudia Schiffer – die Bezeichnung Modell beschreibt übrigens höchst exakt den formenden Aspekt – im Anschluss an eine Werbung für teure Kosmetika in entwaffnend naiver Weise sagt: Weil ich es mir wert bin. Hier wird übrigens schon ein Moment magischer Verdopplung sichtbar: Es geht um den Begehrens-Wert eines kosmetischen Produkts, der sich auf das Subjekt überträgt, das – so lautet wenigstens die Logik im Verhältnis von Mensch und AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags--ArtefaktArtefakte – damit nicht nur das betreffende Kosmetikum, sondern zugleich dessen vermeintliche Exklusivität begehrt und mit dem Kauf seinen Eigenwert erhöht.
SimmelSimmel, Georg ist der klassische Vertreter einer subjektivenSubjektivität, subjektiv Werttheorie, die den Wert im BegehrenBegehren des einzelnen Menschen verortet. Ein Gegenstand, den niemand begehrt, verliert seinen Wert und verschwindet als nutzloser Plunder vom Markt, wobei er als nostalgischer Tand wiederum ‚attraktiv‘ werden kann. Aber er hat damit seinen Charakter völlig geändert. Ein anderes anschauliches Beispiel liefert das Phänomen der Kunstauktion. Wenn ein Bieter unbedingt einen Goya, einen Schiele, einen van Gogh oder einen Cezanne sein eigen nennen möchte, dann steigert sich analog zu diesem BegehrenBegehren der Wert des betreffenden Gemäldes und wird ihn – bei entsprechendem Geldpolster – dahin bringen, ein Vielfaches des ursprünglichen Mindestgebots zu bezahlen. Dass heute die schillernden Produkte der Bildenden KunstKunst, Kunstwerk an Repräsentativkraft etwa das BuchBuch (als Medium) oder eine digitale Schallplatte (CD) weit übertreffen, hat mit der Einmaligkeit des auratischen DingeDinges – des bildenden Kunstwerks – zu tun.
Es ist aufschlussreich, SimmelsSimmel, Georg Theorie des GeldesGeld mit jener von MarxMarx, Karl zu vergleichen. Ganz offenkundig stellt seine Theorie ganz bewusst ein Gegenmodell zu dessen objektiverobjektiv, Objektiv- Geldtheorie dar. MarxMarx, Karl‘ Theorie ist bekanntlich dualistisch: Jede Ware hat einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. Ohne Gebrauchswert kein Tauschwert. Aber der Wert einer Ware bemisst sich für MarxMarx, Karl, den revolutionären Schüler des liberalen schottischen Ökonomen Adam Smith, nicht nach dem subjektivenSubjektivität, subjektiv BegehrenBegehren. Das Maß für den Wert eines Gegenstands auf dem Markt liefert die (gesellschaftlichGesellschaft, gesellschaftlich durchschnittliche) Arbeitszeit, die zu seiner Herstellung benötigt wurde, weshalb man diese Theorie des Werts auch Arbeitswerttheorie nennt. Während MarxMarx, Karl den Wert vom Standpunkt der Produktion aus sieht und in der Distribution ein variables Epiphänomen betrachtet, konzentriert sich SimmelsSimmel, Georg Philosophie des Geldes genau auf den Bereich, wo das Verhältnis des Menschen zu den Dingen sichtbar in Erscheinung tritt: auf die Distribution. BegehrenBegehren, sagt man, macht blind. Aber der Mensch, dieses nach den Dingen greifende und begehrende Lebewesen, ist keineswegs verrückt, auch wenn er etwa als Modenarr bezeichnet wird; vielmehr ist sein irrationales BegehrenBegehren mit einem durchaus kühlen und logischen Kalkül gepaart.
Die SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv des Menschen in der Geldkultur geht mit einer wachen und wachsenden Zweckrationalität einher. Das GeldGeld, das den direkten Warentausch überwindet, ist selbst schon ein Abstraktum, dessen einziger Wert darin besteht, wie MarxMarx, Karl zu Recht betont, dass es ein universelles Tauschmittel ist. Oder anders, nämlich kulturwissenschaftlicher formuliert: Es ist das MediumMedium unseres Begehrens.
Die erste ‚Abstraktion‘ besteht also darin, dass ich für etwas arbeite, das ich selbst nicht begehre, das aber andere begehren, so dass ich mir das kaufen kann, was ich eigentlich wirklich begehre. Es sind aber andere Abstraktionen im zeitlichen Maßstab denkbar. Ich möchte unbedingt einen Gegenstand – ein Luxusauto, eine schöne Wohnung, den neuesten Computer –, aber ich habe nicht das entsprechende GeldGeld, um mein BegehrenBegehren zu stillen: Miete, Kredit und Leasing machen das Unmögliche möglich.
In diesem dynamischen Prozess zunehmender Abstraktion wird die Barzahlung zum steinzeitlichen Akt deklariert (wie in einer WerbungWerbung für die Visa-Card); das GeldGeld verflüchtigt sich imaginär in die Visakarte. Die Karte, die das Geld unsichtbar macht, wird mit dem Akt des Sehens verknüpft, das im Wort „Visum“ steckt. Die Visa-Karte ist ein kultureller Sichtvermerk für die mit dem Geld vollzogene kulturelle Abstraktion. Dabei wird der durch das Geld repräsentierte Prozess des Wertens und Tauschens zum Selbstzweck. Im Tausch manifestiert und inszeniertInszenierung, inszeniert sich das BegehrenBegehren dessen, der es sich leisten und der es realisieren kann.
Im zweiten Teil untersucht SimmelSimmel, Georg nun den modernenModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben. Das schließt die These mit ein, dass das GeldGeld, weit davon entfernt, ein neutrales MediumMedium zu sein, selbst ein kulturell prägender Faktor ist, der nicht nur das WirtschaftslebenLeben, Lebens-, -leben und die PolitikPolitik bestimmt, sondern auch unsere LebensformenLeben, Lebens-, -leben nachhaltig beeinflusst, ja konstituiert. Geld, so könnte man sagen, ist ein Medium, zumindest im Sinne eines weit gefassten Begriffs von Medium:4 Es ist Medium eines kommunizierten Begehrens. Jedes Geldstück in meiner Hosen- oder Rocktasche sagt potenziell zu jedem möglichen Gegenstand des Begehrens: Ich will Dich. SimmelSimmel, Georg untersucht also das Geld vornehmlich unter kulturellen Gesichtspunkten. Geld ist in seinen Augen das wichtigste Medium der modernen Kultur, wichtiger als alle Kommunikations- und InformationsmedienMedien, Medien-, -medien, medien-, in die vielfach die StrukturStruktur, strukturiert, strukturell des universellen kommunizierten Begehrens eingeschrieben ist. Dass dieses individuelleindividuell BegehrenBegehren konformistisch ist, besagt nichts gegen den soziokulturellen Tatbestand, dass jeder Akt des Begehrens individuell vollzogen werden muss.
SimmelsSimmel, Georg Werk richtet sich expressis verbis gegen den ökonomischen DeterminismusDeterminismus des orthodoxen MarxismusMarxismus, marxistisch:
In methodischer Absicht kann man diese Grundabsicht so ausdrücken: dem historischen MaterialismusMaterialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, dass der Einbeziehung des wirtschaftlichen LebensLeben, Lebens-, -leben in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden.5
Mit dem Terminus historischer MaterialismusMaterialismus ist hier die marxistischeMarxismus, marxistisch Geschichts- und Gesellschaftstheorie gemeint. Diese ist marxistisch, weil sie dem Bereich des Ökonomischen, insbesondere der Produktion (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse), eine determinierende Rolle zuschreibt. Die Produktionsökonomie steuert gleichsam alle anderen Bereiche der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich: Staat, Recht, Kultur, ReligionReligion, religiös. Die Ökonomie der Produktion stellt von daher die BasisBasis, alle anderen gesellschaftlichen Bereiche den sogenannten ÜberbauÜberbau in der Architektur der Gesamtgesellschaft dar, schon die Metaphorik weist auf die statische Sichtweise der MarxMarx, Karl’schen Theorie (→ Kap. 6, 12).
SimmelSimmel, Georg greift nun diese Haus-MetapherMetapher auf, indem er das Haus durch einen Unterstock, einen kulturellen Keller gleichsam komplettiert. Dieses neue Stockwerk wäre die Kultur. Die Erscheinungsformen des Ökonomischen, und das ist bei SimmelSimmel, Georg vornehmlich das kommunizierte Begehrensmedium GeldGeld, werden selbst „aus psychologischen, ja metaphysischen Voraussetzungen“ erklärt,6 MarxMarx, Karl ist ein ökonomischer, SimmelSimmel, Georg ein kultureller Materialist. Im Vorgriff auf spätere Kulturtheorien kann man füglich behaupten, dass viele von ihnen, gerade jene kritisch-linker Provenienz, aus dem Unbehagen an dem ökonomischen DeterminismusDeterminismus hervorgegangen sind, den der MarxismusMarxismus, marxistisch entfaltet und ausgebildet hat.
Pointiert gesagt, legt der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch die Idee nahe, dass Kultur keinen eigenständigen Bereich darstellt, sondern mehr oder weniger nur ein Reflex ist, ein Abbild, ein Spiegel, ein ÜberbauÜberbau auf einem Fundament.7 Nicht wenige Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts – Cultural StudiesCultural Studies, Frankfurter SchuleFrankfurter Schule, AlthusserAlthusser, Louis, GramsciGramsci, Antonio – zeichnen sich dadurch aus, dass sie diesen Ökonomismus kritisch hinterfragt und revidiert haben (→ Kap. 6, 12).
SimmelSimmel, Georg interessiert sich vor allem für die kulturellen Veränderungen, die mit dem Triumph des GeldesGeld als eines für alle verbindlichen MediumsMedium einhergehen. Er benennt sie zunächst einmal, um sie an späterer Stelle ausführlich zu analysieren. Es geht ihm dabei nicht um die Einstellungen und Gesinnungen einzelner Menschen, sondern um eine kollektive Formung des Menschen unter den Bedingungen einer durch das Geld bestimmten Kultur. Diese besitzt eine entschieden eigene Logik, das heißt aber auch, dass sie eine ganz bestimme Kultur repräsentiert. An dieser Stelle wird deutlich, was kultureller MaterialismusMaterialismus bei SimmelSimmel, Georg bedeutet: Die Veränderung der MentalitätenMentalität(en), Einstellungen und Verhaltenswerte ist weniger den diversen intellektuellenIntellektueller, intellektuell und geistigen Programmen und Manifesten geschuldet, die Menschen – Dichter, Philosophen, Politiker – formulieren, sondern liegt im Wesen des Geldes begründet, das auf einmalige Weise subjektivesSubjektivität, subjektiv BegehrenBegehren steuert und mit einem rationalen Kalkül verbindet. SimmelSimmel, Georg benennt diese Phänomene der modernenModerne, modern, -moderne Geldkultur in loser summarischer Abfolge: Charakterlosigkeit, Intellektualisierung, Kult und Kultur der DingeDinge (Kultur der), wachsende Bedeutung der Präsentation, Kult der Person, IndifferenzIndifferenz, ‚KommunismusKommunismus‘, Pazifismus, Abschwächung der Gefühlsfunktionen, Wandel der Geschlechterbeziehungen.
Diese Auflistung ist keineswegs zufällig, sondern macht die Bandbreite der Wirkung des MediumsMedium GeldGeld plastisch. Die Verschiedenheit hat einen gemeinsamen Nenner: das kommunizierte BegehrenBegehren, das in seinem Einsatz der Mittel von großer Rationalität getragen ist. Bemerkenswert ist aber auch das, was ich die radikale AmbivalenzAmbivalenz im Denken SimmelsSimmel, Georg nennen möchte: Die Angehörigen der Geldkultur haben keine Wahl zwischen deren positiven und deren negativen Aspekten, denn beide Seiten bilden eine unzertrennliche Einheit. So ist der charakterlose Mensch der Kultur des Geldes keineswegs nur negativ, ihm sind nur die festen Grundlagen des Seins abhanden gekommen, deshalb fällt es ihm – so jedenfalls das Argument von SimmelSimmel, Georg – leichter, friedfertig zu sein.
Betrachten wir also noch einmal etwas genauer die Phänomene des Begehrens und Wertens. Wie wir schon gesehen haben, hat MarxMarx, Karl bekanntlich den Wert der Ware an die durchschnittlich in dieser vergegenständlichten Arbeit geknüpft.8 Wenn die Arbeit jenes Element ist, das den Wert einer Ware konstituiert, liegt es nahe, das Hauptaugenmerk dieser Produktionsstätte nicht nur der modernenModerne, modern, -moderne Waren, sondern auch ihres Wertes zuzuwenden. Kurzum, der von MarxMarx, Karl initiierte DiskursDiskurs ist auf die Produktion, nicht auf die Distribution und die medialen Interaktionen und Inszenierungen gerichtet. Mit dieser so produktiven wie unproduktiven Blickverengung hängt ursächlich zusammen, dass der orthodoxe MarxismusMarxismus, marxistisch niemals eine anspruchsvolle Kultur-, geschweige denn eine MedientheorieMedien, Medien-, -medien, medien- hervorgebracht hat. Dass der Realsozialismus zum Zeitpunkt einer medialen Revolution, der des Computers, in sich zusammensackte, war also kein reiner historischer Zufall.
SimmelSimmel, Georg hingegen interessiert sich für die PhänomenologiePhänomenologie des Tausches. Für ihn ist der Wert an ein begehrendes Ich geknüpft, das den Abstand zum begehrten ObjektObjekt (im realen wie im übertragenen Sinn) zu überwinden sucht, um dieses als Besitzer in Händen zu halten. Aber nicht alle DingeDinge dieser Welt begehrt jeder von uns in gleicher Weise, um sie sodann – wirklich oder vermeintlich – genießen zu können. Es gibt da individuelleindividuell Unterschiede: Was für den einen der BMW, ist für den anderen die große Weltreise, das Glück des Eigenheims, wertvoller Schmuck, teure Gemälde. Aber die individuelle DifferenzierungDifferenzierung, die durch die Kultur des GeldesGeld eingeleitet wird, hat noch einen anderen Aspekt. Wir vergleichen die Dinge, die uns die moderneModerne, modern, -moderne Kultur anbietet. Wir stellen – mit oder ohne Fee, die uns drei Wünsche frei stellt – eine implizite oder explizite Prioritätenliste auf, sozusagen die Top Five unserer Begehrens-Hitparade: Wir unterscheiden Dinge, die wir begehren, von Dingen, die uns vollkommen gleichgültig sind. Den Objekten fließt also Wert nur deshalb zu, weil sie Objekte eines – meines – subjektivenSubjektivität, subjektiv Begehrens sind. Geld ist MediumMedium und Motor der Selbstdarstellung und Selbstkonstruktion des modernen Individualismus. Dass diese Objekte ihren Wert auf Grund unserer eigenen Wertsetzung besitzen, dass also Geld etwas zutiefst ‚Menschliches‘, durch uns Geschaffenes ist, entgeht uns im AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- einigermaßen gründlich, wir
empfinden […] Dingen, Menschen, Ereignissen gegenüber, dass sie nicht nur von uns als wertvoll empfunden werden, sondern wertvoll wären, auch wenn niemand sie schätzte.9
Was SimmelSimmel, Georg hier anspricht, hat Karl MarxMarx, Karl im prominenten Warenkapitel im ersten Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Das KapitalKapital, Kapitalismus, kapitalistisch mit Scharfsinn und Witz als „FetischcharakterFetisch(ismus), Fetischcharakter der Ware“ beschrieben:10 Den Gegenständen wird eine geheimnisvolle Kraft zugeschrieben, die sie von sich aus gar nicht besitzen (→ Kap. 6).
Ganz analog zu KantKant, Immanuel, der nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gefragt hatte, stellt SimmelSimmel, Georg die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Begehrens: Die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie uns – zumindest zunächst – nicht zur Verfügung stehen, sondern sich uns entziehen:
Das so zustande gekommene ObjektObjekt, charakterisiert durch den Abstand vom SubjektSubjekt, den dessen BegehrenBegehren ebenso feststellt wie zu überwinden sucht –, heißt uns ein Wert.11
An die Stelle eines statisch-kontemplativen Verhältnisses zwischen SubjektSubjekt und ObjektObjekt tritt eine dynamische und funktionale Beziehung. Steht für die klassische Philosophie das Sein der DingeDinge, das Verhältnis des Seienden (in seiner Mannigfaltigkeit) zum Sein, im Mittelpunkt allen Fragens, so werden in der Philosophie des GeldesGeld der Wert der Dinge und die daraus erwachsenen RelationenRelation (BegehrenBegehren, Tausch) zur treibenden Kraft der Kultur. Das Geld überlagert auch all jene Elemente, die VicoVico, Giambattista für konstitutiv gehalten hat: Familie und Genealogie, Vertrag und Totenkult. Nicht, dass es auch in anderen Kulturen Tausch gibt, sondern dass der Tausch selbst zum Charakteristikum der Kultur wird, ist die Pointe von SimmelsSimmel, Georg Kulturtheorie.
Die moderneModerne, modern, -moderne WerbungWerbung zitiert diesen Sachverhalt, den SimmelSimmel, Georg als Erster genauer analysiert hat, tagtäglich: In der medialisierten Werbung ist dieser Abstand auch durch die traditionellerweise weiblichen Repräsentantinnen des Wertes gut sichtbar markiert. Im BildBild des lockenden Abstandes wird auch die Psychomotorik des Begehrens sichtbar: Der Abstand scheint nur da zu sein, um ihn zu überwinden. Mit dem Begriff des Abstandes liefert SimmelSimmel, Georg also einen Schlüssel zur PhänomenologiePhänomenologie des Begehrens: Abstand bedeutet einen Entzug, der das BegehrenBegehren erst in Gang setzt. Von SimmelsSimmel, Georg kulturellem MaterialismusMaterialismus aus betrachtet ist es also kein Zufall, dass die Kultur des GeldesGeld ihrer ganzen StrukturStruktur, strukturiert, strukturell nach ‚erotisch‘ ist. Denn Erotik meint ja keineswegs blinde Emotionalität oder Gefühlsseligkeit, sondern ein Spiel mit Abständen, in dem zweckrationale Strategien ersonnen werden, um den Abstand zu tilgen. BegehrenBegehren heißt also: das Glück der Überwindung. Von daher ist das Glück fragwürdig, das uns das märchenhafte oder auch kommunistische Schlaraffenland bietet, diese utopische Landschaft, in der sich uns alles aufdrängt. Zumindest entbehrt es des Vorhandenseins von BegehrenBegehren, das ohne die Erfahrung des bittersüßen Entzugs undenkbar ist. Unter den Bedingungen der Moderne ist es das Geld, das als kalkulierbares Zaubermittel fungiert.
Dieses Zaubermittel gebiert wiederum einen völlig neuen LebensstilLebensstil. GeldGeld ist, wie schon gesagt, nicht bloß ein ökonomischer, sondern ein kultureller Faktor, der die conditio humana formt, modelliert und konditioniert. Diese Modellierung bezeichnet SimmelSimmel, Georg im Geist seiner ZeitZeit als „Stil“. So hat SimmelSimmel, Georg den von NietzscheNietzsche, Friedrich adaptierten Begriff systematisch für die Analyse der Kultur entfaltet, der bis heute in der Soziologie aber auch in der Alltagssprache geläufig ist. Vermutlich ist LebensstilLebensstil die eleganteste Übertragung der englischen Wendung way of life, und T.S. EliotEliot, Thomas S., der argwöhnische Kulturkonservative, hatte wohl gleichfalls den modernenModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil im Sinn, als er seinen weit gefassten Begriff von Kultur (Kultur II) prägte (→ Kap. 1). Das Wort „Stil“ leitet sich vom lateinischen Wort stilum ab und meint eigentlich einen Griffel, ein mittlerweile längst verschwundenes Schreibwerkzeug, das Generationen von Schülerinnen und Schülern zum Schreiben auf eine Schiefertafel benutzt haben. In der heutigen Verwendung bezeichnet es eine ästhetische Formgebung, wofür wir heute gerne den englischen Begriff Design verwenden (von lat. designare bezeichnen, mit einem Zeichen versehen). Aber es gibt da doch einen entscheidenden Unterschied. Im Begriff des Stils steckt eine positive Aufladung. Wenn der Mensch nämlich Stil ist, dann ist es der Stil, der einen zum Menschen macht. Wenn einem Mann oder einer Frau Stil zugeschrieben wird, dann ist das keine neutrale Beschreibung, die trivial ist, weil ja jeder irgendwie einen LebensstilLebensstil hat, sondern schließt ähnlich wie beim Menschen, der Kultur besitzt, die Wertschätzung mit ein. Der expressionistische Lyriker und NietzscheNietzsche, Friedrich-Schüler Gottfried Benn, der zeitlebens die Stillosigkeit seiner Landsleute beklagt hat, hat sich zu der Aussage verstiegen, im Zusammenhang mit dem FaschismusFaschismus von „RasseRassismus, Rasse mit Stil“ zu sprechen.12
Auffällig ist, dass SimmelSimmel, Georg, von einer Leidenschaft nüchterner Neugierde getrieben, den Begriff Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben (SimmelSimmel, Georg verwendet zunächst diese Bezeichnung für LebensstilLebensstil) in einem völlig neutralen Sinn verwendet. Unklar bleibt auch, wer da formt, der Mensch oder die selbstläufig gewordenen kulturellen Kräfte, die er entbunden hat, allen voran das GeldGeld. Dieses bringt nämlich eine spezifische Form des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben hervor. Aber eigentlich ist das Phänomen des LebensstilsLeben, Lebens-, -leben selbst – so wie das Phänomen der ModeMode – neu. Es hat auf den ersten Blick keinen Sinn, vom LebensstilLebensstil der antiken Griechen, der Mayas oder der Menschen im MittelalterMittelalter zu sprechen. LebensstilLebensstil bedeutet nämlich ein ästhetisches Verständnis und Selbstverständnis des Menschen, das vor der ModerneModerne, modern, -moderne einigermaßen fremd war. SimmelSimmel, Georg beschreibt verschiedene zentrale, für den modernen Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben charakteristische Merkmale:
1 Der LebensstilLebensstil hat keine ‚Tiefe‘, keine Authentizität, er ist arbiträrArbitrarität, arbiträr und „charakterlos“. Arbiträr, vom lateinischen arbitrari, glauben, meinen abgeleitet, verweist auf die Tatsache, dass unser LebensstilLebensstil einigermaßen willkürlich gesetzt ist und zum Teil auch so verstanden wird. Er resultiert nicht länger aus der Befolgung heiliger, von göttlichen Instanzen eingesetzter Regeln, Geboten, Verboten, Vorschriften. Charakterlos meint auch, dass dieser LebensstilLebensstil sich ändern kann und dass ihm gegenüber kein Treuegebot gilt. Ein 68er Linker, ein Punk oder eine Grün-Alternative muss seinen bzw. ihren LebensstilLebensstil nicht das ganze LebenLeben, Lebens-, -leben hindurch tragen, er/sie kann ihn ändern, ohne irgendwelche Sanktionen befürchten zu müssen und ohne dass ihm/ihr Schuldgefühle nahegelegt werden.
Die Pluralität der heutigen Lebensstile lässt sich als Auswirkung der Vorläufigkeit modernerModerne, modern, -moderne Existenz begreifen. Ihr offenkundiger Mangel, ihre Unverbindlichkeit und geringe soziale Bindekraft erzeugt, verschärft durch das Abgrenzungsbedürfnis der nachfolgenden Generationen, immer neue Lebensstile, die strukturellStruktur, strukturiert, strukturell verblüffend ähnlich sind.
In diesen Zuschreibungen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur des GeldesGeld treten Phänomene zutage, die man seit den 1980er Jahren gern als postmodern bezeichnet: eine Form von Selbstzuschreibung, die kontingentKontingenz, kontingent, das heißt zufällig und nicht zwingend ist. Damit steht der moderne LebensstilLebensstil im krassen Gegensatz zur klassischen ‚Persönlichkeit‘ des 18. und 19. Jahrhunderts, deren zentrales Bestreben die Entdeckung und Entfaltung des wahren Selbst ist.
1 Der moderneModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben ist durch das Primat des Verstandes geprägt: Das BegehrenBegehren eines Menschen nach einem bestimmten Produkt mag subjektivSubjektivität, subjektiv, unvernünftig, ja sogar irrational sein, aber die Art und Weise, es in seinen Besitz zu bekommen, ist zweckrational. Das ist, wie SimmelSimmel, Georg ausführt, die Folge des „Mittelcharakters des GeldesGeld“. Das Geld ist ein MediumMedium, es tritt dazwischen. Aber das Dazwischentreten des Geldes hat weitreichende Folgen, für den Einzelnen wie für die Kultur. Das BegehrenBegehren wird aufgeschoben. Es entsteht eine lange Reihe von Mitteln und Zwecken. Das strategische Denken wird zur vorherrschenden Mentalität unseres kulturellen und gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich LebensLeben, Lebens-, -leben. Das Geld wird zum Mittel der Gestaltung unseres Willens im KontextKontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, die wiederum durch die Verbindung zwischen subjektivem Willen und absolutem Werkzeug geschaffen werden. Durch das Medium Geld tritt das Prozesshafte der Kultur vollends zutage.13
Aber damit modifiziert sich der Wille als solcher, er rationalisiert sich durch die Beziehung zum Mittel, dessen er sich zur Durchsetzung bedient. Der Wille ist, bemerkt SimmelSimmel, Georg an einer Stelle, blind wie der des „geblendeten Cyclopen“, der „aufs Geratewohl losstürmt“14. Was ihm fehlt, ist ein Inhalt, ein Zweck und die strategische Wahl der Mittel. Woran es ihm mangelt, ist, um die Anspielung aus der Odyssee aufzugreifen, die List des Odysseus, die HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. in ihrer Lesart des Homerischen Epos kulturkritisch und antikapitalistisch wenden werden (→ Kap. 6).
Der moderneModerne, modern, -moderne LebensstilLebensstil ist subjektivSubjektivität, subjektiv, begehrlich und zugleich rational-strategisch. Er impliziert ein Zurückdrängen all jener Bereiche, die man als Gemüt und Gefühl bezeichnet. In der Umgangssprache werden sie mit dem Begriff des Romantischen belegt. Zur Veranschaulichung sei hier ein Beispiel aus der österreichischen Literatur zitiert, der erste Roman von BrochsBroch, Hermann Trilogie Die Schlafwandler. Er trägt den Titel Pasenow oder Die RomantikRomantik. Der romantische junge Pasenow, der für eine junge Varietéschauspielerin und Halbweltdame entflammt ist und am Ende die standesgemäße Nachbarstochter ehelicht, verkörpert einen untergehenden Typus, für den noch alles in OrdnungOrdnung, ordnungs- ist und in Ordnung aufgeht. Demgegenüber verkörpert sein liberaler und melancholischer, unternehmerischer Jugendfreund den neuen rastlosen urbanen LebensstilLebensstil des GeldesGeld. Mobilität geht immer auf Kosten der Treue.15 Auf das Verhältnis der beiden ungleichen Freunde lässt sich SimmelsSimmel, Georg folgende Anmerkung blendend zur Anwendung bringen:
Wie der, der das GeldGeld hat, dem überlegen ist, der die Ware hat, so besitzt der intellektuelleIntellektueller, intellektuell Mensch als solcher eine gewisse MachtMacht gegenüber dem, der mehr im Gefühle und Impulse lebt. Denn soviel wertvoller des letzteren Gesamtpersönlichkeit sein mag, so sehr seine Kräfte in letzter Instanz jenen überflügeln mögen – er ist einseitiger, engagiert, vorurteilsvoller als jener, er hat nicht den souveränen Blick und die ungebundenen Verwendungsmöglichkeiten über alle Mittel der PraxisPraxis wie der reine Verstandesmensch.16
Wichtig ist hier festzuhalten, dass diese Überlegenheit zunächst einmal eine rein praktische und keineswegs eine moralische ist. Im Gegenteil. Ein klein wenig suggeriert SimmelSimmel, Georg den Eindruck, dass diese Überlegenheit möglicherweise moralisch durchaus fragwürdig ist. Mit dem GeldGeld umgehen zu können, ist also eine KulturtechnikTechnik, -technik, die Menschen erst erlernen müssen. Sie setzt die Kenntnis von Kalkülen und die Rechtfertigung von diversen Operationen voraus. Diese ‚mediale‘ Rationalität konzentriert sich auf den ökonomisch effizienten Mitteleinsatz zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Das gilt nicht nur im Bereich der Ökonomie, sondern in allen relevanten Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. In dieser Konzentration liegt freilich, wie SimmelSimmel, Georg später zeigen wird, auch ein verkehrendes Moment: dass nämlich wie bei Dagobert Duck in Entenhausen das Mittel alles, nämlich zum Ziel wird.
1 Aus der Rationalität des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLebensstil resultiert, dass er intellektuellIntellektueller, intellektuell, d.h. charakterlos ist. Aber das Wort „charakterlos“ erfährt hier ebenso wie das Adjektiv „intellektuell“ eine verschobene Bedeutung. Es meint nicht, dass alle Mitglieder der modernen Geldkultur moralisch defizitär wären, es meint auch nicht, dass alle Menschen zu Intellektuellen würden. Und es bedeutet auch nicht, dass Intellektuelle charakterlos in moralisch abwertendem Sinn sind – Zuschreibungen, die von radikalen linken wie rechten Denkern immer wieder vorgebracht worden sind. Simmel schreibt diesbezüglich:
Der IntellektIntellekt, seinem Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht.17
Das Wort „Charakter“ kommt aus dem Altgriechischen. Sein Bedeutungsumfang lässt sich durch Worte wie Gepräge, Ritzung, Zauberzeichen, amtliche Eigenschaft, Rang, Stand beschreiben. Der „charakterlose“ LebensstilLebensstil ist ambivalent und widerspricht dem berühmten Lutherischen Diktum: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. In den KontextKontext des (post-)modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben gestellt, bedeutet er demgegenüber: Hier bin ich gerade, ich kann auch anders. Die heute allseits beschworene Biegsamkeit (Flexibilität), die geschickt der sozialen Unterwerfung des einzelnen Menschen unter die Logik des KapitalsKapital, Kapitalismus, kapitalistisch einen dynamisch-erotischen ‚Kick‘ verleiht, weist genau in diese Richtung: Bereitschaft zur permanenten Veränderung, zum Wechsel der eigenen IdentitätIdentität.
Überhaupt ist es sinnvoll, SimmelsSimmel, Georg Begriff der Charakterlosigkeit mit den Identitätsdebatten unserer Tage in Verbindung zu bringen. Charakterlos bedeutet auch, die Einbuße, die Unmöglichkeit, den (scheinbar) freiwilligen Verzicht auf eine fixe, unveränderliche IdentitätIdentität, freiwillig zu akzeptieren. Nicht nur haben wir verschiedene Identitätsoptionen – nationaleNation, Nationalismus, national, geschlechtlichegeschlechtlich, berufliche, regionale usw. – wir ändern womöglich auch unsere Identität im Laufe unseres LebensLeben, Lebens-, -leben. Diese Form von verflüssigter Identität wird in der modernenModerne, modern, -moderne Kultur offenkundig vorgezogen.
Um sich dies anschaulich vor Augen zu führen, kann man auch einen Blick von SimmelsSimmel, Georg opus magnum auf ein literarisches Werk werfen, auf Robert MusilsMusil, Robert Roman Mann ohne Eigenschaften, der sich – nebenbei bemerkt – als eine KulturanalyseKulturanalyse mit literarischen Mitteln lesen lässt. Der schon im Titel des Buches angesprochene Mangel an Eigenschaften des Sohnes, der im Kontrast zum Vater, dem Mann mit Eigenschaften steht, korrespondiert ganz offenkundig mit der SimmelSimmel, Georg’schen Charakterlosigkeit.
SimmelSimmel, Georg zielt auf etwas, das MusilMusil, Robert als Eigenschaftslosigkeit bezeichnet. Der Protagonist Ulrich entspricht wenigstens zu Anfang des Romans mit all seiner nüchternen Distanz, seinem Faible für Körperertüchtigung, seiner IronieIronie und seinem Konsumverhalten der Charakterlosigkeit des SimmelSimmel, Georg’schen Menschen. Er ist dessen spezifisch österreichische Variante, womöglich in DifferenzDifferenz zum realen Autor.
Mit der Eigenschaftslosigkeit ist offenkundig jene Einbuße an Selbstverständlichkeit im Hinblick auf die eigene Person gemeint, der Verlust des GlaubensGlaube an die Verfügbarkeit über die eigene Person, die der klassische HumanismusHumanismus wenigstens nahelegt. Es geht nicht darum, dass Ulrich jedwede Spezifität und Besonderheit eingebüßt hätte, sein Bedürfnis nach aristokratischer DifferenzDifferenz gegenüber dem aufkommenden MassenmenschenMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- ist ohnehin unübersehbar. Aber was ihm abhanden gekommen zu sein scheint, das ist eben jene selbstverständliche IdentitätIdentität mit sich selbst. Das LebenLeben, Lebens-, -leben des modernenModerne, modern, -moderne Menschen ist immer auf Vorbehalt angelegt und gerade deshalb ist es ihm möglich, immer wieder die Rollen zu wechseln.
1 Mit diesem Vorbehalt sich selbst gegenüber und mit der Intellektualität unmittelbar verbunden ist jenes Phänomen, das SimmelSimmel, Georg als „eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens“ bezeichnet. Die Dämpfung des emotionalen LebensLeben, Lebens-, -leben ist eine direkte Folge jener Distanz, die durch das Dazwischentreten des GeldesGeld im zwischenmenschlichen Umgang eingeübt wird. Im strategischen Handeln ist es nicht klug, Gefühle zu zeigen. Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts etwa war es in Deutschland üblich, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen. So wurde es in der Epoche der Empfindsamkeit zum kulturellen Gebot, im Theater öffentlich zu weinen. Ein Begriff wie Herzensbildung erscheint uns heute unerträglich pathetisch. Die Abneigung gegen Sentimentalität und Pathos, die Aufladung des eigenen Selbst im und durch das Gefühl zeigt sich bis vor kurzem auch in der programmatischen Unterkühltheit (coolness) der Jugendkulturen; die spezifische Verwendung des amerikanischen Englischen leistet dabei einen entscheidenden symbolischen Beitrag. Die kulturell eingeübte Kühle in den westlichen Kulturen Nordamerikas und Westeuropas, die von Angehörigen anderer Kulturen nicht selten als unerträgliche Kälte beschrieben wird, hat natürlich auch ihre Kehrseite. Die Berufsgruppe, die uns beibringen möchte, zu unseren Gefühlen zu stehen, Gefühl zu zeigen, unsere Emotionen neu zu entdecken, der Bereich der Psychotherapie im weitesten Sinn, wächst mit dem kulturellen Imperativ, als Agent der Geldkultur kühlen Kopf zu bewahren. In gewisser Weise lässt sich mutmaßen, dass die von SimmelSimmel, Georg beschriebene Tendenz der Emotionsverringerung auch kontrafaktisch ist.
2 Wo es nicht um oder an das persönlich Eingemachte geht, wo die eigene Überzeugung wenig, aber die Einigkeit über bestimmte rationale Prozeduren viel zählt, da stellt sich jenes Phänomen ein, das SimmelSimmel, Georg als „Leichtigkeit intellektueller Verständigung“ beschreibt. Man kann sich einigen, weil für alle Beteiligten nicht allzu viel auf dem Spiel steht, außer der eigenen Selbstbehauptung. Es geht nicht – um einen alten Pop-Song zu zitieren – um All or Nothing. Kein Zufall, dass in dieser Kultur eine Berufsgruppe auf dem internationalen Parkett zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Diplomatie. Sie ist die hohe SchuleSchule des Kompromisses, der Gewandtheit und der Mediation, die mittlerweile Teil unseres gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags- geworden ist, und zwar auf allen Ebenen unserer Kultur: privat wie öffentlich. Um in diesem Spiel zu bestehen, bedarf es eben eines gewissen Maßes an Charakterlosigkeit, eines Mangels an eigenen inneren Überzeugungen. Denn solange sich die eigene IdentitätIdentität aus solchen inneren ‚tiefen‘ Überzeugungen und Gefühlen bestimmt und speist, so lange wird jeder Kompromiss zwangsläufig zu einem Verrat an sich selbst. Als 1989 die Grenzen zwischen Ost- und Westeuropa fielen, konnte man die von SimmelSimmel, Georg beschriebene kulturelle DifferenzDifferenz sehr gut wahrnehmen, hier die gewandten, emotional ‚abgeflachten‘ Westeuropäer, dort jene Menschen, die über Standpunkte, Emotionen, Ecken und Charakter verfügten und diese auch in ihrem Handeln ins Spiel brachten, übrigens mit nicht selten bedenklichen Folgen. Der Überzeugungstäter ist die Gegenposition zum überzeugungslosen Diplomaten, so wie sich Helden und Händler – die beiden Gegenpole bei Werner SombartSombart, Werner – ausschließen.18
Hinter SimmelsSimmel, Georg Argument steckt aber indirekt eine wichtige These, nämlich die Auffassung, dass Emotionen eine wichtige Rolle für die eigene Selbstversicherung spielen. Die vorbehaltliche und provisorische IdentitätIdentität und die Abkühlung der eigenen Emotionen bedingen einander. Auf paradoxe Weise hat – so wenigstens das SelbstbildSelbstbild – der emotional distanzierte Mensch ohne fixe Identität eine weit höhere Verfügungsgewalt über sich selbst als der Mensch, der aus seinen Emotionen eine starke Identität bezieht, aber diesen zugleich ausgeliefert ist. Ihm ist der Kompromiss wesensmäßig fremd. Demgegenüber attestiert SimmelSimmel, Georg dem charakterlosen Menschen der Geldkultur eine „Tendenz zur Versöhnlichkeit“.19 Das hängt mit einer weiteren Facette seiner kollektiven Disposition zusammen, die man heute als IndifferenzIndifferenz bezeichnet, als GleichgültigkeitGleichgültigkeit. SimmelSimmel, Georg bescheinigt dem Menschen der modernenModerne, modern, -moderne Kultur „Gleichgültigkeit gegenüber den Grundfragen des Innenlebens“,20 damit aber auch eine Gleichgültigkeit sich selbst und dem anderen gegenüber. Diese Gleichgültigkeit hat mehrere Aspekte. Zunächst einmal bedeutet die Gleichgültigkeit positiv gesehen, dass mein Gegenüber, ungeachtet seiner Herkunft und seines GeschlechtsGeschlecht (Gender), Geschlecht-,, gleich gültig ist, seine Besonderheit interessiert mich nicht weiter. GeldGeld ist ein radikaler leveller, hat MarxMarx, Karl einmal attestiert.21 Etwas von dieser Gleichgültigkeit des Geldes ist in die modernen zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschrieben. Was übrigens nicht bedeutet, dass in dieser Kultur der Einzelne gänzlich wertlos wäre, ganz im Gegenteil. Vielleicht lässt sich zur Illustration für diese kulturelle Befindlichkeit noch ein weiterer berühmter Autor aufrufen, nämlich Milan KunderaKundera, Milan, der die geniale Formel von der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ zum Titel seines wohl prominentesten Romans gemacht hat. Um sich leichtfüßig zu bewegen, muss man möglichst viel Ballast abwerfen, die Schwere des Gefühls, der Metaphysik, der eigenen Person. Freilich legt allein schon der Romantitel nahe, dass diese Leichtigkeit am Ende unerträglich sein könnte und – mit SimmelSimmel, Georg gesprochen – das BegehrenBegehren nach Schwere auslöst.22
Programmatisch und selbstbildhaft bleibt hingegen die unpersönliche Sachlichkeit, wie sie uns aus unzähligen Stellenausschreibungen, den medialen Manifestationen des ökonomischen Bereichs aus Karrierebeschreibungen oder aus medialen RepräsentationenRepräsentation als Ausweis von Professionalität entgegenschlägt. Es handelt sich dabei um eine Form von Moderatheit, die durch das GeldGeld ‚moderiert‘ wird. Wenn SimmelSimmel, Georg in diesem Zusammenhang von der „Objektivitätobjektiv, Objektiv- dieser Lebensverfassung“23 spricht, dann meint er nicht, dass die moderneModerne, modern, -moderne Kultur ein stabiles ‚objektives‘ Fundament besitzt, sondern vielmehr, dass die Welt der durch das Geld vermittelten DingeDinge und Einrichtungen eine Objektivitätobjektiv, Objektiv- erzeugt, an die wir uns in unserem Verhalten gleichsam anschmiegen. Das Geld etabliert insofern eine Art von leerer Objektivitätobjektiv, Objektiv-, indem es Sachzwänge schafft, denen wir uns nicht nur fügen, sondern die wir in unserem Verhalten verinnerlichen. Kultur ist jener wundersame Bereich, in dem es nicht um Verbote und Repression geht, wie im Feld von PolitikPolitik und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, sondern um die Frage der Selbstkonditionierung, einer Form von mehr oder weniger unbewusstunbewusst verlaufender kultureller SozialisationSozialisation, die, wie Pierre BourdieuBourdieu, Pierre gezeigt hat, viel effektiver ist als der schiere Zwang, die bloße Repression, die schlichte Gewalt (→ Kap. 9).
Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die inneren, ‚unsichtbaren‘ Tendenzen des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben sagen, dass das GeldGeld kulturell betrachtet ein janusköpfiges Phänomen darstellt. Es ermöglicht die Präsenz des IndividuumsIndividuum um den Preis seiner rigorosen Selbstbeschneidung. Im Gegensatz zum üblichen Binarismus – hier Individualismus, dort Kollektivismus – geht SimmelSimmel, Georg davon aus, dass der moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben sowohl individualistisch als auch kollektivistisch ist.
Das GeldGeld ist, wie sein theoretischer Reflex, die rationalistische Weltauffassung, eine SchuleSchule des neuzeitlichen Egoismus und des rücksichtslosen Durchsetzens von IndividualitätIndividualität gegen die traditionellen Mächte der Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang prägt SimmelSimmel, Georg die paradoxe Formel von der „Majorisierung des Einzelnen“. Das Geld besitzt eine individualistische Komponente: Es ‚objektiviert‘ zwar die „impulsiv-subjektivistischeSubjektivismus, subjektivistisch“ „in überpersönliche und sachlich normierte Verfahrungsweisen“, aber es gibt dem Einzelnen überlegene Strategien an die Hand, seinen Willen und seine Ziele durchzusetzen. Der „kommunistische“ Charakter des Geldes, den SimmelSimmel, Georg ironisch, aber zugleich ganz ernst gemeint, gegen den SozialismusSozialismus seiner ZeitZeit setzt, ergibt sich hingegen aus dem „nivellierten“ Charakter des Geldes, für das alles gleichgültig (im Doppelsinn des Wortes) und allgemein mitteilbar ist. Das Geld macht alles theoretisch für alle zugänglich, es ist „allgemein mittelbar“.24
Andy WarholWarhol, Andy, ein praktischer Soziologe mit künstlerischen Mitteln, hat dies ganz ähnlich gesehen wie SimmelSimmel, Georg. Er hat sich mit massenwirksamen Symbolen beschäftigt, so auch mit Hammer und Sichel, dem SymbolSymbol des offiziellen marxistischenMarxismus, marxistisch KommunismusKommunismus. Diesem hat er die Cola-Flasche gegenübergestellt, die er – so ironisch wie unironisch – als ein unsentimentales SymbolSymbol einer demokratischenDemokratie, demokratisch PopularkulturPopularkultur gefeiert hat: Jeder, auch die Queen trinkt Coca Cola, textet WarholWarhol, Andy in seiner Hommage auf den KommunismusKommunismus der verallgemeinerten Geldkultur, jeder trinkt unabhängig von Herkunft, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-, und KlasseKlasse Coca Cola.25
Die Geldkultur ist, wenn man sie seitlich anleuchtet, also durchaus attraktiv, gerade weil sie individualistische und ‚kommunistische‘, d.h. egalitäre Momente miteinander verknüpft. Nicht, weil die USA der mächtigste Staat dieser Welt sind, sondern weil die Vereinigten Staaten diesen Kommunismus des GeldesKommunismus (des Geldes)Geld – mit all seinen Facetten – perfekt zu verkörpern scheinen (denn die gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Realität dürfte sich von diesem Selbst- und FremdbildFremdbild unterscheiden), ist Amerika, ungeachtet eines weltweiten Anti-Amerikanismus, jene Kultur des Westens, die noch immer die mächtigste Anziehungskraft auf breite Schichten der außeramerikanischen Welt ausübt, eben weil sie beides verspricht, IndividualitätIndividualität und egalitären Konformismus.
Aus diesen beiden gegenläufigen Momenten ergibt sich eine weitere Form des modernenModerne, modern, -moderne LebensstilsLeben, Lebens-, -leben, der Atomismus der modernen GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. Die Masse tritt in dieser Kultur höchst selten in geballter Form, als Mega-KörperKörper, körperlich auf, wie es die diversen MassentheorienMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- marxistischer, psychoanalytischer und kulturanthropologischer Provenienz dargelegt haben, sondern zumeist handelt es sich um eine virtuelle Masse, in der jeder für sich allein ist:
Die Allgemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem sie für jede individuelleindividuell Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen erscheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen, ohne dass diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete überginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Einheit bildete.26
SimmelSimmel, Georg zählt weitere Charakteristika auf, die mit den oben beschriebenen Tendenzen direkt zusammenhängen. Für den heutigen Leser ist die Mischung aus Vertrautem und Befremdlichem verblüffend. So spricht SimmelSimmel, Georg von der modernenModerne, modern, -moderne Kultur als einer Kultur des Messens, was sich im Umgang mit GeldGeld aber auch mit ZeitZeit sinnfällig demonstriert. In der modernen Kultur dominiert das Phänomen der Verflüssigung, des Prozessualen, demgegenüber das Statische und das Produkt zurücktreten. SimmelSimmel, Georg zufolge handelt es sich dabei um eine „Verdichtung der rein formalen Kulturenergie, die jedem beliebigen Inhalt zugeordnet werden kann“.
Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz, so lässt sich sagen, dass SimmelsSimmel, Georg Analyse in der Tat einem kulturellen MaterialismusMaterialismus verpflichtet ist, der bestimmte Denkformen, Haltungen und LebensformenLeben, Lebens-, -leben, das Hervortreten neuer symbolischer FormenFormen, symbolische wie der modernenModerne, modern, -moderne KunstKunst, Kunstwerk vornehmlich nicht dem Entstehen neuer Ideen und Konzepte zuschreibt. Deren Durchsetzung ist nur möglich mittels der medialen Eigendynamik des GeldesGeld. Von allen Medien ist Geld das kulturell nachhaltigste und durchschlagendste. Alle nachfolgenden technischen KommunikationsmedienMedien, Medien-, -medien, medien- tragen dessen StrukturStruktur, strukturiert, strukturell in sich. Aus dieser Perspektive sind politische Phänomene wie Pazifismus, FeminismusFeminismus sowie politischer und sozialer Egalitarismus nicht so sehr geistesgeschichtliche Ereignisse, sondern Effekte der modernen, von der Struktur des Geldes bestimmten Lebensstilkultur. Die Devise des amerikanischen MedientheoretikersMedien, Medien-, -medien, medien- Marshall McLuhan The medium is the message gilt ganz besonders für das Geld.27
Der Pazifismus z.B. ist in dieser Argumentation nur möglich, weil die moderneModerne, modern, -moderne Kultur die Tendenz beinhaltet, weltanschauliche Gegensätze zurückzustellen, und einen Menschentypus hervorbringt, der seinem ganzen Verhaltenskodex nach versöhnlich ist. Der FeminismusFeminismus ist nicht zuletzt auch das Ergebnis eines Egalitarismus, der im GeldGeld verankert ist und der GleichgültigkeitGleichgültigkeit mit sich bringt. Unter den Bedingungen des ‚Kommunismus‘ des GeldesKommunismus (des Geldes) ist jedes IndividuumIndividuum ein gleichberechtigter Konsument, unabhängig von seinen spezifischen und inneren Besonderheiten, von denen die moderne Kultur ebenso wie das Geld abstrahiert.
Bezeichnend ist SimmelsSimmel, Georg extreme AmbivalenzAmbivalenz: Man kann seine Beschreibung der modernenModerne, modern, -moderne westlichen, durch das MediumMedium GeldGeld gesteuerten Kultur wie ein Kippbild betrachten. Dann sehen wir auf der einen Seite das positive SelbstbildSelbstbild unserer gegenwärtigen Kultur – des LebensLeben, Lebens-, -leben, der PolitikPolitik und der Künste – und auf der anderen Seite jene problematischen Aspekte, die stets – um mit FreudFreud, Sigmund (→ Kap. 2) zu sprechen – „Unbehagen“ hervorrufen (RelativismusRelativismus, relativ, Zynismus, Egoismus, Verlust an sozialer Verbindlichkeit usw.). Die radikale Pointe dieser Ambivalenz liegt indes darin, dass SimmelsSimmel, Georg Analyse der modernen Kultur uns zwingt, uns einen Spiegel vorzuhalten, in den wir üblicherweise nicht schauen mögen. Denn bei aller Attraktivität der modernen Kultur möchten wir uns nicht als Menschen begreifen, die maßgeblich von der Kultur des Geldes geprägt und habitualisiert sind. In diesem Sinn zieht SimmelSimmel, Georg eine verfängliche Bilanz; auf befremdliche Weise führt er uns unsere Kultur in ihrer latenten Programmatik vor, ohne in antimodernistische Ressentiments zu verfallen, die nahezu alle kulturrevolutionären oder -konservativenkonservativ Bewegungen des abgelaufenen Jahrhunderts begleitet und die verfängliche, aber auch korrigierende Wirkungen hervorgebracht haben. Was SimmelSimmel, Georg offenkundig anstrebt, ist eine möglichst ungeschminkte und distanzierte Form der Diagnose. Im Gegensatz zu FreudFreud, Sigmund richtet sich das nicht so benannte „Unbehagen“ in der Philosophie des Geldes nicht gegen die Kultur schlechthin, sondern gegen eine ganz spezifische Kultur: die Welt der westlich-kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Kultur und ihre Universalität. Dieses Unbehagen findet seine symbolische ‚Nahrung‘ in den Gegenwelten anderer, vor allem außereuropäischer Kulturen (→ Kap. 2).
Diese moderneModerne, modern, -moderne LebenskulturLeben, Lebens-, -leben beschreibt sehr neutral und im Unterschied zur marxistischenMarxismus, marxistisch Diagnose die EntfremdungEntfremdung als eine „Kultur der DingeDinge (Kultur der)“:28
[…] die DingeDinge, die unser LebenLeben, Lebens-, -leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der TechnikTechnik, -technik, der KunstKunst, Kunstwerk – sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielleicht sogar zurückgegangen.29
Die Schere zwischen dem technischen FortschrittFortschritt im Bereich der Welt und dem kulturellen Fortschritt des Menschen klafft auseinander. An diesem Punkt stimmt SimmelsSimmel, Georg Skepsis mit jener FreudsFreud, Sigmund überein. Das Problem sind nicht die DingeDinge, sondern die Menschen, die mit dem technischen Fortschritt in der Welt der Dinge nicht zu Rande kommen. Der Ausdruck „Kultur der DingeDinge (Kultur der)“ hat bei SimmelSimmel, Georg eine dreifache Bedeutung:
Anwachsen der Welt der DingeDinge und Gerätschaften (TechnikTechnik, -technik, moderneModerne, modern, -moderne MassenprodukteMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-),
zunehmendes Dazwischentreten von rationalen, sachlichen und ‚objektivenobjektiv, Objektiv-‘ Mitteln und MedienMedien, Medien-, -medien, medien- zur Durchsetzung individueller Interessen (GeldGeld: „die allgemeinste TechnikTechnik, -technik des äußeren LebensLeben, Lebens-, -leben“),
Versachlichung des modernenModerne, modern, -moderne LebensLeben, Lebens-, -leben.
Die Bedeutung der KunstKunst, Kunstwerk in der ModerneModerne, modern, -moderne liegt darin, dass sie die widersprüchliche Kultur der DingeDinge (Kultur der) und der Stilisierung vorführt. Die moderne Kunst ‚zeigt‘, wie die künstliche Welt von heute funktioniert. Sie ist nicht ihr Anderes, sondern ihr expliziter Ausdruck (gerade in ihren avancierten Formationen):
Alle KunstKunst, Kunstwerk verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten Sinn setzt sie uns in ein unmittelbares Verhältnis, hinter der kühlen Außenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins, durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der DingeDinge, sie läßt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich dem bläulichen Duft, der sich um ferne Berge legt. […] die bloße Tatsache ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung. Der Stil in der Äußerung unserer inneren Vorgänge besagt, dass diese nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick ihres Offenbarwerdens ein Gewand umtun. Der Stil, als generelle Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke und Distanzierung gegen den anderen, der die Äußerung aufnimmt, errichtet.30
Das Lebensprinzip der KunstKunst, Kunstwerk sei, „dass sie uns in eine Distanz von ihnen stellt“.31 Der SubjektivismusSubjektivismus, subjektivistisch des neuen LebensstilsLeben, Lebens-, -leben hat SimmelSimmel, Georg zufolge ein vergleichbares Grundmotiv: Wir gewinnen paradoxerweise ein „innigeres und wahreres Verhältnis zu den Dingen“, indem wir uns in uns selbst zurückziehen und von ihnen abrücken oder die zwischen ihnen und uns bestehende Distanz bewusst anerkennen. Entgegen des erstmals in der romantischen AvantgardeAvantgarde formulierten TraumsTraum, Traum-, -traum von der Wiederherstellung der Einheit von Kunst und LebenLeben, Lebens-, -leben insistiert SimmelSimmel, Georg darauf, dass die Kunst sich immer weiter von diesem ‚LebenLeben, Lebens-, -leben‘ entfernt und sich als eigenes Feld (Kultur III) in der Kultur etabliert und ausdifferenziertAusdifferenzierung, ausdifferenziert (→ Kap. 2).
Den entscheidenden Punkt bildet dabei die Distanz. Wie jeder Besucher von Ausstellungen und Museen weiß, herrscht bei diesen ein generelles Verbot: Noli me tangere. Nicht Berühren. Das gilt für den auferstandenen Christus wie für die modernenModerne, modern, -moderne Werke der Künste, gerade für jene, die die Nähe von KunstKunst, Kunstwerk und LebenLeben, Lebens-, -leben so suggestiv vortäuschen. In seinem Fragment über den Henkel hat SimmelSimmel, Georg diese DifferenzDifferenz mit unbestechlicher Eleganz vorgeführt: Die Vase ist gleichsam ein kultureller HybridHybrid, Hybridität, der in der Kunst-Kultur ebenso beheimatet ist wie in der AlltagskulturAlltag, Alltagskultur, Alltags-. Der Henkel ist das sichtbare Phänomen des praktischen Gebrauchs. Diese Gebrauchsfunktion wird in jenem Moment annulliert, wenn es sich um einen etruskischen, kretischen oder griechischen Krug aber auch um ein ready made handelt, das in einem Museum steht.32 Die Vitrine markiert gleichsam die Durchstreichung der Henkelqualität.
Distanz hat in diesem Zusammenhang also mehrere Aspekte:
Die KunstKunst, Kunstwerk der klassischen ModerneModerne, modern, -moderne bildet mimetisch die Distanz zwischen Menschen und Dingen und zwischen Menschen und Menschen nach und stellt so eine kulturelle SozialisationSozialisation in die Kultur der Moderne dar.
Das ArtefaktArtefakte der KunstKunst, Kunstwerk im Kultraum Museum/Ausstellung erhält im Gegensatz zum Gebrauchsgegenstand einen Abstand zum SubjektSubjekt. Es ist das Ding, das sich nicht (so ohne Weiteres) vereinnahmen lässt. Insofern bricht es das selbstverständliche BegehrenBegehren des modernenModerne, modern, -moderne Menschen.
Diese Widersetzlichkeit schafft dem modernenModerne, modern, -moderne Menschen einen inneren Freiraum, eine Nische.
Gerade durch diese Distanzierung wird „unter günstigen Bedingungen“ „eine Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichen Seins“ möglich, eine SubjektivitätSachregisterSubjektivität, subjektiv, die an den religiösenReligion, religiös LebensstilLebensstil früherer ZeitenZeit erinnert, eben dadurch, dass das GeldGeld den modernenModerne, modern, -moderne Menschen die DingeDinge vom Leib hält sowie die „Beherrschung und Auswahl des uns Zusagenden unendlich erleichtert“.33 So führt uns SimmelSimmel, Georg in eigener Person und Sache die Zwiegespaltenheit des modernen Menschen vor.
Mit dem modernenModerne, modern, -moderne Stil des LebensLeben, Lebens-, -leben eng verwandt ist die ModeMode. Sie ist die adäquate Form der Präsentation und RepräsentationRepräsentation des modernen LebensstilsLeben, Lebens-, -leben, indem sie auf geniale Weise konformistisches Verhalten und individualistische Verfügung miteinander verschränkt. Die Mode repräsentiert dabei nicht nur einen bestimmten kulturellen oder gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Bereich des LebensLeben, Lebens-, -leben, sondern sie ist ein Prinzip, das in alle Bereiche der modernen „nervösen“34 Kultur eindringt. Sie basiert auf der modernen Lebensstilkultur, in der „[…] die großen, dauernden, unfraglichen Überzeugungen mehr und mehr an Kraft verlieren“.35 Sie verkoppelt zwei entscheidende Momente, das (traditionelle) Moment der NachahmungNachahmung mit jenem der Originalität: Der Reiz der Nachahmung besteht darin, dass
[…] sie uns ein zweckmäßiges und sinnvolles Tun auch da ermöglicht, wo nichts Persönliches und Schöpferisches auf den Plan tritt. Man möchte sie das Kind des Gedankens mit der Gedankenlosigkeit nennen. Sie gibt dem IndividuumIndividuum die Beruhigung, bei seinem Handeln nicht allein zu stehen, sondern erhebt sich über den bisherigen Ausübungen derselben Tätigkeit wie auf einem festen Unterbau, der die jetzige von der Schwierigkeit, sich selbst zu tragen, entlastet.36
Der Akzent liegt dabei auf dem „Bleibenden im Wechsel“.37 Für den modernenModerne, modern, -moderne Menschen ist IndividualitätIndividualität ein hohes Gut. Eine solche IdentitätIdentität als IndividuumIndividuum erfordert die fortgesetzte Produktion von DifferenzDifferenz, die für das Phänomen Kultur so charakteristisch ist. Bloße, sichtbare NachahmungNachahmung ist im Fall der individuellenindividuell DifferenzierungDifferenzierung, „des Sich-abhebens von der Allgemeinheit“ kontraproduktiv. Es ist, wie SimmelSimmel, Georg sich ausdrückt, „das [zu] negierende und hemmende Prinzip“. Die ModeMode, die die Setzung von Differenz verspricht, versöhnt zwei DingeDinge, die ansonsten unversöhnlich aufeinander treffen:
den Konformismus und die Sehnsucht nach Verbindung: „bei dem Gegebenen zu verharren und das Gleiche zu tun und zu sein wie die anderen“,
das Bedürfnis nach Originalität und Neuerung und die Sehnsucht nach Absonderung und Trennung „zu neuen und eigenen LebensformenLeben, Lebens-, -leben voranschreiten“.38
Die ModeMode ist nun beides. Sie ist die Durchbrechung des bisher Gültigen (DifferenzDifferenz), aber im Gefolge einer vorgegebenen Richtung (NachahmungNachahmung). Ihr Vollzug ist immer ein individueller und das heißt auch – wenigstens formell – ein freiwilliger:
Die LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben der ModeMode als einer durchgängigen Erscheinung in der GeschichteGeschichte unserer Gattung sind hiermit umschrieben. Sie ist NachahmungNachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, sie führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem bloßen Beispiel macht. Nicht weniger aber befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf DifferenzierungDifferenzierung, Abwechslung, das Sich-abheben.39
Die Exponiertheit ist immer eine relativeRelativismus, relativ, die mindestens von einer Gruppe von Menschen getragen wird, die zur neuen ModeMode entschlossen ist:
Die Aufgeblasenheit des Modenarren ist so die Karikatur einer durch die DemokratieDemokratie, demokratisch begünstigten Konstellation des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit.40
Die ModeMode ermöglicht einen „sozialen Gehorsam“, der zugleich „individuelleindividuell DifferenzierungDifferenzierung“ ist. Die Menschen fügen sich in ein kulturelles Muster ein, ohne dass dazu Befehl und Gehorsam vonnöten wäre. Diese kongeniale Überbrückung der feindlichen Gegensätze gelingt der Mode durch:
den unbekümmerten Umgang mit Inhalten, Motiven und Überzeugungen,
durch ihren zeitlichen – transitorischen – Charakter: „Das Wesen der ModeMode besteht darin, dass immer nur ein Teil der Gruppe sie übt […]“ – wenn die Mehrheit auf den Geschmack der jüngsten Mode einschwenkt, ist die Mode längst weiter,
durch ihre „völlige GleichgültigkeitGleichgültigkeit gegen die sachlichen Normen des LebensLeben, Lebens-, -leben“.41
In ihrem Hang zum Hässlichen und Extravaganten dokumentiert die ModeMode sowohl diese IndifferenzIndifferenz als auch den vermeintlichen Wagemut gegenüber den anderen. Zugleich aber schützt die Mode noch den extravagantesten Auftritt vor dem peinlichen Reflex, den das Ich potenziell bei der Zurschaustellung seiner/ihrer selbst erleidet: der Scham. Ich muss mich nicht schämen, weil es alle anderen – auch – tun. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ein Lacanianer, eine Poststrukturalistin oder ein Kulturwissenschaftler zu sein, denn es gibt andere, ich bin Teil eines Trends, einer Mode, die mich schützt. Das gilt übrigens auch für das scheinbare und schiere Gegenteil von Bekleidung: die Nacktheit, die sich als Aura des Natürlichen oder der sexuellenSexuelle, das, sexuell Befreiung seit der letzten Jahrhundertwende großer Beliebtheit erfreut. So ist das Nacktbaden am mediterranen Nudistenstrand (wo es von der ansässigen Bevölkerung bestenfalls toleriert wird, was den Reiz, anders zu sein, beträchtlich erhöht) oder in der Wiener Lobau eine Mode der longe durée, der ich mich anschließen kann (oder nicht), womit sich der Anschluss an eine kulturelle Gruppe eröffnet, die sich als progressiv und sexuell nicht prüde begreift.
Sehr viel riskanter ist es hingegen, gegen den Strom zu schwimmen, etwa als Lehrende oder als Studierender an heißen Sommertagen nackt die Universität zu betreten, denn dafür gibt es bislang keinen Modetrend. Solange diese Einschränkungen wirksam sind, ist – vom Nudistenreservat abgesehen – die Provokation des nackten KörpersKörper, körperlich wirksam, ob in aktionistischen Opern- und Theaterinszenierungen oder als politische Provokation wie weiland an der Frankfurter Universität in den ZeitenZeit der Studentenbewegung, wo durch die Entblößung des Oberkörpers durch weibliche Studierende (en groupe) dem betroffenen Meisterphilosophen T.W. AdornoAdorno, Theodor W. seine mangelnde politische Radikalität und sein traditionelles Frauenbild buchstäblich durch die Präsentation entblößter weiblicher Oberkörper vorgeführt wurde.
Wo die Welt der ModeMode aufhört, beginnt die Welt des riskanten Einsatzes. Das gilt übrigens nicht bloß für die Mode, für Autos, für Architektur, sondern auch für das Denken und die KunstKunst, Kunstwerk. Heute sind die Grenzen zwischen den sogenannten Transavantgarden und der Mode sichtbar fließend geworden. Auch der akademische Betrieb unterliegt mittlerweile diversen Moden. Nicht nur, dass Denkschulen kommen und gehen. Wenn der Einsatz des Computers zum Ausweis von Modernität wird, dann wird die Power-Point-Präsentation zur soziokulturellen Pflicht, unabhängig davon, ob sie medial stimmig ist oder nicht. Sobald dies aber alle Lehrenden tun, verliert die Verwendung des Computers ihren spezifisch luxurierenden Nutzen. Mit dem Einsatz des digitalen Geräts ist nunmehr kein Differenzgewinn zu erzielen. Ähnliches gilt auch für das Denken selbst: Wenn ein innovativesInnovation, innovativ Denken zum AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- geworden ist, verblasst sein Glanz des Besonderen, das sich abhebt von all den anderen denkmodischen Langeweilern.
Der im Vergleich zu SimmelsSimmel, Georg ZeitZeit heute überwältigende PluralismusPluralismus, pluralistisch der ModenMode und der unterschiedlichen medialen Formate und Inszenierungen in allen Bereichen von Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich modifiziert das kulturelle Großphänomen Mode, ist aber letztendlich nur die logische Konsequenz dieses paradoxen Phänomens. Weil es andere Moden gibt, für die ich mich hätte entscheiden können, wächst das Gefühl der individuellenindividuell Wahlfreiheit ebenso wie das Glück der DifferenzDifferenz, das Glück, beispielsweise ein Fan von Rasta-Musik und keiner von Hip-Hop oder Punk zu sein.