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Kapitel 2 Psychoanalyse als Kulturtheorie:
Sigmund FreudFreud, Sigmund

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Die Frage, ob die PsychoanalysePsychoanalyse in ihren verschiedenen Ausprägungen – FreudFreud, Sigmund, JungJung, Carl G., LacanLacan, Jacques – implizit auch eine Theorie der Kultur darstellt bzw. beinhaltet1, ist nicht leicht zu beantworten. Noch schwieriger gestaltet sich die Frage, welchen Beitrag sie zu einer zeitgemäßen Theorie von Kultur leisten kann und in welchem Verhältnis sie zu heutigen semiotischen Konzepten von Kultur steht.

Eine pragmatische Antwort lässt sich allemal geben, nämlich die, dass die PsychoanalysePsychoanalyse in all ihren Varianten in den westlichen Kulturen Europas, Amerikas und Australiens präsent ist, übrigens am wenigsten im psychologischen Fachdiskurs, dem sie ursprünglich entsprang, doch dafür in der Philosophie und allen Human- und Kulturwissenschaften. Sie ist bis heute tonangebend; Begriffe, die ihr entstammten, sind, ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, selbstverständlicher Teil der DiskurseDiskurs des AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags-, der MedienMedien, Medien-, -medien, medien- und der PolitikPolitik geworden: Verdrängung, Projektion, Narzissmus, Verarbeitung, Trauerarbeit, Übertragung. Es wäre lohnend, im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Studie den Prozess dieser Verankerung zu untersuchen. EliotEliot, Thomas S. folgend (→ Kap. 1), ließe sich behaupten, dass die PsychoanalysePsychoanalyse eine Zivilreligion des Alltags geworden ist und dass sie den einen Prozess durchlaufen hat, den man als Produktion von UnbewusstheitUnbewusste, das, Unbewusstheit bezeichnen könnte. Wir verwenden den Diskurs der PsychoanalysePsychoanalyse so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wissen, woher all diese zentralen Begriffe stammen. Autoren wie FreudFreud, Sigmund, JungJung, Carl G. und LacanLacan, Jacques haben großen Einfluss auf Denker ausgeübt, die man ohne Umschweife als Kulturtheoretiker wird bezeichnen können: die archetypischen WunschbilderWunschbild BenjaminsBenjamin, Walter (→ Kap. 6) und BlochsBloch, Ernst, sozusagen die imaginären Überschüsse der jeweiligen Kultur2, die Diskurse über die Alterität und den Blick des AnderenAndere(r), der, die, das3, die Kulturkritik der Frankfurter SchuleFrankfurter Schule (→ Kap. 6), sie alle sind kaum denkbar ohne die Leihgaben, die sie jeweils von C.G. JungJung, Carl G., LacanLacan, Jacques oder FreudFreud, Sigmund bezogen.

Mit FoucaultFoucault, Michel (→ Kap. 8) gesprochen, ist FreudFreud, Sigmund ein Autor insofern, als er einen DiskursDiskurs eröffnet, einen Diskurs über Phänomene, die bis dahin mehr oder weniger sprachlos waren4 und die im Näheren wie im Weiteren um die menschliche – männliche, weibliche – SexualitätSexualität kreisen. Von ihrem Ausgangspunkt ist die PsychoanalysePsychoanalyse, übrigens auch jene LacansLacan, Jacques, die diese mit dem StrukturalismusStrukturalismus versöhnte (indem sie das UnbewussteUnbewusste, das, Unbewusstheit als eine Art SpracheSprache ansah)5, keine Kulturtheorie sui generis. Denn dieses Unbewusste wird nicht als historisch, d.h. kulturell veränderlich gedacht; FreudsFreud, Sigmund Triebtheorie hat alle Züge einer metahistorischen und metakulturellen Anthropologie. Es gibt bei dem Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse keinerlei Hinweis darauf, dass Libido und Aggressionstrieb kulturellem Wandel unterliegen. Der Mensch, dem die PsychoanalysePsychoanalyse in seinen heimlichsten Neigungen auflauert und dessen Obsessionen sie durch die Geschwätzigkeit des TraumesTraum, Traum-, -traum und des Dialogs ans Tageslicht zerrt, gehört ganz und gar – wenigstens in der klassischen Selbstdeutung der PsychoanalysePsychoanalyse – auf die Seite der NaturNatur.

Insofern ist insbesondere das Denken FreudsFreud, Sigmund ganz dem traditionellen Gegensatz von NaturNatur und Kultur verpflichtet, wobei die Natur die feindliche Außenwelt wie die übermächtige Binnenwelt der menschlichen Triebe – die MetapherMetapher selbst hat biologische Konnotationen – meint. Der Psychoanalytiker, ein HybridHybrid, Hybridität aus zeitgenössischem Naturwissenschaftler und spekulativem Philosophen, ist und wird auf Schritt und Tritt mit kulturellen Phänomenen konfrontiert. Natürlich spielt auch – etwa in Totem und Tabu6 – der Ehrgeiz hinein, die neue Disziplin vermochte auch andere Bereiche zu erhellen, die nicht unmittelbar Gegenstand des psychoanalytischen Diskurses sind. Phänomene wie MassenMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-, die ReligionReligion, religiös oder auch die Kritik an der eigenen Kultur sind Themenkomplexe, die für die PsychoanalysePsychoanalyse eine Herausforderung darstellen. In einem Analogieschluss wird nicht mehr der einzelne Mensch, sondern die westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Menschheit und damit die Kultur in ihrem umfassenden Sinn (Kultur I → Kap. 1) zum Gegenstand von Beobachtung, Diagnose und – verfänglich genug – der Therapie. Dieser vom Einzelnen auf die GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich übertragene Anspruch der Heilung hat der PsychoanalysePsychoanalyse allgemeine Beachtung, aber auch Kritik und Skepsis eingetragen.

Mit dieser Vorbemerkung befinden wir uns bereits mitten in jenem Text, der für die Profilierung der PsychoanalysePsychoanalyse als Kulturtheorie zentral geblieben ist, der Schrift Das Unbehagen in der Kultur, die erstmals 1930 erschien und insgesamt zu den wichtigsten und wirkungsmächtigsten Werken FreudsFreud, Sigmund zählt.7

Dieser Text, der heute in seinen definitorischen Bestimmungen von ‚Kultur‘ auf den ersten Blick traditionell anmuten mag, ist speziell im kulturwissenschaftlichen DiskursDiskurs, nicht zuletzt unter dem Einfluss des PoststrukturalismusPoststrukturalismus, eher unterbelichtet geblieben, während kleinere Texte wie jener über den Wunderblock und vor allem jener über das Unheimliche8 sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen. Das Neue, das in ihm zutagetritt, findet sich dabei scheinbar am Rande.

Wie jeder geniale Titel enthält auch jener der Schrift von 1930 bereits die wichtigsten Elemente der Argumentation. Förmlich ins Auge springen dabei wohl drei Elemente: der Terminus des Unbehagens, die befremdliche Präpositionalkonstrukion „in“ sowie der paradoxe Zusammenhang zwischen Unbehagen und Kultur.

Das Unbehagen, das mit der Vorsilbe „Un-“ die Behaglichkeit negiert, bildet eine konnotative Familie mit Ausdrücken wie ungemütlich, unkomfortabel, unheimisch, unvertraut und – um ein Wort aus einem anderen berühmten Aufsatz von FreudFreud, Sigmund zu zitieren – unheimlich.9 Was durch all diese Worte negiert wird, ist ein Grad von Selbstverständlichkeit: Gemütlichkeit, Behaglichkeit, Heimat. Das Unbehagen, um das es zu gehen scheint, ist also nicht bloß eine intellektuelleIntellektueller, intellektuell Unzufriedenheit, sondern eine tief im Menschen verankerte Disposition, eine innere Verstimmung.

Das wird nicht zuletzt an der außergewöhnlichen Präpositionalkonstruktion „in“ deutlich, die nicht einfach an die Stelle jener geläufigen anderen („an“) tritt. Das Substantiv „Unbehagen“ verlangt üblicherweise ein präpositionales ObjektObjekt, gleichsam ein Attribut. Dieses bleibt im Titel ausgespart, d.h. es fehlt. Das Unbehagen hat gleichsam sein Objekt verloren und man könnte mutmaßen, dass gerade darin das Ungemütliche besteht. Die Präposition „in“ ersetzt die fehlende („an“) nicht, die im KontextKontext mit dem Unbehagen keine wirklich räumlich-lokale, sondern eine metaphorische Bedeutung hat. Demgegenüber verortet die Präposition „in“ das Unbehagen schlechthin. Der Ort dieses Unbehagens ist die Kultur.

Über diesen Umweg kann man schließen, dass dieses Unbehagen, das in der Kultur ist, womöglich auch eines an der Kultur ist.

Kommen wir nun zum dritten Aspekt des Titels: der Gegenüberstellung von Unbehagen und Kultur. Der traditionelle Kulturbegriff legt – übrigens auf allen drei Bedeutungsebenen (Kultur I, II, III → Kap. 1) – die Vorstellung nahe, dass Kultur etwas ist, das Sinn stiftet, sekundäre Heimat schafft, kurzum Behagen produziert. Aber, so suggeriert die Überschrift, das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Oder, um die Pointe vorwegzunehmen: Das, was intentional Behagen erzeugt, schafft paradoxerweise gerade dadurch und zugleich Unbehagen. FreudsFreud, Sigmund mit allen rhetorischen Wassern gewaschener Text10 beginnt aber nun keineswegs mit der Erörterung dieser Frage, sondern betritt sein Thema auf einem Seitenweg. Gegenstand der vorangegangen Abhandlung Die Zukunft einer Illusion (1927) war das Thema ReligionReligion, religiös gewesen. Aus ihr hatte sich eine kontroverse Korrespondenz zwischen dem französischen Schriftsteller Romain RollandRolland, Romain und FreudFreud, Sigmund ergeben. RollandRolland, Romain hatte darauf verwiesen, dass Religion keineswegs bloß eine menschliche Illusion darstelle, sondern auf einer Grunderfahrung, auf einem elementaren „ozeanischen Gefühl“ beruhe, das FreudFreud, Sigmund in seiner Replik mit einem Vers aus Grabbes Drama Hannibal („Ja, aus der Welt werden wir nicht fallen. Wir sind einmal drin.“) kommentiert. Dieses ursprüngliche Einheitserlebnis, das schon in SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich D.E. Reden über die Religion (1799)11 eine zentrale Rolle spielte, wird von FreudFreud, Sigmund rundweg in Abrede gestellt:

Die Idee, dass der Mensch durch ein unmittelbares, von Anfang an hierauf gerichtetes Gefühl Kunde von seinem Zusammenhang mit der Umwelt erhalten sollte, klingt so fremdartig, fügt sich so übel in das Gewebe unserer Psychologie, dass eine psychoanalytische, d.i. genetische Ableitung eines solchen Gefühls versucht werden darf.12

Der Einwand des französischen Schriftstellers zwingt zur Selbstpositionierung. Lassen wir einmal dahingestellt, ob das „ozeanische Gefühl“ wirklich schon die Existenz eines Ichs voraussetzt, das „Kunde von seinem Zusammenhang mit der Umwelt“13 hat, oder ob dieses nicht viel eher im Zwischenbereich dessen angesiedelt ist, was FreudFreud, Sigmund mit dem Es und dem Ich bezeichnet. In jedem Fall bezieht FreudFreud, Sigmund systemlogisch, wie er selbst zu Recht feststellt, eine skeptische Gegenposition zur romantischen Annahme ursprünglicher Einheit und authentischen Daseins. Modern an FreudFreud, Sigmund scheint hier, dass er eigentlich von einem nie ganz reparablen Fremd-Sein des Menschen in der Welt ausgeht. Aus FreudsFreud, Sigmund Perspektive kann der Mensch sehr wohl aus der Welt fallen, weil er nie ganz in ihr ist. Gerade weil dies so ist, gewinnt Kultur im Fortgang der Argumentation eine zentrale Rolle.

FreudFreud, Sigmund steht im Einklang mit den Ideen der Denker und Dichter der Wiener Jahrhundertwende – mit MachMach, Ernst, SchnitzlerSchnitzler, Arthur, HofmannsthalHofmannsthal, Hugo von und MusilMusil, Robert –, wenn er konstatiert, dass das Ich keine ursprüngliche Größe und keine selbständige, gegen alles andere abgegrenzte Instanz darstellt.

Es verfügt über keine scharfen Grenzen, nach innen wie nach außen. Verliebtheit ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie die Grenzen zwischen Ich und ObjektObjekt verschwimmen. Viel wichtiger aber ist, dass das Ich im Gegensatz zum Es, dem „unbewusstenunbewusst seelischen Wesen“, eine (Kultur-)GeschichteGeschichte hat. In heutigen Worten formuliert, ist das Ich eine kulturelle KonstruktionKonstrukt, Konstruktion, oder, wie es FreudFreud, Sigmund formuliert, ein Scharnier zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Lustprinzip und Realität. Nun kann FreudFreud, Sigmund die Standardversion des psychoanalytischen Narrativs (→ Kap. 13) erzählen: die GeschichteGeschichte vom Säugling, für den Innenwelt und Außenwelt ungeschieden sind. Das Ich ist das Resultat einer Entwicklung, an deren dramatischem Ausgangspunkt die drohende und bedrohliche Außenwelt steht. Es ist ein Ich, das auf kindliche, unbändige Weise seine Lust gegen die Außenwelt geltend macht und sich gegen diese und deren Zumutungen abgrenzt.

Das „ozeanische Gefühl“ lässt sich anhand dieser ErzählungErzählung(en) als ein Rückgriff auf eine „frühe Phase des Ichgefühls“14 zurückführen, als Tendenz des erwachsenen Menschen, in diesen vermeintlich idyllischen Zustand zurückzukehren. Das Stichwort lautet Regression. Im Gegensatz zum heute geläufigen Wortgebrauch bezeichnet es eine unvermeidliche Rückbewegung, eine imaginäre Rückkehr zur Kindheit, die FreudFreud, Sigmund hier mit dem Erinnern verbindet. Die Regression ist aber auch ein Regress, eine Entschädigung, ein Ausgleich. Diese Vorstellung von Entschädigung ist zentral für FreudsFreud, Sigmund Konzept von Kultur. FreudFreud, Sigmund wendet diesen ontogenetischen Befund phylogenetisch und archäologisch:

Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach.15

So interpretiert FreudsFreud, Sigmund biologisch-psychologischer MaterialismusMaterialismus das heutige Ich analog als einen evolutionären Restposten: Das heutige Ich verhält sich zu jenem archaischen Ich, das jedes Erdenkind, auch das moderneModerne, modern, -moderne, noch einmal durchläuft, wie die Echsen zu den Dinosauriern oder das gegenwärtige Rom zur antiken Metropole. In Kultur ist also immer ein Moment von Regression und Regress, von Vergessen und Erinnern eingeschrieben. ReligionReligion, religiös wird dabei als eine ReaktionsbildungReaktionsbildung, als ein kultureller Effekt verstanden, somit als integraler Bestandteil von Kultur. Es basiert auf einer ErinnerungErinnerung an ein ‚primitives‘ Ich und stellt eine Rückkehr zu „uralten, längst überlagerten Zuständen des SeelenlebensLeben, Lebens-, -leben“ dar, in ein Dunkel, das FreudFreud, Sigmund mit Verweis auf SchillersSchiller, Friedrich Gedicht Der Taucher16 als monströs und unheimlich apostrophiert.

Kein Zweifel, dass FreudFreud, Sigmund in der Tradition hellenistischer und aufklärerischer Skepsis steht, aber an einer entscheidenden Stelle geht er über sie hinaus, wenn er ReligionReligion, religiös nämlich weniger als ein mentales, sondern vielmehr als ein kulturelles Phänomen deutet, das Teil des LebensvollzugsLeben, Lebens-, -leben ist. In seiner genetischen Argumentationsweise ist die Religion nicht einfach Lug und Trug, sondern vielmehr Teil eines menschlichen Dramas, das sowohl physisch wie kulturell ist. Anders gesagt: Sie ist im Körperlichen verankert. Was Kulturwissenschaften jedweder Provenienz FreudFreud, Sigmund zu verdanken haben, ist die Überwindung von Kulturkonzepten, die den Einfluss und den Ort der Kultur auf den Kopf des Menschen beschränken wollen.

Mit diesem Befund im Rücken kann sich FreudFreud, Sigmund nunmehr seinem eigentlichen Thema, der Kultur, widmen. Bevor er dies tut, räumt er einen zweiten Stein aus dem Weg, nämlich die Frage nach dem Sinn und „Zweck“ des LebensLeben, Lebens-, -leben; er überführt sie in jene nach den Absichten, die der Mensch durch sein praktisches Verhalten ‚erkennen‘ lässt. FreudFreud, Sigmund nimmt gleichsam eine ethnologische und zugleich kriminologische Position ein: Er misstraut den schönen Selbstaussagen, die die Menschen von sich geben. Diese sind Rationalisierungen ihrer wahren Absichten. Letztere möchte die PsychoanalysePsychoanalyse erschließen. Als Kern dieser Rationalisierungen bestimmt FreudFreud, Sigmund das Streben nach Glück:

„Das Prinzip [das Lustprinzip, Anm. d. Verf.] beherrscht die Leistung des seelischen Apparates von Anfang an.“17 Wobei dieses Glück – dem klassischen philosophischen DiskursDiskurs entsprechend – immer zwei Seiten hat: positiv das Erlebnis intensiver Lustgefühle, negativ die Abwesenheit von Schmerz und Unlust. Dieses Streben wiederum ist biologisch-natürlich im Menschen als Programm verankert. Seine stärkste Manifestation erfährt es in der geschlechtlichengeschlechtlich Liebe.

Soweit der Befund einer quasi naturwissenschaftlich unterlegten Kulturanthropologie. Aber diesem ‚natürlichen‘ Streben nach Glück steht – so die tragische Pointe der ErzählungErzählung(en) FreudsFreud, Sigmund von der Genese der Kultur – die Realität entgegen:

Das LebenLeben, Lebens-, -leben wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben.18

Das Programm des Lustprinzips ist

im Hader mit der ganzen Welt […] Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten.19

Dramatisch effektvoll verweist FreudFreud, Sigmund auf jene Momente, durch die der glücksbegierige Mensch bedroht ist:

 durch den eigenen KörperKörper, körperlich, das heißt durch Verfall, Auflösung, Schmerz und Angst;

 durch die zerstörerischen Kräfte der Außenwelt (NaturNatur);

 durch die Beziehungen zu anderen Menschen und zur GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich;

 durch die Kurzfristigkeit des Glücks.

Was tun in dieser vertrackten Situation, die durch permanente Frustration und Überforderung charakterisiert ist? FreudFreud, Sigmund gibt hier eine Antwort, die der Anthropologie Plessners und Gehlens20 beträchtlich nahe kommt, auch wenn diese anders als FreudFreud, Sigmund nicht das Lustgefühl in den Mittelpunkt rücken, sondern von vornherein Entlastung und Kompromiss in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Kulturen, so könnte man sagen, lassen sich als symbolische Hilfsprogramme und Ersatzkonstruktionen des LebensLeben, Lebens-, -leben begreifen, um den Abgrund, der sich zwischen Glücksanspruch und Realität auftut, zu überbrücken. Die Ermäßigung des „Glücksanspruchs“ erscheint aus dieser Perspektive unvermeidlich; lakonisch urteilt FreudFreud, Sigmund, dass „uneingeschränkte Befriedigung“ triebökonomisch nicht optimal sei, weil das hieße, „den Genuss vor die Vorsicht“ zu „setzen“.21 Kultur bedeutet von daher stets Einschränkung des Natürlichen im Menschen und des Naturwesens Mensch selbst.

FreudFreud, Sigmund unterscheidet dabei unter Verweis auf drei Schriftsteller – VoltaireVoltaire, FontaneFontane, Theodor und BuschBusch, Wilhelm – drei verschiedene Hilfskonstruktionen und kulturelle Ablenkungen:

1 Die VoltaireVoltaire’sche, die Geringschätzung des Elends, Arbeit und Wissenschaft impliziert: Am Ende seines Romanes Candide oder der Optimismus (1758) meint einer der Romanprotagonisten: „Arbeiten wir also, ohne viel zu grübeln […], das ist das einzige Mittel, um das LebenLeben, Lebens-, -leben erträglich zu machen.“22

2 Die FontaneFontane, Theodor’sche, die Verringerung des Elends durch die „Hilfskonstruktion“ weise Resignation und durch KunstKunst, Kunstwerk empfiehlt, so wie Geheimrat Wüllersdorf Effi Briests Gatten, dem Baron von Instetten, am Ende von FontanesFontane, Theodor berühmten Roman.23

3 Die BuschBusch, Wilhelm’sche (aus der Frommen Helene), die Unempfindlichkeit gegenüber dem Elend durch die Einnahme von „Likör“ empfiehlt („Wer Sorgen hat, hat auch Likör“).24

Die Bezugnahme auf literarische Texte mit skeptisch-aufklärerischer Tendenz (um die Literatur seiner ZeitZeit macht FreudFreud, Sigmund einen großen Bogen) hat dabei nicht nur illustrative, sondern konstitutive Bedeutung. Die Literatur wird als ein MediumMedium angesehen, das die verschwiegenen Motive in der Psyche des einzelnen Menschen und kulturelle Effekte in plastischer Konkretheit ans Licht befördert. Im Fortlauf des Textes variiert und erweitert FreudFreud, Sigmund diese aus der Literatur bezogene Typologie folgendermaßen:

 Geringschätzung des Elendsdurch Abschottung (Eremit)durch zivilisatorisches Engagement

 Unempfindlichkeit gegen das Elenddurch äußere Manipulation (Drogen)durch asketische PraktikenPraktiken und Senkung der Libido (Yoga)

 Verringerung des Elends (Ersatzbefriedigung)Verschiebung (Wissenschaft)Verfeinerung (KunstKunst, Kunstwerk)

Im Anschluss an die Typologie kultureller Hilfskonstruktionen entfaltet FreudFreud, Sigmund auch eine Typologie des Kulturmenschen, die freilich nicht vollständig mit der obigen Typenreihe übereinstimmt:

 der aktive Mensch,

 der erotische Mensch,

 der narzisstische Mensch.

In gewisser Weise bleibt der erotische Mensch, der das Glück in der Libido findet, das freilich unerreichbare Vorbild, der Maßstab des Glücks, der auch den Horizont aller Hilfskonstruktionen bildet:

[…] eine der Erscheinungsformen der Liebe, die geschlechtlichegeschlechtlich Liebe, hat uns die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lustempfindung vermittelt und so das Vorbild für unser Glücksstreben gegeben.25

Aber dem steht eine lebenspraktischeLeben, Lebens-, -leben Beobachtung entgegen:

Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte ObjektObjekt oder seine Liebe verloren haben.26

Es bleibt der Zwiespalt, dass einerseits das Programm, das uns das Lustprinzip „aufdrängt“, unerfüllbar ist, dass man es aber nicht ohne Strafe negieren kann. Kultur, so ließe sich nun behaupten, stellt so betrachtet eine KompromissbildungKompromissbildung dar: Sie repräsentiert einerseits die Außenwelt, aber sie vermittelt auch zwischen dem Drängen des Lustprinzips und den Realitäten der Außenwelt. FreudFreud, Sigmund präferiert offensichtlich die LebensmaximenLeben, Lebens-, -leben des vorsichtigen Kaufmanns, der versucht, das Lustprinzip und das Bedürfnis nach Sicherheit auszutarieren. Kultur lässt sich als ein System von Einschränkungen definieren, das das Lustprinzip (auch im wörtlichen Sinn) beschneidet und dem Menschen zugleich Sicherheit und OrdnungOrdnung, ordnungs- beschert. FreudFreud, Sigmund denkt Kultur also vom IndividuumIndividuum her: „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“27

Die Grenzen sind natürlich fließend, etwa zwischen dem zivilisatorischen Engagement und dem Einsatz für die Wissenschaft. Aufschlussreich ist FreudsFreud, Sigmund Einschätzung der KunstKunst, Kunstwerk (Kultur III). Aber auch zwischen den künstlichen Welten der Literatur und jenen des Rausches besteht ein unübersehbarer Zusammenhang. Ähnliches gilt wohl auch für das mönchische Dasein und diverse asketische PraktikenPraktiken.

Die Künste gelten dem Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse als „milde Narkose“. KunstKunst, Kunstwerk und Literatur gestatten– dem Autor wie den Rezipienten – „den Genuss einer eigenen fremden Phantasiewelt. In der Kunst und partiell auch in der Wissenschaft wird die „Befriedigung […] aus Illusionen gewonnen, die man als solche erkennt, ohne sich durch deren Abweichung von der Wirklichkeit im Genuss stören zu lassen.“28 Kunst und Literatur ermöglichen den Genuss in einer eigenen, von der realen Welt verschiedenen Phantasiewelt („Verschiebung“). Die Schaffung dieser Welten bedeutet eine sekundäre Lustbefriedigung („Sublimierung“). Der Kompromisscharakter besteht darin, dass die Befriedigung keine primäre, sondern eine sekundäre darstellt, die immer auch mit Anstrengung und Arbeit, d.h. mit Aufschub verbunden ist. Mit anderen Worten: Eine glückliche, paradiesische Menschheit dichtete ebenso wenig wie sie Wissenschaft betriebe. Das reine Glück ist traumlos.

Demgegenüber interpretiert FreudFreud, Sigmund die ReligionReligion, religiös als eine Form von Illusion, die undurchschaubar bleibt. FreudFreud, Sigmund stuft sie – genauso wie das revolutionäre Verhalten – als eine Form des „MassenwahnsMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-“, als ein kollektives Wunschdenken ein, das seine gefährliche Wirksamkeit gerade auf Grund seines kontrafaktischen und irrealen Charakters hat. FreudFreud, Sigmund übernimmt die Idee, dass Religion ein gefährliches, strukturellStruktur, strukturiert, strukturell psychotisches Opiat darstellt, von MarxMarx, Karl; er überträgt diesen Befund jedoch, ohne dies näher auszuführen, auch auf die revolutionären IdeologienIdeologie seiner ZeitZeit (MarxismusMarxismus, marxistisch, NationalsozialismusNationalsozialismus).

Mit einem Seitenblick auf die Literatur der ZeitZeit lässt sich behaupten, dass derlei Diagnosen nicht sehr weit entfernt sind von denen zweier großer österreichischen Autoren, die genau eine Generation jünger sind als FreudFreud, Sigmund: MusilMusil, Robert und BrochBroch, Hermann. Aber insbesondere BrochBroch, Hermann zieht eine klare Trennungslinie zwischen verschiedenen Formen von Religionen: Er unterscheidet solche, die das Irrationale integrieren, von Formen des MassenwahnsMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-, die eine Desintegration von Rationalität zur Folge haben. MusilMusil, Robert, der FreudFreud, Sigmund näher steht als er wahrhaben will, vertraut nicht mehr auf die sublimierende Kraft von KunstKunst, Kunstwerk und Wissenschaft und lässt die in sich symbolisch zerfallende Welt in Krieg und MassenwahnMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- enden. FreudsFreud, Sigmund Schrift über das Unbehagen in der Kultur und Der Mann ohne Eigenschaften, fast zeitgleich erschienen, zehren von denselben kulturellen Erfahrungen: dem Zerfall der Donaumonarchie, dem Ersten Weltkrieg und der Krisenhaftigkeit der 1920er Jahre.

Ziehen wir an dieser Stelle unserer intensiven Lektüre (close reading) eine erste Zwischenbilanz: ‚Kultur‘ wird in FreudsFreud, Sigmund Schrift über einen Umweg eingeführt. Sie ist das Produkt eines menschlichen Dramas, der Kluft zwischen einem unermesslichen Glücksverlangen und einer Realität, die dieses abweist. Kultur bedeutet, diese Kluft zu überbrücken, eine Hilfskonstruktion über einen Abgrund, eine KompromissbildungKompromissbildung. Von dieser skeptisch-negativen Anthropologie aus erscheint Kultur nicht so sehr als ein System der SinnstiftungSinnstiftung und nicht einmal primär als unhintergehbare Arbeit an der NaturNatur, sondern stellt vielmehr ein Überlebensprogramm dar, das Trieb und Realität miteinander versöhnt. Der Mensch tauscht dabei, wie wir noch sehen werden, den Verzicht auf Glück gegen eine gewisse Sicherheit ein. LebensphilosophischLeben, Lebens-, -leben besehen bedeutet das eine Neuformulierung der Philosophie Epikurs, die der Minimierung von Leid gegenüber der Maximierung von Lustbefriedigung den Vorzug gibt.

Kulturtheoretisch von Belang ist, dass jene FunktionenFunktion von Kultur, die gemeinhin als primär gelten – symbolische Partizipation an der Welt, Bearbeitung von NaturNatur (→ Kap. 1) – auf merkwürdige Weise in die zweite Reihe rücken. Das liegt an FreudsFreud, Sigmund spezifischem Fokus: Die Welt des Menschen, die Kultur, wird aus dem Blickwinkel des libidinösen Ich betrachtet. Wendet man das erzähltheoretische Werkzeug, wie es Gerard Genette und Mieke BalBal, Mieke entwickelt haben (→ Kap. 13), auf FreudsFreud, Sigmund Schrift an, so wählt der Autor, der mit der Stimme eines kulturwissenschaftlichen Erzählers spricht, eine überaus originelle FokalisierungFokalisierung: Erzählt wird die GeschichteGeschichte nämlich aus der Perspektive des libidinösen Ich, dessen Irrfahrten die Abhandlung wiedergibt. Deren unsicherer, ungeschützter Hafen ist die Kultur.

Aus dieser Perspektive entstehen KunstKunst, Kunstwerk und Dichtung nicht aus dem Wunsch, der Welt einen gültigen Sinn zu verleihen, sondern aus dem Drang eines Lustprinzips, das sich unter widrigen Umständen seinen Weg bahnt. Ganz Ähnliches gilt für die TechnikTechnik, -technik, das Engagement für die ZivilisationZivilisation. Auch hier tritt das Argument, dass es sich um eine kollektive Veränderung natürlicher Gegebenheiten und – damit verbunden – der Verbesserung menschlicher LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben handelt (so die geläufige Selbstinterpretation der Technik in der modernen westlichen Kultur), hinter die Vorstellung zurück, Technik entstehe dadurch, dass das Lustprinzip sich angesichts des Elends dieser Welt gegen Frustration und Enttäuschung abhärtet. Kultur- und geistesgeschichtlich betrachtet sind auch in diesem Skeptizismus heroisch-männliche Elemente, wie sie wohl für FreudsFreud, Sigmund Epoche charakteristisch waren, unübersehbar: der GlaubeGlaube an Technik und Wissenschaft, die vormoderneModerne, modern, -moderne Vorstellung von Kunst und Literatur als schönen Entschädigungen für das Grau des AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags-.

Beinahe heldisch kapituliert und resigniert der FreudFreud, Sigmund’sche Mensch vor der Unhintergehbarkeit einer widrigen Realität. Die List dieser Kapitulation – FreudsFreud, Sigmund List der Vernunft29 – besteht darin, dass der moderneModerne, modern, -moderne Kulturmensch produktiv resigniert und die Kapitulation zu seinem Nutzen wendet. Kultur ist hier nicht so sehr ein schöner Luxus, sondern die Frucht des dramatischen, todgefährlichen Unternehmens, auf der Welt zu sein. Es zeugt von heroischer Nüchternheit, sich dem Realitätsprinzip zu stellen und den Zwiespalt von Lustprinzip (LacanLacan, Jacques wird später mit Rückgriff auf HegelHegel, Georg W.F. vom BegehrenBegehren sprechen) und feindlicher Umwelt anzuerkennen. Dieser Zwiespalt wird in und durch Kultur real und symbolisch bearbeitet und geregelt. Dabei fungieren die engeren Bereiche von ‚Kultur‘ als neurotische Reaktionsbildungen, die den tiefen Abgrund, der sich zwischen dem BegehrenBegehren und dem Begehrten auftut, abmildern.

Aber so versöhnlich endet FreudsFreud, Sigmund Kulturtheorie mitnichten. FreudFreud, Sigmund hat seine Schrift mit einem Umweg begonnen. Nachdem er eine erste Bestimmung der Kultur als eines existenziellen Hilfsprogramms vorgestellt hat, forciert er zunächst nicht seine theoretischen Bemühungen um einen stringenten Begriff von Kultur, sondern wählt abermals einen Umweg. Anstatt direkt auf sein Ziel, die Entfaltung einer psychoanalytischen Theorie von Kultur, zuzusteuern, wendet er sich der Frage zu, warum es in der modernenModerne, modern, -moderne Welt eine anhaltende Feindschaft gegen die Kultur gibt: Unbehagen an der Kultur in der Kultur. FreudFreud, Sigmund diskutiert das Thema der Kultur nunmehr nicht primär aus eigener Perspektive, sondern aus der Fremdperspektive, aus dem Blickwinkel der Kritiker. Dabei wird schnell deutlich, dass es sich nicht um ‚Kultur‘ schlechthin handelt, sondern um die okzidentale Kultur. Diese Kritik hat – kulturgeschichtlich besehen – einen unverkennbar deutschen Einschlag. Dieser kulturkritische DiskursDiskurs reicht von einer intensiven Rousseau-Rezeption, über HerderHerder, Johann G. und die RomantikRomantik bis in die Gegenwart FreudsFreud, Sigmund: LebensreformbewegungLeben, Lebens-, -leben, Oswald SpenglersSpengler, Oswald und Ludwig KlagesKlages¸ Ludwig‘ Abgesänge auf die westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Kultur. Diese Kulturkritik erlangt schon vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse kulturelle HegemonieHegemonie oder – um mit FoucaultFoucault, Michel zu sprechen – Diskursmacht, sie wird tonangebend und setzt – links wie rechts – revolutionäre meta-politische Suchbewegungen in Gang, in denen sich Konzepte von kultureller und gesellschaftspolitischer Revolution überkreuzen. Mit Diskursmacht (→ Kap. 8; Hegemonie → Kap. 12) ist nun nicht gemeint, dass eine ganze Epoche mit dieser radikalen Kulturkritik einverstanden ist, sondern vielmehr der Umstand benannt, dass sie so sprachmächtig und auch – im doppelten Sinn des Wortes – sprachgewaltig ist, dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss. Selbstredend gibt es in diesem Zusammenhang im psychoanalytischen Lager solche radikalen Bestrebungen, Wilhelm ReichReich, Wilhelm und die Sexpol-Bewegung der 1920er Jahre sind die bekanntesten Beispiele für diesen anti-ödipalen Effekt.

So besehen, liegt es nahe, sich mit dieser Kulturkritik eingehend auseinanderzusetzen. Symptomatisch ist jedoch wiederum die Art und Weise, wie FreudFreud, Sigmund das tut. Er widerlegt diese Kritik nicht etwa theoretisch, sondern fasst ihre Pointe im Sinne einer Diagnose zusammen:

Die Behauptung […] lautet, einen großen Teil der Schuld an unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur; wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. Ich heiße sie erstaunlich, weil – wie immer man den Begriff Kultur bestimmen mag – es doch feststeht, dass alles, womit wir uns gegen die Bedrohungen aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.30

FreudFreud, Sigmund operiert auch weiterhin nicht als theoretischer Opponent, sondern als Kulturhistoriker, der diese erstaunliche Feindschaft gegenüber der Kultur historisch verortet:

 Die asketische Revolte: „Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen“.

 Die kulturalistisch-anarchistische Revolte: die Idee des edlen Wilden im Gefolge der Kulturbegegnung mit der Neuen Welt.

 Die psychoanalytische Revolte in der ModerneModerne, modern, -moderne: „Man fand, dass der Mensch neurotisch wird […].“31

Die erste Revolte, die sich gegen das Realitätsprinzip und gegen den Kompromiss wendet, wie ihn Kultur generell darstellt, hat unzweifelhaft asketischen Charakter. Die zweite Revolte lässt undurchschaute (illusionäre) Wunsch- und Gegenwelten entstehen, während die dritte sich im IndividuumIndividuum selbst vollzieht, als ein Protest der Libido gegen die Hilfskonstruktionen der Kultur, ein Protest, der individuellindividuell wie kollektiv neurotische Störungen hervorruft.

Auch wenn FreudFreud, Sigmund diese Revolte nicht teilt – das gilt insbesondere für die ersten beiden Versionen –, nimmt er dieses Unbehagen ernst. Er greift es als einen Befund auf, der durch kein Gegenargument aus der Welt geschaffen werden kann. Insbesondere das zeitgenössische Unbehagen an der Kultur sieht er im Zusammenhang mit einer nachvollziehbaren und verständlichen Enttäuschung darüber, dass die moralische und gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Entwicklung mit dem technischen FortschrittFortschritt nicht Schritt hält.

FreudsFreud, Sigmund Begriff von Kultur, der NaturNatur und Kultur, Primitivität und Sublimierung kontrastiert, ist traditionell und eurozentrischEurozentrismus, eurozentrisch; er konstituiert sich durch binäre Oppositionen. Er ist umfassend und schließt den Bereich der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich mit ein. FreudFreud, Sigmund bezieht sich nicht auf den mit BildungBildung aufgeladenen Kulturbegriff, wie ihn IdealismusIdealismus (philosophisch), KlassikKlassik und RomantikRomantik in Deutschland mit jeweils unterschiedlicher Färbung programmatisch aufgefasst haben. Die fast absolute Positivität eines solchen Begriffs von Kultur rührt daher, dass diese als der Ermöglichungsgrund der freien Persönlichkeit gesehen wird. Demgegenüber bezieht sich FreudsFreud, Sigmund nüchterne Auffassung von Kultur, die diese als kollektive Selbsteinschränkung begreift, sehr viel mehr auf den Zivilisationsbegriff angelsächsischer Provenienz, wie die folgende Definition von Kultur sinnfällig macht:

‚Kultur‘ bezeichnet „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser LebenLeben, Lebens-, -leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die NaturNatur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“32

FreudFreud, Sigmund operiert also, wie beinahe alle älteren Konzepte von Kultur, mit einem umfassenden Begriff: Kultur = ZivilisationZivilisation + GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich + KunstKunst, Kunstwerk. Neu und folgenreich ist der Einschluss der inneren psychischen Konditionierung des Menschen durch Kultur. Noch BourdieusBourdieu, Pierre Kulturtheorie (→ Kap. 9) verdankt dieser Einsicht in den Zwangs- und Disziplinierungscharakter von Kultur unendlich viel.

Dass sich FreudsFreud, Sigmund Verständnis von Kultur nicht auf den emphatisch-idealistischen Begriff von Kultur stützt, sondern auf englische und französische Vorbilder, zeigen auch die literarischen Referenzen: Jonathan SwiftsSwift, Jonathan Gullivers Reisen (1726) und François RabelaisRabelais, François‘ Gargantua und Pantagruel (1558). Die Protagonisten dieser Romane sind Repräsentanten einer ungehemmten Libido. Kein Zufall, dass FreudFreud, Sigmund sich auf jene Episode aus Gullivers Reisen bezieht, wo Gulliver als Riese mit seinem ungebremsten Urinstrahl die Feuersbrunst im Palast seiner winzigen Gastgeber löscht. Zwar rettet Gulliver durch seine Tat den Palast, aber sein Tun bleibt anstößig. Was an diesem Triumph der Libido Anstoß nimmt, ist die ZivilisationZivilisation.33

Wenn Kultur also nicht so sehr den Freiraum von persönlicher Freiheit, sondern sehr viel eher den RaumRaum ihrer Beschränkung darstellt, dann werden die wiederum kulturellen und psychologischen Motive dieser Feindschaft zumindest nachvollziehbar. FreudFreud, Sigmund benennt insgesamt drei Ursachen:

 Kultur bedeutet Verzicht auf Glücksmaximierung (wie sie durch literarische Figuren wie Pantagruel und Gulliver sinnfällig wird).

 Kultur bedeutet Beschneidung der individuellenindividuell Freiheit.

 Kultur bedeutet HerrschaftHerrschaft und Beherrschung.

Wir kommen damit zur zweiten Zwischenbilanz unserer Neulektüre (reécriture) von FreudsFreud, Sigmund durch und durch ambivalenter Schrift. Schien es auf den ersten Blick so, dass die KonstruktionenKonstrukt, Konstruktion der Kultur tragfähig sind, so macht der Verweis auf das Unbehagen in der Kultur in Gestalt periodisch wiederkehrender Kulturkritik deren Fragilität sichtbar. Es handelt sich im Falle kultureller Erscheinungen um Provisorien, eben um Hilfskonstruktionen. Diese sind zwar unabdingbar zur Überbrückung des tragischen Grundkonflikts, der aller Kulturbildung zugrunde liegt, aber sie bürden dem Menschen zu viele Verzichtsleistungen auf, die ihm unzumutbar erscheinen. Die PsychoanalysePsychoanalyse etabliert sich als Kulturtheorie, indem sie dieses Unbehagen nicht widerlegt sondern analysiert, und dabei auch ihre neurotischen Symptome ins Blickfeld rückt. In dieser Version wird die andere Seite unserer ZivilisationZivilisation sichtbar, die Gegenstand einer Kulturkritik ist, die ohne utopischen Ausweg auskommt (vgl. die Analysen in den frühen Arbeiten Michel FoucaultsFoucault, Michel → Kap. 8).

Der von FreudFreud, Sigmund nicht beschriebene, aber angedeutete Kulturations- bzw. Zivilisationsprozess hat einen doppelten Aspekt:

 einen technischen (Werkzeuge, Wohnstätten, Zähmung des Feuers),

 einen auf den Menschen bezogenen (Vervollkommnung der menschlichen Organe).

Der Mensch wird zum sich selbst bezähmenden Prothesengott. Die Kulturkritik lässt sich auch so formulieren, „dass der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“34

Kultur bedeutet auf den Ebenen I (Kultur als Insgesamt) und II (Kultur als LebensformLeben, Lebens-, -leben):

 Herstellung von OrdnungOrdnung, ordnungs- (Regelmäßigkeit),

 Herstellung von Reinlichkeit (Hygiene),

 Herstellung von Schönheit.

Damit gehen das Entstehen der Künste, die Organisation des Politischen und die Konditionierung der Menschen (etwa in Familie und SchuleSchule) einher:

 Pflege von künstlerischen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell Leistungen (Kultur III),

 Regelung von sozialen Beziehungen (Schaffung von Gemeinschaft),

 Einschränkung von Freiheit und Individualismus,

 Bearbeitung des Menschen.

Den nachhaltigen Eingriffen in das InnenlebenLeben, Lebens-, -leben der Menschen steht ein Zugewinn an Sicherheit gegenüber, der sekundäre Möglichkeiten eröffnet. Kultur bedeutet ein System von Selbst- und Fremdregulation, von (Selbst-)Beherrschung und HerrschaftHerrschaft. Wenn FreudsFreud, Sigmund Theorie der Kultur als ambivalent bezeichnet wurde, dann wegen ihres unbestechlichen Sinns für eine Unentschiedenheit, die weniger der Person des Autors und seinem Temperament geschuldet ist, sondern vielmehr im untersuchten Phänomen selbst ihren tieferen Grund hat. Es geht nicht um die Abwägung der positiven und der negativen Seiten, sondern darum, dass beide untrennbar miteinander verbunden sind. Von FreudsFreud, Sigmund Schrift aus lässt sich Norbert EliasElias, Norbert‘ an Max WeberWeber, Max geschulte positive ErzählungErzählung(en) der neuzeitlichen ZivilisationZivilisation ebenso nachvollziehen wie Michel FoucaultsFoucault, Michel durch und durch polemische Interpretation (→ Kap. 8).

In seiner Kulturtheorie unterscheidet FreudFreud, Sigmund Formen der Niederhaltung des individuellenindividuell Begehrens:

 Umformung, Kanalisierung, Transformation (z.B. der frühkindlichen Analerotik in soziale Tugenden wie Sparsamkeit, OrdnungssinnOrdnung, ordnungs- und Reinlichkeit),

 Verschiebung (Triebsublimierung durch Wissenschaft, KunstKunst, Kunstwerk und IdeologienIdeologie),

 Triebverzicht, direkte Repression (Unterdrückung und Verdrängung).

Diese Formen der Konditionierung des IndividuumsIndividuum sind unabdingbar für die Produktion der für Kultur konstitutiven Momente: die Umformung für die Herstellung von Hygiene und OrdnungOrdnung, ordnungs-, die Verschiebung und Sublimierung für die Erzeugung des Schönen, die Unterdrückung für die Durchsetzung von Ordnung.

Spätestens an dieser Stelle wird die doppelte Position der PsychoanalysePsychoanalyse deutlich: Sie fungiert im Text als eine exemplarisch vorgeführte Kulturtheorie, aber sie ist zugleich auch ein SymptomSymptom, symptomatisch des Unbehagens an einer Form von Unterdrückung, die die Menschen neurotisch macht. Insofern ist die PsychoanalysePsychoanalyse als Kulturtheorie ein Bestandteil jener, die sie durch ihre radikale Diagnose selbst verändert. Der Sprecher des folgenden Satzes unterscheidet sich deshalb durchaus von dem vorsichtig-skeptisch abwägenden, dem wir über weite Teile des Textes begegnet sind. Über die Kultur seiner ZeitZeit, die HomosexualitätHomosexualität, homosexuell, vorehelichen und außergenitalen GeschlechtsverkehrGeschlecht (Gender), Geschlecht-, ächtet bzw. strafrechtlich verfolgt, urteilt der Text unmissverständlich:

Dabei benimmt sich die Kultur gegen die SexualitätSexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.35

Kultur ist im Hinblick auf die SexualitätSexualität des Menschen herrschaftsförmig: Der Zusammenhang, den FreudFreud, Sigmund herstellt, ist höchst aufschlussreich, vergleicht FreudFreud, Sigmund doch hier die Unterdrückung der Sexualität einerseits mit der Klassenherrschaft und andererseits mit der kolonialen Unterdrückung. Das ist mit Blick auf die Entstehungszeit der Schrift nicht weiter verwunderlich. FreudFreud, Sigmund ist Zeuge heftigster Klassenauseinandersetzungen und Massenaufmärsche. Zugleich aber ist die Welt anno 1929/30 noch vollständig von der englischen und französischen Kolonialherrschaft bestimmt.

Aber dieser Vergleich hat eine weitere Konnotation, die FreudFreud, Sigmund womöglich entgangen sein dürfte. Im interkulturellenInterkulturalität, interkulturell Konflikt und in der kollektiven Phantasie anderer ‚primitiver‘ Kulturen, die man zu ihrem eigenen Vorteil unterdrückt, spielt SexualitätSexualität eine enorme Rolle: Die eigene Kultur wird als zivilisiert empfunden, weil sie Sexualität dadurch zu beherrschen trachtet, dass sich das einzelne Mitglied der Kultur selbst beherrscht. Diese Selbstbeherrschung gilt als Ausweis von Zivilisiertheit, die gegenüber den anderen kolonialisiertenKolonialismus, kolonialisiert Kulturen hervorgehoben wird und die einen normativennormativ Abstand setzt. Diejenigen, die sich und ihre Sexualität nicht beherrschen können, sind nach dieser Selbstinterpretation der ‚höheren‘ Kultur mit Fug und Recht beherrschte Subjekte, eben weil sie sich selbst nicht beherrschen können. Im traditionellen Narrativ von ZivilisationZivilisation und FortschrittFortschritt (→ Kap. 13) spielt der Stolz auf die offiziell demonstrierte (de facto freilich nie durchgehaltene und durchhaltbare) Sexualbeherrschung eine prominente Rolle.

Die andere Kultur wird vornehmlich, abschätzig oder lüstern, als eine solche – positiv wie negativ – imaginiert, die die SexualitätSexualität nicht unter Kontrolle hält und die weniger rational und zivilisiert ist. Während der Mann der primitiven Kultur als sexuellSexuelle, das, sexuell übermächtig imaginiert wird, gilt die fremde wilde Frau als Ausbund der Sinnlichkeit, was sie von der sexuellen Keuschheit der ‚eigenen‘ Frauen abhebt. Solche DiskriminierungenDiskriminierung im doppelten Sinn des Wortes beziehen sich nicht nur auf die außereuropäischen, sondern auch auf die innereuropäischen Kulturen z.B. im slawischen RaumRaum.36 FreudsFreud, Sigmund Haltung gegenüber der Kultur und der Kulturkritik ist ambivalent. Während er die Kultur, eben jenes Unbehagen in der Kultur neutral und distanziert beschrieb, konstatiert er nunmehr – im Gestus des Therapeuten: „Das SexuallebenLeben, Lebens-, -leben der Kulturmenschen […] ist schwer geschädigt[.]“37 FreudFreud, Sigmund benennt die charakteristischen Gebote des Sexuallebens in seiner Epoche:

 Verbot des Inzests,

 geregelte Partnerwahl, Verbot und Einschränkung der Promiskuität,

 Verpönung der kindlichen SexualitätSexualität,

 Tabuisierung der HomosexualitätHomosexualität, homosexuell,

 Verpönung der außergenitalen Befriedigung,

 Monogamie,

 Fokussierung der SexualitätSexualität auf die Reproduktion.

FreudFreud, Sigmund erwähnt hingegen nicht – und das ist einigermaßen erstaunlich und vom FeminismusFeminismus der 1970er Jahre zu Recht kritisiert worden – die Unterdrückung der Frau und ihre Verbannung aus der ‚Kultur‘. Das hat womöglich damit zu tun, dass in FreudsFreud, Sigmund Kulturtheorie nicht nur der avancierte psychoanalytische Diagnostiker, sondern auch der Zeitgenosse mit seinen typischen MentalitätenMentalität(en) und Habitualisierungen zu Wort kommt.

Das zeigt sich nicht zuletzt an seinem BildBild der Familie, die das private Spiegelbild der Kultur darstellt. FreudFreud, Sigmund begreift sie – wie die Kultur selbst – als ein Kompromissprodukt, eine Hilfskonstruktion aus Eros und ananke.

Auf der Ebene der Familie reproduziert und wiederholt sich der krasse Gegensatz, den FreudFreud, Sigmund schon zuvor ganz generell festgemacht hat, jener zwischen dem libidinösen Ich und einer ihm feindlichen Realität, die sich nicht ohne Strafe ignorieren lässt. Im innerfamiliären Drama konkretisiert sich gleichsam der Konflikt zwischen IndividuumIndividuum und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich.

Die Herstellung gemeinschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen impliziert – so die Argumentation FreudsFreud, Sigmund – eine Schwächung der sexuellenSexuelle, das, sexuell Bande zwischen zwei Individuen. Die beiden Ansprüche stehen strukturellStruktur, strukturiert, strukturell im Gegensatz zueinander: hier die ausschließliche Beziehung zweier Menschen, die sich womöglich gegen die Außenwelt abschirmen, dort die Kultur als „Arbeitsgemeinschaft“, die stets eines Dritten bedarf. FreudFreud, Sigmund konstatiert,

dass die sexuelleSexuelle, das, sexuell Liebe ein Verhältnis zwischen zwei Personen ist, bei dem ein Dritter nur überflüssig und störend sein kann, während die Kultur auf Beziehungen unter einer größeren Menschenanzahl ruht.38

FreudFreud, Sigmund, der die dramatische Akzentuierung liebt, geht davon aus, dass die „Kulturgesellschaft“ daher beständig vom Verfall bedroht ist und zwar wegen der MachtMacht des Lustprinzips. Intimität und Liebe erfordern Exklusivität und das heißt auch Konzentration von ZeitZeit und Energie auf sich selbst. Ludwig TieckTieck, Ludwig hat in seiner späten postromantischen Novelle Des LebensLeben, Lebens-, -leben Überfluß (1839) die moderneModerne, modern, -moderne Form der romantischen selbstgenügsamen Liebe mit romantischer IronieIronie kommentiert. Die ErzählungErzählung(en) führt zwei Liebende vor, die buchstäblich nur von ihrer Liebe zehren, sich vollständig abschotten von ihrer Umwelt und am Ende das eigene Stiegenhaus, den einzigen Zugang zur Außenwelt, zu Brennmaterial machen, um nicht in der Kälte des Winters zugrunde zu gehen.39

Die unromantische Familie – so lautet die stoische Schlussfolgerung – stellt einen vernünftigen, wenn auch fragilen Kompromiss dar, insofern nämlich, als sie sowohl der Liebe als auch der Notwendigkeit frönt. Diese KonstruktionKonstrukt, Konstruktion ist nur um den Preis einer traditionellen Rollenaufteilung der Geschlechter möglich. In ihr repräsentiert der Mann den Kulturbringer, der der ananke folgt und zeitweilig der Privatheit der Liebe entrinnt, die Frau ebenjene private Sphäre der Familie und Liebe. FreudFreud, Sigmund entgeht freilich nicht die Brüchigkeit, die aus diesen Rollenzuweisungen erwächst:

Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muß er seine Aufgabe durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem SexuallebenLeben, Lebens-, -leben: das beständige Zusammensein mit Männern, seine Abhängigkeit von den Beziehungen zu ihnen entfremden ihn sogar seinen Aufgaben als Ehemann und Vater. So sieht sich die Frau durch die Ansprüche der Kultur in den Hintergrund gedrängt und tritt zu ihr in ein feindliches Verhältnis.40

Wenn sich heute in den westlichen Kulturen Frauen zunehmend weigern, einseitig diese private Rolle zu übernehmen, so bedeutet dieser kulturelle Wandel keineswegs, dass die von FreudFreud, Sigmund beschriebene Kluft zwischen Liebe, Eros und IndividuumIndividuum auf der einen, GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, Kultur und Ökonomie auf der anderen Seite, dadurch automatisch sistiert ist. Im Gegenteil. Kulturell besehen, lassen sich die unübersehbaren Verfallserscheinungen der Familie nicht nur als eine Folge von FeminismusFeminismus und individualistischem Selbstbestimmungsanspruch, sondern auch als ein Charakteristikum einer vom Ökonomischen bestimmten Kultur begreifen, in der die Familie tendenziell dysfunktional wird, weil sie zuviel Energie abzieht, die der ökonomische Bereich herrisch einfordert, vom Karrieremann ebenso wie von der Karrierefrau. Das Pendant zur ananke der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Kultur ist, wenigstens auf den ersten Blick, das frei verfügbare, nicht familiär gebundene Lebewesen.

Die Kultur ist aber nicht nur vom Übermaß unseres maßlosen Glücksverlangens und der Sehnsucht nach Zweisamkeit bedroht, in der die Libido einen einigermaßen ungestörten Auftritt hat, vielmehr sieht sie sich – so das düstere Finale von FreudsFreud, Sigmund kulturkritischer Schrift – einer weiteren, womöglich noch dramatischeren Gefährdung gegenüber. Bekanntlich hat FreudFreud, Sigmund im Gefolge des Ersten Weltkriegs sein monistisches System durch ein dualistisches System ersetzt, in dem die Libido, das Glücksverlangen, nunmehr einen dramatischen Gegenspieler erhielt: den Aggressions- und Todestrieb. Diese Modifikation der eigenen Auffassungen, wie sie FreudFreud, Sigmund in Jenseits des Lustprinzips vorgenommen hat, muss auch Folgen für eine psychoanalytische Theorie der Kultur haben.

Kultur bedeutet auch eine Besänftigung und Funktionalisierung des neben dem Lustprinzip wichtigsten menschlichen Triebs, der Neigung des Menschen zur Aggression. Die Kultur muss also nicht nur die SexualitätSexualität mit all ihren anarchischen, anti-gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Impulsen, sondern auch die Aggression in Schach halten. Expressis verbis kritisiert FreudFreud, Sigmund den KommunismusKommunismus, weil dieser die Neigung des Menschen zur Aggression negiere. Demgegenüber beharrt die Schrift auf die Unhintergehbarkeit des menschlichen Aggressionstriebs, dessen Anwesenheit in der Kultur für den genauen Beobachter nicht zu übersehen ist. Um die Aggression von der eigenen Kultur abzulenken, stellt es einen weit verbreiteten Mechanismus dar, die innere Aggression nach außen zu richten.

Es gibt Beispiele in Hülle und Fülle, wie Kulturen interne Aggression nach außen verlagern. Historisch bekannt ist das Phänomen des Sündenbocks, das im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts virulent geworden ist: der Sündenbockmechanismus, wie er durch Judenpogrome, im zaristischen Russland und später – in ungleich katastrophalerer Dimension – im nationalsozialistischen Deutschland anzutreffen ist. Als zweites, vergleichsweise harmloses Beispiel nennt FreudFreud, Sigmund den Narzissmus der kleinen Unterschiede, in dem die ethnischeEthnie, ethnisch DifferenzDifferenz gegenüber dem Nachbarn künstlich vergrößert wird. Heute spricht man in diesem Zusammenhang von der Produktion von FremdheitFremdheit und Differenz. Dass dieser Narzissmus nicht zwangsläufig harmlos sein muss (wie in der Differenzproduktion zwischen Deutschen, Österreichern und Schweizern oder auch innerhalb der Deutschen) zeigt das Beispiel der Balkankriege der 1990er Jahre, in denen die ausbrechende Aggression eines jeden gegen jeden mit der Produktion von Differenzen einherging, die zuvor nicht in ihrer Schwere historisch zum Tragen kamen: Differenzen der SpracheSprache wie Differenzen im Religiösen, die in einer vornehmlich laizistischen GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich wie der jugoslawischen lebenspraktisch (Kultur II) ausgeräumt erschienen waren.

Wie FreudFreud, Sigmund scharfsinnig beobachtet, ist die Aggression, die tendenziell selbstzerstörerische und autodestruktive Wirkungen nach sich zieht, im kulturellen Gesamtgefüge imstande, zwischen den Menschen soziale Bande herzustellen. Mittels der umgelenkten Aggression wird es möglich, dass Menschen freiwillig Triebverzicht üben und ihre Libido auf Gemeinschaft und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich hin orientieren und größere Gruppen libidinös miteinander dadurch zu verbinden, dass ein anderer – ein Einzelner, eine Gruppe – vorhanden ist, an dem sich die Gewalt entladen kann. Gruppen werden nicht nur libidinös zusammengehalten, sondern durch eine gemeinsame Aggression gegen den Fremden (vgl. die Figur des Sündenbocks. (→ Kap. 11)

Die Kultur schwächt die Aggression, indem sie sich ihrer bedient. Aber die Mittel, die sie zu diesem Zweck benutzt, sind pragmatisch und – mehr noch – moralisch betrachtet, fragwürdig und unsicher. Der Preis der AmbivalenzAmbivalenz in der FreudFreud, Sigmund’schen Kulturtheorie ist eine gewisse Ratlosigkeit, die im Fall des Aggressionstriebs noch offensichtlicher zutage tritt als bei der SexualitätSexualität. Offenkundig hat die Moral zwar eine FunktionFunktion in diesem kulturellen Geschehen, aber sie ist ein dynamischer Faktor der FreudFreud, Sigmund’schen Kulturtheorie selbst, wie FreudsFreud, Sigmund Behandlung des Gewissens, dessen Existenz er letztendlich und höchst spekulativ aus der Ermordung des Urvaters durch die Urhorde ableitet, anschaulich macht:

Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des IndividuumsIndividuum, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt.41

Diese Instanz ist das vom gestrengen Über-Ich ins IndividuumIndividuum eingepflanzte SchuldbewusstseinSchuldbewusstsein. Wie schon bei der SexualitätSexualität dominieren hier die MetaphernMetapher von Krieg und Unterdrückung. Wie FreudFreud, Sigmund deutlich macht, gelingt es der Kultur niemals vollständig, diese Kontrolle über Lustprinzip und Aggressionslust auszuüben. Zugleich aber wird der immense Preis sichtbar, den die kulturelle Bearbeitung kostet. Das Unbehagen in der Kultur ist so ein unvermeidlicher Aspekt in der Kultur selbst, ihr nichts Äußerliches.

Die Gedankenfigur, die FreudFreud, Sigmund in diesem Text entwickelt, hat durch die globalenGlobalisierung, global Ereignisse der Corona-Pandemie 2020/2021 eine überraschende Aktualität erfahren. Denn die Konflikte, denen sich gerade demokratischeDemokratie, demokratisch Kulturen gegenübersehen, hängen damit zusammen, dass sie, wie von den Bürgerinnen und Bürgern auch erwartet, Sicherheit und Schutz durch entsprechende Maßnahmen herzustellen versuchen, die wiederum die Freiheit der Menschen eklatant, wenn auch im Rahmen bestehender Gesetzgebung einschränken. Dieser Tausch, Sicherheit gegen Einschränkung, wird nicht von allen akzeptiert. Jene, die dagegen protestieren, haben dieses Unbehagen zwar nicht erfunden, machen es aber durch ihre Verweigerung des ‚Deals‘, die in diesem Fall auch eine der ReflexionReflexion ist, manifest. Interessant ist, wie dieses Unbehagen, das etwa zu Anfang von ‚linken‘ Philosophen wie Giorgio Agamben formuliert wurde, in den meisten Ländern ganz weit nach Rechts gewandert ist, wie die sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen sinnfällig gemacht haben. Insofern wirft die Corona-Krise ein scharfes Licht auf unsere modernenModerne, modern, -moderne Kulturen und zugleich auf die Hellsichtigkeit von FreudsFreud, Sigmund ambivalenter Analyse.

Kulturtheorie

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