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Kapitel 6 Kritische TheorieKritische Theorie als Kulturtheorie: DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- und Pariser Passagen
ОглавлениеDass die Kritische TheorieKritische Theorie im Umfeld der Frankfurter SchuleFrankfurter Schule eine Kulturtheorie darstellt, steht wohl außer Zweifel. Mehr noch: Mindestens zwei Jahrzehnte lang war sie tonangebend, und zwar nicht nur in Deutschland. In fast allen englischsprachigen Einführungen in die Cultural StudiesCultural Studies findet sich deshalb ein ausführliches Kapitel zur Kritischen Theorie.1 Dabei wird vor allem auf ihre kritische Analyse der modernenModerne, modern, -moderne Kulturindustrie hingewiesen. BenjaminsBenjamin, Walter Aufsatz über Das KunstwerkKunst, Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen ReproduzierbarkeitReproduzierbarkeit hat ungeachtet seiner methodisch-theoretischen Schwächen seine Stellung als diskurs-initiierender Text im Bereich der MedientheorieMedien, Medien-, -medien, medien- fast unagefochten bewahren können. Gleichwohl ist es unübersehbar geworden, dass der Kritischen Theorie heute nicht mehr jene primäre Stellung zukommt, die sie in den 1970er und 1980er Jahren eingenommen hat. Das hat verschiedene Gründe. Philosophisch geriet sie in die Defensive, weil sie trotz aller Kritik am klassischen MarxismusMarxismus, marxistisch und an HegelHegel, Georg W.F. in vielfacher Weise an Positionen, Prämissen und Denkweisen des deutschen IdealismusIdealismus (philosophisch) festgehalten hat, die von Philosophen in der kritischen Nachfolge HeideggersHeidegger, Martin (Jacques DerridaDerrida, Jacques ist hier nur der bekannteste) und vom französischen PoststrukturalismusPoststrukturalismus generell in Frage gestellt worden sind.2 In Deutschland war es vor allem Jürgen Habermas, der die radikale Kultur- und Gesellschaftskritik HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. in eine Theorie der kommunikativen und intersubjektiven Vernunft transformiert hat. Die Kulturkritik HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. geriet aber auch von einer anderen Seite her in die Defensive: Die einseitige Verdammung der PopularkulturPopularkultur wird heute weder in den Künsten noch im kulturwissenschaftlichen Bereich geteilt. Es waren ja gerade die englischen Kulturstudien (John FiskeFiske, John), die gegen die Literaturtheoretiker der HochkulturHochkultur den demokratischenDemokratie, demokratisch und emanzipatorischen Charakter der neuen Popularkultur der 1970er Jahre hervorgehoben haben. Mittlerweile gehört indes auch dieses überschwängliche Abfeiern der modernen MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- der Vergangenheit an. Es ist zu offenkundig, dass diese in ihrer ökonomischen Dimension und StrukturStruktur, strukturiert, strukturell jedenfalls nicht pauschal als ‚systemkritisch‘ bezeichnet werden kann.
Insbesondere für AdornoAdorno, Theodor W. stellt die KunstKunst, Kunstwerk der, wie man heute einigermaßen paradox sagt, klassischen ModerneModerne, modern, -moderne – AdornosAdorno, Theodor W. bevorzugte Autoren sind KafkaKafka, Franz, BeckettBeckett, Samuel, ProustProust, Marcel und JoyceJoyce, James – das wesentliche kritische Potenzial gegenüber einer GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich dar, die sich im Zustand einer fast vollständigen Selbstverblendung befindet. AdornosAdorno, Theodor W. Ästhetik ist modernistisch, insofern sie sich als eine Philosophie der modernen Kunst versteht, aber sie ist kulturkonservativ, insofern sie, trotz einschlägiger Kritik an der bürgerlichen Kultur, an einem elitärenElite, elitär Kunstbegriff festhält und jedwede Art von popularer Kultur als Regression und Manipulation abstuft. Die Kulturphilosophie von AdornoAdorno, Theodor W., HorkheimerHorkheimer, Max, MarcuseMarcuse, Herbert und ihrem Umfeld ist eine kritische Theorie, nicht nur in dem selbstverständlichen Sinn, dass Theorie prinzipiell eine hinterfragende und reflexive FunktionFunktion hat, wie sich das ja auch in KantsKant, Immanuel Verwendung des Begriffs niederschlägt, in der es um die Hinterfragung (der reinen und der praktischen Vernunft oder Urteilskraft) geht. Das Werk von AdornoAdorno, Theodor W., HorkheimerHorkheimer, Max oder auch BenjaminBenjamin, Walter ist kritisch in einem ganz dezidierten Sinn: Es positioniert sich in prinzipiellem Gegensatz zur kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Gesellschaft und deren kulturellen Formationen (bürgerliche Klassenkultur, MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-).
Die Kritische TheorieKritische Theorie ist auch deshalb eine Kulturtheorie, weil sie sich auf die kulturellen Phänomene der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich konzentriert, auf jene Bereiche, die der standardisierte, ästhetisch und kulturell überaus konservativekonservativ MarxismusMarxismus, marxistisch so sträflich vernachlässigt hat. Diese Fokussierung bringt es beinahe automatisch mit sich, dass sie, ähnlich wie GramsciGramsci, Antonio, AlthusserAlthusser, Louis und die Vertreter der Cultural StudiesCultural Studies (→ Kap. 12), das klassische BasisBasis-ÜberbauÜberbau-Modell modifiziert, ja verwirft. In gewisser Weise radikalisiert die Kritische Theorie den marxistischen Befund der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft: Diese wird zu einem unentrinnbaren inneren wie äußeren Gefängnis, sie wird zu einer realen Dystopie, in der sich all jene Momente und Motive finden, die wir aus den großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts, HuxleysHuxley, Aldous Brave New World und Orwells 1984, kennen. Aus dieser Perspektive wird unabweislich, dass wir nicht nur in einer Welt falschen BewusstseinsBewusstsein, falsches, sondern in einer verkehrten Welt leben. Aber damit verengt sich auch jedwede Möglichkeit des politischen Eingriffs, denn das Proletariat, der historische Hoffnungsanker des klassischen Marxismus, ist in denselben kulturellen Verblendungszusammenhang eingesponnen wie alle anderen Bewohner dieses ökonomischen und symbolischen Gefängnisses. Lediglich Autoren wie KafkaKafka, Franz und BeckettBeckett, Samuel, die – so die Interpretation AdornosAdorno, Theodor W. – diese totalitäre und unentrinnbare Kultur als den Ort menschlicher Verzweiflung beschrieben haben, sind imstande, diese Verblendung zu durchbrechen. AdornosAdorno, Theodor W. Blick in die Welt der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ist schwärzer als der, der durch PlatonsPlaton Höhlengleichnis, einer zentralen ErzählungErzählung(en) abendländischer Philosophie, vorgegeben ist.3 Denn hier leben die Menschen noch in einem Schattentheater, wobei die Schatten so etwas wie den Abglanz des Wahren darstellen.
Insbesondere bei AdornoAdorno, Theodor W. ist das Ganze der Wahrheit fragmentiert und zertrümmert. Sein Blick auf die Welt der modernenModerne, modern, -moderne Kultur ähnelt strukturellStruktur, strukturiert, strukturell dem der Gnosis. Der Gnostiker weiß, dass er in einer falschen, dämonischen Welt lebt, sie ist das Werk eines falschen Gottes, aber es glimmt in ihm, dem gnostischen Menschen, ein Fünkchen der wahren Welt, die er wie einen Schatz in sich trägt. Er lebt in dem BewusstseinBewusstsein, bewusst, dass seine wahre Heimat ganz woanders ist.4 Jene AdornosAdorno, Theodor W. liegt in der klassischen Moderne, die sich – so die Deutung AdornosAdorno, Theodor W. – bewusst von der Welt abwendet.
In der Kritischen TheorieKritische Theorie verschwimmen die Grenzen zwischen den Termini Kultur und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich. Das hängt nicht zuletzt mit dem marxistischenMarxismus, marxistisch Erbe zusammen, das die Kritische Theorie verschoben und mehr oder weniger durch Anleihen bei der PsychoanalysePsychoanalyse erweitert hat. Schon seit den 1930er Jahren galt das Interesse HorkheimersHorkheimer, Max, AdornosAdorno, Theodor W., FrommsFromm, Erich oder MarcusesMarcuse, Herbert nicht so sehr der Analyse der ökonomischen Verhältnisse, aber diese werden nichtsdestotrotz als omnipräsent gesehen. Sie haben eine direkte und eine indirekte Wirkung auf die Kultur, direkt durch die MachtMacht des Ökonomischen, indirekt durch eine Form von Vernunft, die alle DingeDinge dieser Welt zum Mittel der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Verwertung macht. HorkheimerHorkheimer, Max wird sie später als instrumentelle Vernunft bezeichnen. Entscheidend für die Verblendung der Welt ist aber jenes Phänomen, das MarxMarx, Karl in Anlehnung an die Ethnologie als FetischcharakterFetisch(ismus), Fetischcharakter der Ware bezeichnet hat, als ein strukturellStruktur, strukturiert, strukturell falsches BewusstseinBewusstsein, falsches: Die in Waren und Geldwert verwandelten Dinge sind wie magisch aufgeladen und die Verhältnisse, die die Menschen letztendlich ja selbst geschaffen haben, erscheinen ihnen als eine Bewegung magischer Dinge. Die Kritik richtet sich also auf zwei Momente:
auf das kollektiv falsche BewusstseinBewusstsein, bewusst, das sich in allen Bereichen, insbesondere in der Kultur, den Wissenschaften und in den MedienMedien, Medien-, -medien, medien- niederschlägt,
auf eine Form von totaler MachtMacht und Beherrschung, der die Menschen ausgeliefert sind.
Zielt die erste Kritik also auf unsere kulturelle Befindlichkeit (Kultur II) und auf den Kulturbetrieb (Kultur III), so ist die zweite gegen das Gesamtsystem der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich gerichtet, wobei HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. insbesondere in der DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- auch auf das Spezifische der westlich-abendländischenAbendland, abendländisch Kultur eingehen und ihre Kulturkritik bewusst jener von SpenglerSpengler, Oswald und Klages5 entgegenstellen (Kultur I → Kap. 1).
Lange vor FoucaultFoucault, Michel (→ Kap. 8) haben AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max, wenn auch, etwa im Vergleich zu FoucaultFoucault, Michel, einigermaßen unsystematisch, den Gedanken formuliert, dass das Denken selbst machtförmig ist. Analytische Philosophie und die gängigen Sozialwissenschaften reproduzieren das verdinglichte BewusstseinBewusstsein, bewusst, insofern sie die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich in ihrer scheinhaften Objektivitätobjektiv, Objektiv- unhinterfragt als gegeben annehmen.
Sie exemplifizieren dies auch in ihrer Kritik an der HegelHegel, Georg W.F.’schen Philosophie, die das Besondere stets dem Allgemeinen unterstellt. Hier wird ein MachtMacht- und Unterwerfungsverhältnis festgelegt, das auch in anderen Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich wirksam ist. Diese Machtförmigkeit traditionellen Denkens lässt sich nur unterlaufen, indem man das Besondere aus seiner HerrschaftHerrschaft mit dem Allgemeinen, seiner falschen IdentitätIdentität mit ihm befreit. AdornosAdorno, Theodor W. Essayismus,6 sein Sprachdenkstil wie seine Denkweise, ist von der Strategie durchdrungen, das Besondere in DifferenzDifferenz zum Allgemeinen zu setzen. Systeme und Begriffe sind wie eine Armee von Soldaten, hat Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich einmal formuliert: „Ein Regiment Soldaten en parade ist nach der Denkart mancher Philosophen ein System.“7
Man muss – so lautet die Denkstrategie der Kritischen TheorieKritische Theorie – das Denken gleichsam entwaffnen. Damit ist eine Einsicht formuliert, die heute nicht laut aber doch vernehmlich den DiskursDiskurs im Bereich der Human- bzw. Kulturwissenschaften bestimmt: Es geht nicht nur um neue Inhalte, sondern auch um neue Formen des Denkens, die das prekäre Verhältnis von Begriff und Gegenstand sprachlich, rhetorisch und gedanklich reflektieren.
Mit diesem Befund befinden wir uns schon ganz in der Nähe jenes Werkes, das bis heute einen wichtigen Stellenwert in verschiedensten Diskursen einnimmt: HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. Gemeinschaftswerk Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, das vor dem Hintergrund des nahen Kriegsendes eine düstere Gesamtbilanz der Aufklärung und der abendländischenAbendland, abendländisch Denkweise (episteme) zieht. Das Werk ist fragmentarisch in einem doppelten Sinn. Der letzte Teil ist bruchstückhaft geblieben, eine Sammlung aus Aphorismen und Marginalien. Aber das Fragmentarisch-Ausschnitthafte ist zugleich Programm eines Werkes, das gegen die Idee des geschlossenen Werkes gerichtet ist. Das BuchBuch (als Medium) kulminiert in einer Kritik an den Wissenschaften; deren GlaubenGlaube an die Begrifflichkeit der SpracheSprache wird in kritischer Volte gegen BaconsBacon, Francis berühmten Satz Wissen ist MachtMacht als mythisch und machtförmig denunziert. Im zweiten Teil wird Odysseus als ArchetypArchetyp bürgerlicher Vernunft beschrieben, dessen List darin besteht, alles zum Mittel der Durchsetzung seines strategischen Kalküls zu machen. Höhepunkt dieser Analyse ist der kritische Kommentar zum Abenteuer Odysseus‘ und seiner Gefolgsleute mit dem einäugigen Riesen Polyphem. Der einäugige Riese ist der monströse Fremde, ein Hirngespinst der griechischen Eindringlinge, ein symbolisches Produkt aus deren Welt. Polyphem verkörpert den unterdrückten Autochthonen, den die beiden Autoren in die Nähe des modernenModerne, modern, -moderne OpfersOpfer der neuzeitlichen Kolonisation rücken. Mit Seitenblick auf SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5) ließe sich sagen, dass Polyphem seinem BegehrenBegehren blind ausgeliefert ist, er kann dieses nicht rational geltend machen, ganz im Gegensatz zu Odysseus, der ihn durch sein intellektuellesIntellektueller, intellektuell Kalkül überrumpelt und blendet. Odysseus‘ List deckt sich weithin mit dem strategischen Kalkül, das SimmelSimmel, Georg dem Menschen der modernen Geldkultur zugeschrieben hat. Die beiden philosophischen Interpreten bürsten HomersHomer Epos gewissermaßen gegen den Strich und drehen die Perspektive um; sie nehmen Partei für den schmählich Unterworfenen und Getäuschten, der sich womöglich nur aus dem hochmütigen und herablassenden Blick des griechischen Herrn so hässlich und monströs ausnimmt. Insofern lässt sich dieses Kapitel aus der Dialektik der Aufklärung auch als ein hochkarätiger Beitrag zu einer Theorie des KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial (→ Kap. 12) lesen. Schon in HomersHomer Epos wird, AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max zufolge, die Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Polyphem unter dem Gegensatz zwischen ZivilisationZivilisation und BarbareiBarbar, Barbarei gefasst. Der Riese Polyphem trägt „das rädergroße Auge“ „als Spur […] der Vorwelt“.8 Die Primitivität des AnderenAndere(r), der, die, das, des Menschenfressers, seine Gesetzlosigkeit liefert die Legitimation dafür, ihm Gewalt anzutun. Die für sich reklamierte zivilisatorische Überlegenheit liefert so die Begründung für MachtMacht- und Gewaltausübung. In der ungleichen Begegnung trifft physische Überlegenheit auf ein Übermaß an Rationalität. Die körperlicheKörper, körperlich Stärke wird dem „Primitiven“ zum Verhängnis: Sie macht ihn vertrauensselig, sich selbst und anderen gegenüber: „Die physische Rohheit des Überkräftigen ist sein allemal umspringendes Vertrauen.“9
Die List des Odysseus, das Spiel mit seinem Namen, bei dem er seinen Namen mit dem im Griechischen ähnlich klingenden Oudeis (Niemand) vertauscht, nimmt schon jene Listen vorweg, mit denen die okzidentalen Kolonisatoren Jahrtausende später den autochthonen Völkern Amerikas begegnen werden: falsche Namen, falsche Perlen, ungleicher Tausch. Odysseus’ „Selbstbehauptung aber ist […], wie in aller ZivilisationZivilisation, Selbstverleugnung.“10 Seine „List, die darin besteht, dass der Kluge die Gestalt der Dummheit annimmt, schlägt in Dummheit um, sobald er diese Gestalt aufgibt.“11 In dieser Analyse der List klingt ein Motiv an, das uns bereits in SimmelsSimmel, Georg Philosophie des GeldesGeld begegnet ist, wenn SimmelSimmel, Georg davon spricht, dass der Mensch der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Geldkultur im Akt des Tausches dem vormodernenModerne, modern, -moderne Menschen strategisch überlegen ist, weil er in längeren Reihen des Kalküls zu denken vermag (→ Kap. 5).
In einem dritten Teil werden KantKant, Immanuel und de SadeSade, Marquis de als theoretische Doppelgänger einer AufklärungAufklärung, aufklärungs- verstanden, die den Menschen vergegenständlicht und reglementiert. Auch hier ist eine Nähe zu Überlegungen, wie sie Michel FoucaultFoucault, Michel – etwa im Hinblick auf Wahnsinn und Vernunft – angestellt hat, bemerkenswert. (→ Kapitel 8) In der DialektikDialektik der Aufklärung geht es aber auch um die formale Gleichheit des neuzeitlichen Subjektes, wie sie in KantsKant, Immanuel Moralphilosophie und in de SadesSade, Marquis de bürokratischer Sexualphilosophie zutage tritt, um den Preis von Verfügbarkeit. In der Aufklärung selbst steckt also jenes totalitäre Potenzial, das im 20. Jahrhundert virulent werden sollte. Weitere Themen sind der Antisemitismus und die Kulturindustrie, die HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. als Regression betrachten, nicht nur im Sinne FreudsFreud, Sigmund als zuweilen unvermeidliche Rückkehr in ein infantiles Stadium, sondern als ein Zurückfallen hinter jenen Ausgangspunkt des Menschenmöglichen, wie es in der Aufklärung aufgeleuchtet hatte. Es braucht eigentlich nicht eigens hervorgehoben zu werden, dass all diese Themen bis heute im Brennpunkt nicht nur des kulturwissenschaftlich orientierten Diskurses stehen. Das gilt insbesondere für den Bereich von MassenmedienMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- und Kulturindustrie, der von HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. im Sinn einer radikalen Ökonomisierung der Kultur analysiert wird. Deren tiefster Antrieb ist Objektivierungobjektiv, Objektiv- und Verdinglichung. Insofern gehen ökonomische Effizienz und kulturelle Standardisierung Hand in Hand:
Die traumlose KunstKunst, Kunstwerk fürs Volk erfüllt jenen träumerischen Idealismus, der dem kritischen zu weit ging. […] Nicht nur werden die Typen von Schlagern, Stars, Seifenopern zyklisch als starre Invarianten durchgehalten, sondern der spezifische Inhalt des Spiels, das scheinbar Wechselnde ist selber aus ihnen abgeleitet. Die Details werden fungibel.12
Die modernenModerne, modern, -moderne Massenkulturen sind aber nicht bloß eine Ansammlung von stereoytpisierten Gemeinplätzen, sondern vielmehr ein strukturellerStruktur, strukturiert, strukturell Betrug, der AufklärungAufklärung, aufklärungs- und damit Freiheit unterminiert. Kulturindustrie bedeutet die Verschmelzung von Kultur, MedienMedien, Medien-, -medien, medien- und ReklameReklame zu einem Gesamtkomplex. Die vermeintliche Konsumfreiheit „strahlt“ immer schon als „wirtschaftlicher Zwang“ „zurück“, sie ist eine „Freiheit des Immergleichen“. Die Kulturindustrie wird so zu einer gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Sozialisierung, die indes hinter den Ansprüchen, Erwartungen und Prämissen von Aufklärung und Freiheit zurückbleibt, ja sie am Ende dementiert:
Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt oder absolviert, der Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch […] bezeugt den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht. Die intimsten Reaktionen des Menschen sind ihnen gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der ReklameReklame in der Kulturindustrie, die zwanghafte MimesisMimesis des Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.13
Verbunden werden diese auf den ersten Blick heterogenen Themen durch eine gedankliche Klammer, die dem BuchBuch (als Medium) den Titel gegeben hat, die Formel von der DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, die längst – wie andere renommierte Titel auch – zu einem Stichwort geworden ist, das sich verselbständigt hat. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Bedeutung dieser Formel für den gesamten Text selbst einzugehen. Denn beide Begriffe, Aufklärung und Dialektik, werden in einer verschobenen bzw. erweiterten Bedeutung verwendet. Das Wort Dialektik, mit dem DialogDialog verwandt, kommt von dem griechischen Wort dialegesthai, das so viel wie sich unterhalten, miteinander reden, etwas durchbesprechen bedeutet. Ihre philosophische Premiere hat die Dialektik in diesem dialogischenDialog, dialogisch, Dialogizität Sinn in PlatonsPlaton Schriften erfahren. Der DialogDialog folgt immer dem Schema von Rede und Gegenrede. Er ist aber zugleich eine Art von Unterrichtsmethode, die der Platonische Sokrates benutzt, um seinen Schüler, aber auch seine Kritiker zu belehren. Der Ausgang des jeweiligen Dialoges steht dabei von vornherein fest: Die Widerlegung der möglichen Einwände und Argumente ermöglicht es dem Platonischen Sokrates am Ende, seine eigene Position zu illustrieren.
Im Gegensatz zur Platonischen DialektikDialektik ist jene HegelsHegel, Georg W.F. keineswegs dialogischDialog, dialogisch, Dialogizität. Dialektik ist hier nicht bloß eine Form des Denkens, sondern wird vornehmlich als eine StrukturStruktur, strukturiert, strukturell der natürlichen oder geschichtlichen Wirklichkeit selbst begriffen. So taumelt gleichsam das anfänglich seiner selbst nicht bewusste SubjektSubjekt in der PhänomenologiePhänomenologie des Geistes durch ein System von Widerständen (Anti-Thesen) zu immer neuen Synthesen empor, denen immer wieder neue Antithesen gegenüberstehen, bis es dann den Gipfelpunkt des absoluten Daseins als Geist schlechthin erreicht. HegelsHegel, Georg W.F. Philosophie ist eine spezifische Variante jener großen ErzählungenErzählung(en), von denen LyotardLyotard, Jean F. in seinem BuchBuch (als Medium) über die condition postmodernePostmoderne, postmodern14 spricht: Es handelt sich um eine große Erzählung, eine BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen, eine Art von philosophischer Autobiographie des Mega-Subjekts Menschheit (→ Kap. 13).
AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max beziehen sich zwar auf HegelsHegel, Georg W.F. Begriff der DialektikDialektik als einer Bewegung in der GeschichteGeschichte, aber sie drehen dessen Bedeutung radikal um. Die Dialektik verliert ihre positive Konnotation, wird zu einer Verfehlung, zu einer Umkehrung, zu einem Umschlag ins Negative – ohne versöhnliche Synthese. Zu einer Dementierung, ja Selbstdementierung der großen ErzählungErzählung(en) von BildungBildung und FortschrittFortschritt:
Der MythosMythos, Mythologie, mythologisch geht in die AufklärungAufklärung, aufklärungs- über und die NaturNatur in bloße Objektivitätobjektiv, Objektiv-. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer MachtMacht mit der EntfremdungEntfremdung von dem, worüber sie MachtMacht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die DingeDinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von HerrschaftHerrschaft.15
HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. spitzen diesen Sachverhalt noch insofern zu, als sie davon ausgehen, dass die moderneModerne, modern, -moderne kapitalistischeKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Kultur die Menschen verdinglicht, also zu Dingen macht, die fast beliebig „gemacht“ und „manipuliert“ werden können. Wenn sie behaupten, dass der Mann der Wissenschaft – analog zur Logik der kapitalistischen Ökonomie – die „DingeDinge an sich“ zu Dingen „für ihn“ macht, dann spielt das auf ein Grundmuster in HegelsHegel, Georg W.F. DialektikDialektik an, auf die Bewegung des An sich zum – höheren – Für-sich-Sein. Aber gerade in dieser Bewegung kommt es zu jener frappanten negativen Verkehrung und EntfremdungEntfremdung, zur Enteignung des Menschen durch gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Mächte, die den mythischen Zwang der Naturmächte reproduzieren. Die ManipulationstechnikenTechnik, -technik der kapitalistischen Unterhaltungsindustrie sind in den Augen HorkheimersHorkheimer, Max und AdornosAdorno, Theodor W. nur ein schlagendes Beispiel für die Selbstverkehrung der neuzeitlichen AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Übrigens diskutieren die beiden Autoren den Antisemitismus und sein letztes Kapitel im Sinn einer fehlgegangenen europäischen Aufklärung. Die Judenvernichtung ließe sich demnach – das wird in der Dialektik der Aufklärung nicht ausgeführt, ist aber in der Logik des Werkes angelegt – als die mörderischste historische Version einer Verdinglichungstendenz begreifen, die der „Aufklärung“ inhärent war: Vernichtung als radikalste Form der Verdinglichung.16
HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. verändern aber auch – und das ist nicht selten moniert worden – den Begriff AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Sie meinen damit nicht so sehr eine bestimmte historische Epoche (das 18. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution) oder ein bestimmtes Land (Frankreich), sondern begreifen vielmehr Aufklärung als ein Langzeit-Projekt, das in der abendländischenAbendland, abendländisch Kultur schon früh angelegt war. Deshalb sind nicht bloß KantKant, Immanuel und de SadeSade, Marquis de, sondern auch, übrigens in verzerrter und einseitiger Form, BaconBacon, Francis oder gar HomersHomer Odysseus repräsentative Figuren der Aufklärung und der von ihr verursachten Demontage des Menschlichen, das historisch freilich immer nur als utopische Möglichkeit und als Anspruch bestanden hat.
Denn die Bezugnahme auf die AufklärungAufklärung, aufklärungs- besagt doch, dass diese auf eine wenn auch sehr indirekte Weise den Maßstab für die kulturtheoretischen Befunde der beiden Autoren bildet. Denn ihre Utopie und ihre Vision waren ja die Herstellung menschenwürdiger Verhältnisse, die Abschaffung von Ausbeutung, die Beseitigung von Armut, Not und Unterdrückung,17 die Herstellung einer entfalteten, unentfremdeten Menschlichkeit, die Überwindung von MythosMythos, Mythologie, mythologisch und AberglaubenAberglaube. Nur die tiefe Kluft zwischen diesen unbescheidenen Erwartungen und einer epochalen Katastrophe wie Auschwitz lässt die Dimension jener DialektikDialektik sichtbar werden, um die es AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max geht, einer Katastrophe, die das bisher Vorstellbare übersteigt und auch so eine Herausforderung nicht nur für die KunstKunst, Kunstwerk, sondern auch für das Denken darstellt.
Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist ein zutiefst radikales und in dieser Radikalität anfechtbares kulturpessimistisches Werk, das sich durchaus in ein merkwürdiges, spezifisch deutsches Unbehagen an TechnikTechnik, -technik und Wissenschaft einordnen lässt. Es unterscheidet sich indes dadurch, dass es sich – das ist in der Auseinandersetzung mit Ludwig KlagesKlages¸ Ludwig, einem der Stichwortgeber der Konservativen Revolution gut ablesbar – jedweder Art von Romantisierung vormodernerModerne, modern, -moderne Zustände widersetzt. Die beiden Autoren werden nicht müde, die heimlichen und auch offenen Befürworter des MythosMythos, Mythologie, mythologisch an dessen Blutspur in der GeschichteGeschichte zu erinnern. Auf paradoxe Weise behalten sie letztendlich jenen Maßstab bei, der durch die historischen Ereignisse in sein Gegenteil verkehrt worden ist: den der Aufklärung und des kritischen Denkens, das sich nun gegen die Aufklärung selbst richtet. Der Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil wird im BuchBuch (als Medium) auf verschiedenen Ebenen thematisiert.
Die Verkehrung der Wissenschaft in ihr Gegenteil, in MythosMythos, Mythologie, mythologisch und magisches Denken. So wie das magische Denken den Dingen eine geheimnisvolle MachtMacht zuspricht, so die Wissenschaft dem Begriff, mit dem sie die Wirklichkeit darunter zu fixieren trachtet. Die Wissenschaftsgläubigkeit der modernenModerne, modern, -moderne (westlichen) Kultur erweist sich also als eine Variante magischen Denkens.
Die Verkehrung von Befreiung in HerrschaftHerrschaft: Ziel der AufklärungAufklärung, aufklärungs- war die Beseitigung von Herrschaft, wie sie im Kampf gegen das ancien régime zum Ausdruck kommt. Diese Abschaffung der Herrschaft von Menschen durch Menschen sollte durch die Beherrschung der NaturNatur bewerkstelligt werden. Aber diese Herrschaft über die Natur, wie sie, HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. zufolge, BaconBacon, Francis schon früh zum Programm erhoben hat, schlägt in ihr Gegenteil um: in die Herrschaft der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, des technisch-ökonomischen Komplexes über den Menschen. Mit dieser Kritik an der Ausbeutung der Natur, die ihre Folgen für Mensch und Natur zeitigt, haben AdornoAdorno, Theodor W. und HorkheimerHorkheimer, Max Ideen der Ökologie vorweggenommen, die in den 1980er Jahren dann öffentlich wirksam geworden sind.
Die Mündigkeit des Menschen war – in allen Versionen der AufklärungAufklärung, aufklärungs- – ein erklärtes historisches Ziel. Aber diese Freiheit schlägt in EntfremdungEntfremdung und Objektivierungobjektiv, Objektiv- um: Der Mensch wird gleichsam zum OpferOpfer seines eigenen Freiheitsprojektes. Der Mensch wird zum reinen Mittel reduziert.
Ob es an den falschen ‚Methoden‘ lag oder ob die Ziele von vornherein schon suspekt waren, das wird nicht näher ausgeführt, bleibt ebenso offen wie die Frage nach der Möglichkeit einer alternativen Form von AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Eine solche zeichnet sich allenfalls als ästhetische ReflexionReflexion ab.
Wenn Rationalität selbst zu einer raffinierten und unentrinnbaren Herrschaftspraxis mutiert, dann müsste es eine andere Form von kritischem Denken sein, das diesen Automatismus von Rationalität und Beherrschung – von Dingen, Tieren wie von Menschen – durchbricht. AdornosAdorno, Theodor W. RhetorikRhetorik, seine Programmatik einer essayistischen Schreibweise, ist als der Versuch zu verstehen, einen Sprachwechsel vorzunehmen, der am kritischen Impuls des Denkens festhält, aber zugleich die Machtförmigkeit der begrifflichen SpracheSprache zu unterlaufen sucht. Insbesondere AdornosAdorno, Theodor W. Wertschätzung der KunstKunst, Kunstwerk, ein Erbe der RomantikRomantik, hängt damit zusammen, denn Kunst ist nicht etwas, das die Welt und die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen versucht, sondern sich ihr gleichsam ausliefert.
Die DialektikDialektik der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist ein kulturphilosophisches Schlüsselwerk, das bis heute wichtige Impulse im kulturwissenschaftlichen DiskursDiskurs liefert. Die Bewertungen und die pointierten Aussagen über den Zustand der okzidentalen Kultur oder über die PopularkulturPopularkultur muss man heute nicht mehr teilen: Zu offenkundig ist, dass es auch schon vor der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Ökonomie Volks- und Popularkulturen mit standardisierender Wirkung gegeben hat und dass kulturelle Programmierung womöglich ein Grundelement menschlichen Daseins darstellt. Allein der Versuch, im Bereich der Kulturtheorie eine dritte Position jenseits von blanker Bejahung des Bestehenden und Nostalgisierung der Vergangenheit einzunehmen, ist bedenkenswert genug. Angesichts der ganz offenkundigen Kehrseiten der modernenModerne, modern, -moderne Popularkultur, ihrer weithin entpolitisierenden Wirkung, ihrer Unbeeindrucktheit gegenüber BildungBildung, ihrer konsumistischen Grundhaltung, lassen sich manche Befunde AdornosAdorno, Theodor W. über die moderne Kulturindustrie noch immer mit Gewinn lesen, auch wenn ein Nachteil AdornosAdorno, Theodor W. etwa gegenüber SimmelSimmel, Georg (→ Kap. 5) oder Roland BarthesBarthes, Roland (→ Kap. 7) unübersehbar ist: Mangel an Unvoreingenommenheit, fehlende Neugierde den Phänomenen gegenüber, vorschnelles Urteil. Die moderne westliche Kultur, wie sie die Emigranten HorkheimerHorkheimer, Max und AdornoAdorno, Theodor W. in den 1930er und 40er Jahren in den Vereinigten Staaten kennengelernt haben, wird letztendlich aus der Perspektive eines kulturellen Milieus vorgenommen, das, wie oft vermerkt worden ist, großbürgerlichen Zuschnitts ist.