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4. Der Prozess
ОглавлениеFür die Beurteilung des Prozesses gegen Sokrates ist ein Blick auf das Gerichtswesen in Athen im 5. Jahrhundert sinnvoll. Im demokratischen Athen wurde die Rechtsprechung vom Volk ausgeübt, lediglich Mordfälle blieben dem Areopag vorbehalten. Zu erwähnen ist jedoch, dass es neben den förmlichen Gerichtsverfahren eine besondere Institution gab, um missliebige Personen zu ächten, den Ostrakismos. Hierbei handelte es sich um eine Art präventive Strafe, die vor allem die Rückkehr der Tyrannis verhindern sollte. Sinn dieses sogenannten Scherbengerichts war eine Zwangsexilierung, bei der der Verbannte unter Wahrung seines Eigentums auf zehn Jahre Attika verlassen musste. Für die Durchführung wurden im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung der Volksversammlung (Ekklesia) von den Mitgliedern der Name des zu Ostrakisierenden auf eine Tonscherbe geritzt. Der am häufigsten Genannte galt als ostrakisiert. Voraussetzung war jedoch, dass mindestens 6000 beschriftete Tonscherben abgegeben worden waren. Gelegentlich wurde ein auf diese Weise Verbannter jedoch vorzeitig zurückberufen, oder es wurde eine Amnestie für alle Ostrakisierten ausgesprochen.
Zum Verständnis des Gerichtswesens ist es von Bedeutung, dass es in Athen keine Staatsanwaltschaft gab. Die Justiz ergriff nicht von sich aus die Initiative bei Prozessen. In allen privatrechtlichen Fällen (‚dikai‘) konnte nur der Geschädigte – oder im Fall von Minderjährigen, Frauen, Metöken und Sklaven sein Rechtsvertreter – den Prozess anstrengen. Dabei wurde er gelegentlich unterstützt von einem Rechtsbeistand. In Prozessen von öffentlichem Interesse konnte dagegen jeder Bürger als Mitglied der Gemeinschaft, die geschädigt worden war, die Klage einreichen. Diese Möglichkeit begünstigte die Denunziation und die Aktivität von Sykophanten, gewinnsüchtigen, verleumderischen Anklägern. Hinzu kam, dass bei materieller Schädigung des Staates, z.B. bei Missachtung der Handels-, Zoll- oder Bergbaugesetze, der Kläger im Falle eines Schuldspruchs drei Viertel der auferlegten Geldbuße erhielt; im 4. Jahrhundert wurde die Summe auf zwei Viertel reduziert. Zur Eindämmung des Sykophantentums wurden bei privaten Rechtsangelegenheiten beide Parteien, bei öffentlichen nur der Ankläger zur Zahlung einer Kaution von 1000 Drachmen verpflichtet. Wer seine Klage zurückzog oder beim Urteil nicht wenigstens ein Fünftel der Stimmen erhielt, verlor diese Kaution.
Der Rechtsstreit (‚agon‘) wurde zwischen den Parteien ausgetragen. Der Untersuchungsbeamte war zuständig für die Entgegennahme der eingereichten Klageschrift, die Sammlung der Beweisstücke und Zeugenaussagen und den Vorsitz bei der Verhandlung. Die Geschworenenversammlung hörte sich in der Regel schweigend – gelegentlich jedoch unter Äußerung von Unmut – Klage und Verteidigung an und entschied dann ohne weitere Aussprache durch Stimmabgabe. Der Rang der Untersuchungsbeamten unterschied sich je nach der Art des Falls: In Kult- und Mordprozessen war es der ‚archon basileus‘, so auch im Prozess gegen Sokrates, in privatrechtlichen Angelegenheiten der ‚archon epònymos‘, in Fällen, in die Metöken, das heißt in Athen lebende, aber nicht dort geborene Nichtbürger, und Freunde verwickelt waren, der ‚archon polemarchos‘. Für Streitsachen, in denen materielle Interessen der Stadt auf dem Spiel standen, waren Thesmotheten zuständig. Die öffentliche Gewalt lag in den Händen einer Art Polizeitruppe. Deren Vorsteher waren die sogenannten Elfmänner oder Gefangenenbewacher. Ihre Aufgabe bestand darin, Verbrecher auf frischer Tat festzunehmen, geständige Mörder auf der Stelle hinzurichten, andernfalls sie vor Gericht zu bringen. Ihnen unterstanden auch das Gefängniswesen und die Hinrichtung. – Ein Diener der Elfmänner überbrachte Sokrates den Schirlingsbecher.
Für Kapitalverbrechen war der Areopag zuständig, der im perikleischen Zeitalter zwar an Bedeutung verlor, aber weiterhin zuständig war für Fälle von Mord, schwerer Körperverletzung, Brandstiftung oder Vergiftung. Die von ihm verhängten Strafen waren, je nach Schwere des Falls, Hinrichtung, Verbannung, Konfiskation des Eigentums. Die dem Areopag angehörenden 51 Kriminalrichter verteilten sich auf drei Gerichtshöfe. Das Palladion behandelte Fälle unfreiwilliger Tötung oder Anstiftung zum Mord, das Delphinion war zuständig für Fälle, in denen der ‚archon basileus‘ die Tötung für entschuldbar oder rechtmäßig erklärt hatte, und der Phreattys bei Angeklagten, die bereits früher wegen Totschlags zur Verbannung verurteilt worden waren und das Land nicht betreten durften. In diesen Fällen tagte das Gericht am Strand, während der Angeklagte vom Schiff aus sich verteidigen musste. Aus alter Zeit stammte schließlich ein Gerichtshof des Areopag, bei dem in Abwesenheit eines unbekannten Mörders verhandelt wurde, aber auch über Tiere, Gegenstände aus Stein, Eisen oder Holz, die den Tod eines Menschen verursacht hatten. Nach dem Urteil wurde der Ort gereinigt, indem die betreffenden Tiere oder Gegenstände von dort entfernt wurden.
Während der Areopag an Bedeutung verlor, gewann die Rechtssprechung durch das Volk, die ‚Heliaia‘, eine immer größere Bedeutung. Ihr Zuständigkeitsbereich war – abgesehen von Mordfällen – umfassend. Ergänzend ist zu erwähnen, dass viele Taten des öffentlichen Lebens von der 500 Ratsmitglieder umfassenden ‚Bule‘ geahndet und einige Prozesse von starkem öffentlichen Interesse auch von der aus 6000 Mitgliedern bestehenden Vollversammlung des Volks, der ‚Ekklesia‘, so z.B. der Arginusenprozess, durchgeführt wurden.
In jedem Jahr nahmen die neun Archonten die Auslosung von 600 Namen aus jeder der zehn Phylen vor. Die Gesamtzahl der Mitglieder der Heliaia betrug also wie die der Ekklesia 6000. Doch wurden zur Vereinfachung und Steigerung der Effektivität Geschworenenausschüsse gebildet, die gleichzeitig tagen konnten. Ihre Zahl umfasste in der Regel 501 Mitglieder, konnte aber auch 1001, 1501 oder 2001 Männer umfassen. – Im Sokrates-Prozess waren es 501.
Besondere Sorgfalt wurde auf die Zusammensetzung des für ein Verfahren zuständigen Geschworenengerichts gelegt. Um zu verhindern, dass eine der streitenden Parteien im Voraus die Namen der Geschworenen erfuhr, wurden strenge Sicherheitsmaßnahmen ergriffen und ein kompliziertes Losverfahren entwickelt. Zu diesem Zweck wurden auch Losmaschinen, sogenannte Kleroteria, eingesetzt. Das Bemühen um Neutralität der Richter mag an dem Amtseid abgelesen werden, den jeder Heliast abzulegen hatte:
„Ich werde mein Urteil fällen in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Beschlüssen der Volksversammlung wie auch des Rates. In den vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Fällen werde ich die gerechteste Lösung annehmen, ohne mich von Gunst oder Feindschaft leiten zu lassen. Ich werde mein Urteil allein in Erwägung der dem Gericht vorgelegten Fragen fällen. Mit gleicher Aufmerksamkeit werde ich beide Parteien anhören. Das Schwöre ich bei Zeus, bei Apollon und Demeter. Mein Leben sei glücklich, wenn ich meinem Eide treu bin; breche ich ihn, Fluch über mich und meine Familie!“ (Flacelière 1979, 329f.).
Fehlurteile lassen sich bei einem Geschworenengericht, das aus zufällig zusammengebrachten Laien bestand, nicht vermeiden; ein Bemühen um ein Höchstmaß an Verfahrensgerechtigkeit ist jedoch unübersehbar. Der Verfahrensgerechtigkeit diente auch der Einsatz der Klepshydra, einer Wasseruhr, die es ermöglichte, beiden Parteien dieselbe Redezeit zuzuweisen.
Die Heliasten nahmen vor Prozesseröffnung auf den mit Schilfmatten bedeckten Holzbänken teil. Der vorsitzende Beamte saß am Ende des Saals auf einem erhöhten Richterstuhl, flankiert von dem Gerichtsschreiber, einem Herold der Gemeinde und den skythischen Bogenschützen, die die äußere Ordnung sichern sollten. Vor ihm befand sich die Rednertribüne für die Plädoyers, ebenso ein Tisch zum Zählen der Stimmsteine. Die Zuhörerschaft befand sich, sofern sie nicht ausgeschlossen war, in der Nähe des Eingangs, von den Geschworenen durch eine Schranke getrennt.
Der Gerichtsschreiber verlas zu Beginn des Prozesses die eingereichte Anklageschrift und die schriftliche Antwort der Verteidigung. Anschließend erhielten der Kläger und der Verteidiger das Wort. Jeder Bürger, der in einen Prozess verwickelt war, musste für sich selbst sprechen. Fühlte er sich dazu nicht in der Lage, beantragte er einen Logographen, einen Redenschreiber, mit der Ausarbeitung einer Gerichtsrede, eine Aufgabe, die auch von Sophisten gern übernommen wurde. Diese Rede lernte der Prozessbeteiligte auswendig. Gelegentlich ließ er sich jedoch durch einen redegewandten Freund, der nicht Berufsanwalt war, einen ‚Synegoros‘, vertreten. Minderjährige, Frauen, Metöken und Sklaven wurden von ihrem Vater, ihrem Gatten oder ihrem gesetzlichen Vormund vertreten.
Wurde der Angeklagte mit der Mehrheit der Stimmen für schuldig gesprochen, wurde entweder die im Gesetz bereits vorgesehene Strafe ausgesprochen oder erneut über das Strafmaß abgestimmt, wie es bei Sokrates der Fall war. Dann durfte der Angeklagte einen Vorschlag über die Höhe des Strafmaßes machen.
Für die Zeugenvernehmung galt bei Sklaven eine besondere Regel. Sie wurde bemerkenswerterweise nur dann als gültig angesehen, wenn sie durch Folter zustande gekommen war. Mittel der Folter waren Peitsche, Streckbank, Schraubstock oder Rad.
Bei der Festsetzung der Strafen spielte nicht nur die Schwere des Falls eine Rolle, sondern auch der gesellschaftliche Rang des Angeklagten. Geldstrafen waren einfache Bußzahlung, Schadenersatz und die teilweise oder vollständige Einziehung der Güter. Leibesstrafen umfassten Verbannung auf Zeit oder für immer, Aberkennung der Bürgerrechte und Einkerkerung, diese jedoch nur für Nichtbürger. – Sokrates’ Kerkerhaft war deshalb nicht als Strafe zu verstehen, sondern war öffentlicher Gewahrsam zur Überbrückung der Zeit bis zur Hinrichtung. – Den Sklaven vorbehalten waren Geißelung in Verbindung mit dem Rad, die Brandmarkung durch ein glühendes Eisen, das Einspannen in einen Block.
Bei der Todesstrafe gab es mehrere Varianten. Eine gängige Version bestand darin, die Verurteilten mit Halseisen und Eisenklammern an Füßen und Händen an einem Brett zu fixieren und sie dort aufrecht stehend eines langsamen, qualvollen Todes sterben zu lassen. Daneben kam es vor, dass der Verurteilte zu Tode geprügelt oder vom Barathron, einem als Steinbruch genutzten Abhang westlich der Akropolis, in die Tiefe gestürzt wurde. Diese Strafe wie auch die seltener bezeugte Steinigung war Gotteslästerern oder Verrätern vorbehalten. Der Schirlingsbecher ist demgegenüber als eine privilegierte Form der Hinrichtung anzusehen.
Von diesen Rahmenbedingungen aus lässt sich der Prozess gegen Sokrates genauer beurteilen. Es handelt sich um einen Prozess im öffentlichen Interesse, um einen Strafprozess, der von einem Geschworenenausschuss der Heliaia verhandelt wurde. Die Anklage war von drei Personen eingereicht worden: Meletos, Anytos und Lykon, über den sonst nicht viel bekannt ist. Meletos, der in Platons Apologie die Anklage vorträgt, wird zugleich als Vertreter der Interessen der Dichter erwähnt, Anytos dagegen, der Mann im Hintergrund, der möglicherweise als der einflussreichere anzusehen ist, galt als Vertreter der Handwerker und Lykon als Vertreter der Redner und Politiker. Meletos wird die Dichtung von Tragödien zugeschrieben. Wichtiger aber ist vielleicht, dass er unter der Herrschaft der Dreißig neben Sokrates einer der fünf Männer war, die Leon von Salamis verhaften sollten, und den Auftrag auch ausführte, während Sokrates sich nicht daran beteiligte.
Anytos war Besitzer einer Gerberei und politisch einflussreich. Im Dialog Menon tritt er als Gesprächspartner von Sokrates auf. Zur Diskussion steht hier das Problem, Lehrer der politischen Tüchtigkeit (Tugend) für die heranwachsende Jugend zu finden. Sokrates’ Vorschlag, dafür diejenigen zu engagieren, die als Lehrer politischer Tüchtigkeit auftreten, die Sophisten, wird von Anytos empört zurückgewiesen. Nachdem aber Sokrates deutlich gemacht hat, dass keiner der tüchtigen Politiker der Stadt in der Lage war, seinen eigenen Sohn entsprechend zu erziehen, stößt Anytos die Drohung aus:
„O Sokrates, du scheinst mir sehr leichthin schlecht von den Menschen zu reden. Ich nun möchte dir wohl raten, wenn du mir folgen willst, dich vorzusehen. Denn auch anderwärts mag es leichter sein, jemandem Böses anzutun als Gutes, hier in dieser Stadt ist es gar vorzüglich leicht. Und ich denke, daß du das auch selbst weißt“ (Platon: Menon 94 e).
Diese von Platon Anytos ex eventu in den Mund gelegte Äußerung soll verdeutlichen, in welcher Weise Sokrates bereits vorher Anfeindungen ausgesetzt war und wie diese Teil des Prozesses wurden. Da Anytos tatsächlich einer der Ankläger war, darf ein historischer Kern vermutet werden. Die Anklage gegen Sokrates ist in mehreren Fassungen überliefert: Platon, der ja am Prozess teilgenommen hatte, formulierte sie so: „Sokrates, (…) frevle, indem er die Jugend verderbe und die Götter, welche der Staat annimmt, nicht annehme, sondern anderes neues Daimonisches“ (Platon: Apologie 24b/c). Bei Xenophon hat die Klage den Wortlaut: „Sokrates tut Unrecht, denn er erkennt die Götter nicht an, welche der Staat anerkennt, und er führt dagegen andere neuartige göttliche Wesen ein; und er tut außerdem Unrecht, denn er verführt die jungen Menschen zum Schlechten“ (Xenophon 1987, 7). Die bei Diogenes Laertios zitierte Formulierung geht auf Favorinus zurück und wird als eine von Platon unabhängige Quelle angesehen:
„Diese Anklage verfaßte und reichte unter Eid ein Meletos, des Meletos Sohn aus dem Demos Pitthos, gegen Sokrates, des Sophroniskos Sohn aus dem Demos Alopeke: Sokrates versündigt sich durch Ableugnung der vom Staate anerkannten Götter sowie durch Einführung neuer göttlicher Wesen; auch vergeht er sich an der Jugend, indem er sie verführt. Der Antrag geht auf Todesstrafe“ (Diogenes Laertios 1967 II, 93).
Der Inhalt der Klage stimmt in den drei Versionen weitgehend überein. Die beiden Anklagepunkte dürfen als historisch zuverlässig angesehen werden.
Schwieriger ist es, sie in ihrer historischen Bedeutung zu erfassen. Gigon hat geltend gemacht, dass gerade das Formelhafte der Anklage Misstrauen erwecken muss. Seiner Meinung nach handelt es sich nicht um eine auf die Person Sokrates hin formulierte Klage, sondern um zwei im attischen Gesetz schon gegebene kriminelle Tatbestände. Das ist freilich eine von Gigon geäußerte Vermutung, für die er keinen weiteren Beleg angibt. Sicherlich ist es richtig, dass der Vorwurf der Asebie und der Verführung der Jugend als kriminelle Tatbestände bereits zuvor existierte, aber zumindest der Hinweis auf die Einführung neuer dämonischer Wesen ist speziell auf Sokrates zugespitzt. Im Übrigen stimmen die Anklagepunkte inhaltlich mit den Vorwürfen überein, die Aristophanes ein Viertel Jahrhundert zuvor bereits formuliert hatte.
Die Frage, welches Motiv die Vertreter der gerade wiederhergestellten Demokratie hatten, gegen Sokrates vorzugehen, ist nicht einfach zu beantworten. Nimmt man politische Motive an, so ist als erstes zu erwähnen, dass Sokrates in Verbindung gebracht wurde mit Kritias und Alkibiades, zwei politisch höchst umstrittenen Gestalten. Die Tatsache, dass diese sich schon sehr bald von Sokrates lossagten, ist dagegen nicht zur Kenntnis genommen worden. Gegenüber den Anhängern der Dreißig war ohnehin eine Amnestie erlassen worden, und die unterstellte Freundschaft mit einem von ihnen hätte jedenfalls offiziell nicht gewichtet werden dürfen. Im Übrigen war Sokrates’ engster Schüler Chairephon ein erklärter Anhänger der Demokratie, und Sokrates weist in seiner Apologie auch ausdrücklich darauf hin.
Bleibt der Vorwurf der Asebie. Dieser war bereits gegen Anaxagoras und Protagoras erhoben worden. Der gegen Anaxagoras erhobene Vorwurf wird – wie Platon darstellt – unkritisch auf Sokrates übertragen und ergänzt um den Hinweis auf das von Sokrates in Anspruch genommene Daimonion. Während aber das Daimonion – wie Xenophon überzeugend darlegt – nicht aus dem Rahmen der damals üblichen Mantik herausfällt, ist der Hinweis auf die Lehre des Anaxagoras zu prüfen. Zweifellos hat Sokrates, wie Aristophanes und Platon im Phaidon erwähnt, sich in seiner Jugend mit Anaxagoras’ Naturphilosophie befasst. Aber das liegt zum Zeitpunkt des Prozesses Jahrzehnte zurück. Sein ausschließliches Interesse in späteren Jahren galt Fragen der Ethik und Politik, das heißt der „menschlichen Dinge“.
Zu fragen ist also nach dem politischen Verständnis von Sokrates. In diesem Zusammenhang ist auf zwei Dinge hinzuweisen, die nicht mit dem Politikverständnis seiner Zeit übereinstimmten: Zum ersten hielt er das gerade in der Demokratie praktizierte Verfahren der Vergabe von politischen Ämtern durch Los für falsch, worauf Xenophon und Aristoteles direkt, Platon indirekt, aber nicht weniger deutlich, hinweisen. Offensichtlich vertrat Sokrates die Auffassung, dass die Politik als Beruf eine ähnliche Qualifikation notwendig mache, wie sie in jedem anderen technischen Beruf selbstverständlich war. Zum anderen – und mit dem ersten Punkt aufs engste verbunden – sah er hinsichtlich der Frage der Qualifizierung für den Beruf des Politikers kein überzeugendes Modell. Unbestreitbar war für ihn nur, dass die größten Politiker ihrer Zeit in der Erziehung ihrer Söhne in dieser Hinsicht völlig versagten. Diese Situation provozierte bei ihm die immer wieder gestellte Frage der Lehrbarkeit der politischen Tüchtigkeit (Tugend). In dem zitierten Vorwurf des Anytos aus dem Dialog Menon steckt daher vielleicht der ernstzunehmende, zutreffende historische Kern der Anklage. Sokrates trifft den neuralgischen Punkt der sich neu formierenden Demokratie, wenn er nicht nur die formalisierten Wahlmechanismen in Frage stellt, sondern die pädagogisch-politische Ausbildung der Jugend seiner Zeit kritisiert.
Von all dem ist jedoch in der Apologie Platons nicht die Rede. Das ist verständlich, denn diese Fragen waren nicht Gegenstand des Prozesses, sondern ihr mögliches Motiv. In Platons Apologie verteidigt sich Sokrates in Form materieller und logischer Widerlegungen gegen die Anklage. Zunächst weist er darauf hin, dass er sich im Prozess nicht nur gegen die drei genannten Ankläger zu verteidigen habe, sondern mehr noch gegen die in langer Zeit gegen ihn gerichtete öffentliche Meinung. Dabei hat das Bild, das Aristophanes von ihm entworfen hat, eine wichtige Rolle gespielt. Den Vorwurf der Asebie im Sinne der Naturphilosophie von Anaxagoras weist er als unzutreffend zurück. Sie beruhe auf einer Konfundierung seiner Lehre mit der des Anaxagoras.
Im Übrigen gelingt es ihm, Meletos, den Hauptankläger, in ein Gespräch zu verwickeln. Das ist zwar nicht der übliche Verfahrensablauf, aber, wie Platon betont, prinzipiell möglich. Der Angeklagte darf den Kläger befragen, und dieser muss antworten. Diese Chance nutzt Sokrates selbstverständlich. Er veranlasst Meletos zu der Aussage, dass er nicht nur die vom Staat verehrten Götter leugnet, sondern generell die Existenz von Göttern. Das geht über den Wortlaut der Anklage hinaus und macht es Sokrates leicht, ihn eines Widerspruchs zu überführen. Denn wenn er angeblich generell die Existenz von Göttern leugnet, kann ihm nicht die Einführung neuer göttlicher Wesen vorgeworfen werden.
Ebenfalls bedeutsam ist seine Widerlegung des zweiten Anklagepunkts. Auch hier verwickelt er Meletos in ein Gespräch. Er fragt: Wer macht denn die Jugend besser? Und Meletos antwortet: Alle anderen Athener. Auch diese Antwort ist unklug. Denn dagegen spricht die Lebenserfahrung. Schon die Analogie mit der Pferdedressur zeigt deutlich: Es sind immer nur einige wenige, die die Erziehung beherrschen, während die vielen unfähig sind. Schließlich die Frage, ob Meletos der Meinung sei, dass er die Jugend absichtlich verderbe oder unabsichtlich. Meletos ist sich darüber im Klaren, dass ein unabsichtliches Verderben nicht geahndet werden kann, und entscheidet sich daher für das Wort „absichtlich“. Doch das – so Sokrates – ist ganz unsinnig, denn der Lehrer wäre das erste Opfer der von ihm verdorbenen Jugend. Schließlich aber argumentiert er nicht nur mit Beweisen der Logik und der Wahrscheinlichkeit. Er fordert Meletos vielmehr auf, unter den Schülern, Bekannten und Freunden von Sokrates Zeugen zu benennen, die behaupten, durch ihn geschädigt und verdorben worden zu sein. Das kann Meletos nicht.
Die Möglichkeit, der Strafe durch das Versprechen zu entgehen, nicht mehr zu philosophieren, nennt Sokrates selbst, um sie wie folgt zu verwerfen: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gott mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen“, das heißt zu philosophieren (Platon: Apologie 29 d). Damit wird die Chance eines positiven Ausgangs des Prozesses erheblich beeinträchtigt. Er stellt sein Auftreten als eine Notwendigkeit dar, die nicht sein eigenes Wohl, sondern das der Stadt zum Ziel hat. Seine Verdienste um die Stadt erwähnt er am Beispiel seines Verhaltens im Arginusenprozess und der Verhaftung des Leon von Salamis. Beide Fälle dienen ihm als Beleg seiner Gesetzestreue. Schließlich weist er darauf hin, dass er die Richter nicht – wie sonst üblich – durch Appelle an ihr Mitleid beeinflussen möchte; denn die Aufgabe der Richter ist es nicht, „das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen.“
Sokrates tritt in Platons Apologie als ein Mann auf, der mit Argumenten die Unhaltbarkeit der Anklage nachzuweisen sucht, der sehr wohl weiß, dass Prozessentscheidungen mehr durch Stimmungen als durch Argumente beeinflusst werden, und der trotzdem aus der Einsicht in die Notwendigkeit seiner Lebensweise nicht versucht, für sich eine günstige Stimmung zu erzeugen. Er macht deutlich, dass für ihn das bloße Leben nicht das höchste Ziel ist, sondern nur ein Leben in Übereinstimmung mit den als richtig erkannten Einsichten (vgl. Arendt 2016, 54). Die Vermutung ist nicht abwegig, dass ihm dieses Verhalten als Arroganz ausgelegt wurde. Auf jeden Fall sprach ihn die Mehrheit der Geschworenen für schuldig. Sokrates bemerkt zu der Abstimmung: „wenn nur dreißig Stimmen anders gefallen wären, so wäre ich entkommen“ (Platon: Apo logie 36 a). Daraus ergibt sich bei der Annahme von 501 Geschworenen, dass 280 gegen und 221 für Sokrates stimmten. Bemerkenswert ist ebenfalls Sokrates’ Hinweis, dass Meletos allein nicht die notwendige Stimmenzahl zusammenbekommen hätte, hätten sich nicht Anytos und Lykon der Klage angeschlossen. In diesem Fall hätte Meletos das Bußgeld von 1000 Drachmen entrichten müssen.
Nach der bei Diogenes Laertios überlieferten Klageschrift enthielt diese bereits einen Antrag auf Todesstrafe. Platon berichtet demgegenüber, dass Sokrates Gelegenheit gegeben wurde, einen eigenen Vorschlag über die Höhe der Strafe zu machen. Das muss sich nicht widersprechen. Diese Möglichkeit sah jedenfalls prinzipiell die Prozessordnung vor. Das, was Sokrates glaubt, verdient zu haben, muss die Richter aufs höchste provozieren. Er beantragt lebenslange Speisung im Prytaneion, eine Vergünstigung, die sonst den Siegern bei den olympischen Spielen zuteil wurde. Das ist freilich keine Strafe, sondern eine Ehrbezeugung.
Welche Strafe käme aber in Frage? Kerkerhaft, Geldstrafe oder Exil? Kerkerhaft und Exil scheiden für ihn als unakzeptabel aus; bleibt die Geldstrafe. Doch die ist bei seinen Vermögensverhältnissen unrealistisch. Aber seine Freunde Platon, Kriton, Kritobulos und Apollodoros wollen für ihn zahlen, und so bietet er 30 Minen an, das sind nach der damals gängigen Umrechnung 3000 Drachmen.
Den Wert dieser Summe mit der Kaufkraft einer der zu dieser Zeit gängigen Währungen in Beziehung zu setzen, ist außerordentlich schwierig. Aufschlussreich wäre es, wenn sie zu der damaligen Kaufkraft in ein Verhältnis gebracht werden könnten. Dafür bietet der Text tatsächlich einen Anhaltspunkt. Sokrates sagt, dass das Buch von Anaxagoras eine Drachme kostet. Und an anderer Stelle erwähnt er, dass er sich nur eine Unterrichtseinheit von einer Drachme bei Prodikos leisten konnte, nicht aber den Gesamtkurs von 50 Drachmen. Außerdem ist bekannt, dass die attische Drachme einen Gegenwert von 3,46 Gramm Silber hatte (Flacelière 1979, 167).
Schließlich wird Sokrates mit noch größerer Mehrheit als bei der ersten Abstimmung zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte jedoch nicht sogleich, da, einem alten kultischen Brauch folgend, ein Schiff mit einer Festgesandtschaft nach Delos abgefahren war und bis zu seiner Rückkehr alle Hinrichtungen ausgesetzt wurden. Auf diese Weise blieb Sokrates ungefähr einen Monat im Gefängnis. Die Freunde, die ihn besuchten, bereiteten in dieser Zeit seine Flucht vor und suchten für ihn einen neuen Aufenthaltsort in Thessalien. Sokrates lehnte die Flucht ab, aus Gesetzestreue und weil ein Leben im Exil für ihn, der sein ganzes Leben in Athen verbracht hatte, keine akzeptable Alternative darstellte. Die Frage der Flucht hat Platon in seinem Dialog Kriton behandelt.
Seinen letzten Lebenstag verbrachte Sokrates zusammen mit seinen Freunden im Gefängnis, wie üblich im Gespräch. Themen waren, wie Platon im Dialog Phaidon erläutert oder suggeriert, Tod und Unsterblichkeit der Seele. Seine Frau mit seinen Kindern, die ebenfalls zugegen waren, schickte er, nachdem sie bereits Wehklage über seinen bevorstehenden Tod erhoben, nach Hause; ein Sachverhalt, der in der Darstellung Platons weder Kritik an Sokrates noch an Xanthippe enthält. Das Zusammensein mit den Freunden war für Sokrates – wie für viele seiner Zeitgenossen – wichtiger als das mit seiner Frau.
Sokrates badete, bevor er das Gift trank, um den Leichenwäscherinnen weniger Arbeit zu machen; er leerte anschließend völlig gefasst den Schierlingsbecher, ging, wie ihm geraten, auf und ab, bis ihm die Beine schwer wurden, legte sich schließlich auf die Pritsche und zog das Tuch über sich.
Viel ist über seine letzten Worte gerätselt worden: „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht“ (Platon: Phaidon 118 a). Asklepios, Sohn des Apollon, war der Gott der Heilkunst. Das ihm – wie übrigens bereits Apoll – zugeordnete Tier war der Hahn. Die gängige Interpretation der sokratischen Aussage besteht darin, dass Sokrates den Tod als Heilung, Reinigung und Befreiung der Seele von den Beschwernissen des Körpers verstanden habe und für diese Heilung ein Opfer darbringen wollte. Diese Interpretation gehört jedoch sehr stark in das Konzept der Seele, wie es Platon in seinen mittleren Dialogen, auch im Phaidon, entwickelte; sie darf daher nicht ohne weiteres dem historischen Sokrates zugeschrieben werden.
Zu beachten ist, dass die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die den Hintergrund dieser Aussage bildet, in den frühen Sokratischen Dialogen Platons nicht anzutreffen ist. In der Apologie vertritt Sokrates hinsichtlich der Frage des Schicksals der Seele nach dem Tod eine agnostische Einstellung. Der Tod ist für ihn entweder wie ein langer traumloser Schlaf, der, verglichen mit dem sonst durch Träumen beunruhigten, „ein wunderbarer Gewinn“ (40 d) ist, oder es gibt ein Totengericht, den Hades, und die Möglichkeit des Gesprächs mit den Heroen der Vorzeit. Auch davor braucht sich ein rechtschaffener Mann nicht zu fürchten. Im Gegenteil: „Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn das wahr ist“ (41 a). Das bedeutet: Welche der beiden Vermutungen über den Tod auch zutrifft, wahr ist, „daß es für den guten Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode“ (41 d). Der Gedanke der Seele im Hades, der in Anknüpfung an alte homerische Bilder wenig mit dem Modell des Leibes als Kerkers der Seele zu tun hat, ist selbst nur eine von zwei gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten. Von einem Beweis der Unsterblichkeit der Seele ist Sokrates weit entfernt.