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Einleitung

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Sokrates: Deine Sorge um mich, du lieber Kriton, ist viel wert, wenn sie nur irgend mit dem Richtigen bestehen könnte (…). Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satze (logos), der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt.

(Platon: Kriton. 46 b)

Sokrates ist für die Philosophiegeschichtsschreibung ein strittiges Thema. Da er nichts Schriftliches hinterlassen hat, sind wir auf die Quellen angewiesen, die über ihn berichten. Doch deren Zeugnis ist nicht einheitlich. Noch 1979 bekräftigt Olof Gigon seine erstmals 1947 geäußerte These, „dass die Frage nach Persönlichkeit und Werk des geschichtlichen Sokrates praktisch unbeantwortbar ist“ (Gigon 1994, 16). Wäre dies das letzte Wort, ergäbe sich die paradoxe Situation, dass einer Gestalt der Philosophiegeschichte eine nahezu unbestrittene zentrale Stellung eingeräumt wird, deren Persönlichkeit und Denken unbekannt ist. Aber so aussichtslos wie Gigon die Lösung des Problems hinstellt, ist das Bemühen um den historischen Sokrates nicht. Das zeigen die Arbeiten von W.K.C. Guthrie (Guthrie 1971) und G. Vlastos (Vlastos 1991).

Wichtig erscheint es, sich über Charakter und Leistung philosophiegeschichtlicher Forschung zu verständigen. Ihr Zentrum bildet die Quellensammlung und -kritik. Dabei ist darauf zu achten, dass alle aussagehaltigen Quellen gesammelt, geprüft und verglichen werden. Differenzen und Gemeinsamkeiten sind gegeneinander abzuwägen, um auf diese Weise ein Bild zu erstellen, das ein der Qualität der Quellen entsprechendes Höchstmaß an historischer Wahrscheinlichkeit enthält. Gigons Misstrauen gegenüber den Quellen gründet sich darauf, dass ihre Autoren keine Historiker waren und daher auch kein historisches Bild liefern wollten. Doch diese These ist in mehrfacher Hinsicht korrekturbedürftig. Zum einen war auch im Verständnis seiner Zeit einer dieser Autoren ein Historiker, nämlich Xenophon, ohne dass daraus dessen besondere historische Zuverlässigkeit gefolgert werden dürfte; zum anderen ist es nicht zulässig, Aussagen von Dichtern und Philosophen von vornherein als philosophiegeschichtliche Quellen auszuklammern. Weder ist das Werk von Xenophon eine wertfreie Abbildung historischer Fakten – das behauptet selbst Gigon nicht – noch sind die Sokrates-Darstellungen von Aristophanes, Platon und Aristoteles pure Erfindungen. Es handelt sich bei ihren Darstellungen um Interpretationen, das heißt um Aussagen über Sokrates, in denen auf dem Hintergrund ihrer Überzeugungen und ihrer eigenen Sprache das Bild einer ihnen bekannten Person entworfen wird. So lassen sich die Sokrates-Aussagen der genannten Autoren vergleichen. Das Bild, das sich bei diesem komparativen Verfahren ergibt, ist konsistenter als Gigon annimmt.

Bei dem Versuch der historischen Annäherung empfiehlt es sich, eine weitere Möglichkeit zu nutzen. Sie besteht darin, die thematisierte Person in einem größeren geschichtlichen Kontext zu interpretieren. Das sokratische Philosophieren ist als ein vermittelter Neuanfang innerhalb einer geschichtlichen Strömung zu verstehen, die als der Weg ‚Vom Mythos zum Logos‘ (vgl. Nestle 1975) beschrieben werden kann, d.h. als der Übergang von einem Weltverständnis, das sich in Göttergeschichten ausspricht, zu einem, das sich an der Vernunft orientiert. Die Bedeutung dieses Übergangs kann gar nicht überschätzt werden. Er markiert nicht weniger als die Entstehung der Philosophie, der Wissenschaften und einer vernunftorientierten Ethik. Mit ihm wird der Grundstein für das zunächst in Europa und heute global verbreitete Weltverständnis gelegt.

Prägnant wird das Verhältnis von Mythos und Logos bereits im platonischen Dialog Protagoras (320 c) dargestellt. Der Prozess der Differenzierung dieser Interpretationen der Welt hat seinen Ursprung im Mythos selbst, bei Homer, Hesiod und Solon. Er bekommt bei den Vorsokratikern eine neue sachliche Wende und setzt sich über Sokrates hinaus bei Platon, Aristoteles und der weiteren Philosophiegeschichte fort. Innerhalb dieser Geschichte nimmt Sokrates eine einzigartige Stellung ein. Philosophie ist für ihn die Suche nach dem „besten Logos“ (Platon: Kriton 46 b). Dieser ist zu verstehen als ein vernünftiger Satz. Das Entscheidende jedoch ist, dass diese Suche bei ihm über den Umweg des Dialogs erfolgt. Die von ihm praktizierte Methode folgt dem Konzept einer dialogischen Vernunft. – Das ist die These dieses Buchs. Friedländer formuliert diesen Gedanken in seinem Werk Platon so: „Durch Sokrates ist eine dialogische Bewegung in das griechische und damit in das abendländische Geistesleben hineingekommen, die vorher schlechthin nicht vorhanden war“ (Friedländer 1964 I, 167).

Die Schwierigkeiten des Dialogs sind nicht unerheblich. Nicht selten gerät er ins Stocken. Widersprüche und Aporien sind unvermeidlich. Der Dialog ist ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Gleichwohl gilt: Philosophie ist der dialogische Umweg der Wahrheitssuche.

Dieses von Sokrates entwickelte Philosophieverständnis ist in der gegenwärtigen Situation erneut auf seine Verbindlichkeit hin zu prüfen. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die monologisch konzipierten, geschlossenen Systementwürfe der Philosophie – wie sie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Fichte, Hegel und Schelling versucht wurden – als gescheitert betrachtet werden müssen. Bereits Schleiermacher – der bedeutende Übersetzer der platonischen Dialoge – hatte in seiner Dialektik Kritik am Systemdenken geäußert: „Leicht entsteht bei einem herrschenden System der Schein, als sei es ein bleibendes und vorbereitet von allen früheren Systemen. Aber stets wird diese Ansicht durch die Folgezeit widerlegt. So haben wir kein Recht, anzunehmen, dieser Wechsel werde jemals aufhören“ (Schleiermacher 1976, 81). An die Stelle des monologischen Systems mit dogmatischem Wahrheitsanspruch setzt Schleiermacher sein Konzept der Dialektik, die er im Anschluss an das sokratische Philosophieren als eine „Kunstlehre des Streitens“ (ebd. 43) bestimmt. Anders als Kant und Hegel wählt Schleiermacher als Ausgangspunkt seines Verständnisses von Dialektik die Situation natürlich und geschichtlich bedingter Personen, die es unternehmen, im Gespräch das Allgemeine als ein für alle Verbindliches zu ermitteln.

Schleiermachers – vom sokratischen Dialog her inspiriertes – Verständnis der Dialektik konnte sich im 19. Jahrhundert nicht entfalten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich im Zusammenhang eines personalistischen Denkens der Ansatz einer dialogischen Philosophie. Repräsentanten des neuen ‚dialogischen Prinzips‘ waren Denker wie Buber, Rosenzweig, Grisebach und Löwith (vgl. Schrey 1983). Doch auch im Bereich der Gesprächspsychotherapie von Freud bis Rogers lässt sich der sokratische Ansatz nachweisen. Im Bereich der politischen Philosophie erkannte Karl. R. Popper in Sokrates den Begründer einer „offenen Gesellschaft“ (Popper 1992, I) und für Arendt ist die von Sokrates entwickelte Ethik „von größter Bedeutung für die Politik“ (Arendt 2016, 58).

Einen neuen Impuls erfuhr das sokratische Denken durch die sprachphilosophische Wende in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In einer Art Paradigmenwechsel trat die Sprachphilosophie an die Stelle der Philosophie des Bewusstseins. Die Intersubjektivität und Allgemeinverbindlichkeit des philosophischen Denkens lässt sich weder auf „die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins“ (Bergson 1989) noch auf eine Folge „intentionaler Bewußtseinsakte“ (Husserl 1977) zurückführen, sondern findet seine Ebene verbindlicher Allgemeinheit im Medium des Gesprächs. Dieser Gedanke verbindet so unterschiedliche Auffassungen der Sprache wie Wittgensteins Modell des Sprachspiels (Wittgenstein 1971), Austins und Searles Theorie der Sprechakte (Austin 1989; Searle 1983), Gadamers „hermeneutische Wendung zum Gespräch“ (Gadamer 1999 II, 369), Lorenzen und Lorenz’ dialogische Logik (Lorenzen/Lorenz 1978) und Apels und Habermas’ Diskurstheorie (Apel 1988; Habermas 1984).

Philosophie als Dialog praktiziert könnte in Anknüpfung an Motive des sokratischen Denkens den erneuten und stets zu erneuernden Versuch darstellen, zu einer Verständigung über die Situation des Menschen in der Welt zu kommen. Die Vergegenwärtigung des Beginns des philosophischen Dialogs bei Sokrates ist Teil dieses Versuchs.

Thema des ersten Kapitels ist der geschichtliche Zusammenhang, der den Hintergrund bildet für das Wirken von Sokrates. Weder geht er in den geschichtlichen Bezügen seiner Zeit völlig auf, noch ist er unabhängig von ihnen zu denken. Der geschichtliche Kontext stellt vielmehr eine Herausforderung für ihn dar, auf die er reagierend und agierend antwortet. Auf diese Weise spiegelt sich nicht nur die Epoche des 5. Jahrhunderts in ihm, sondern durch sein Auftreten ist er eine ihrer gestaltenden Kräfte.

Im zweiten Kapitel geht es darum, Sokrates als geschichtliche Gestalt erkennbar werden zu lassen. Trotz der berechtigten Skepsis gegenüber dem Versuch, ein historisch getreues Sokratesbild zu entwerfen, sind die von Zeitgenossen von ihm herausgestellten Persönlichkeitsmerkmale plastischer als von manchem anderen Philosophen vor ihm oder nach ihm. Zweifellos stimmt das Bild nicht in allen Merkmalen überein. Aber das muss nicht in jedem Fall als Mangel an historischer Genauigkeit gedeutet werden, sondern hat seinen Grund auch darin, dass jeder Autor, der biographisches Material überliefert hat, aufgrund seiner eigenen Interpretation unterschiedliche Charaktermerkmale betont hat.

Im dritten Kapitel werden die uns zur Verfügung stehenden Quellen der sokratischen Philosophie kritisch beleuchtet. Bei dem Versuch einer Annäherung an den historischen Sokrates reicht es nicht aus, eine Quelle zu favorisieren und die anderen zu vernachlässigen, wie es in der Vergangenheit häufig geschehen ist. Die Chance, die Gehalte der sokratischen Philosophie zu ermitteln, ergibt sich aus der Berücksichtigung folgender Aspekte: Zum einen sind wir nicht nur auf eine einzige Quelle angewiesen, sondern haben die Möglichkeit des Vergleichs. Zum zweiten ist das Quellenmaterial relativ groß, so dass ein in sich differenziertes Bild entsteht. Drittens sind die Autoren, die die Quellen bereitstellen, aufgrund ihres umfangreichen Schrifttums in ihrer eigenen Person erkennbar, so dass ihre Gedankenwelt von dem, was sie über Sokrates berichten, unterscheidbar wird. Schließlich ist zu erwähnen, dass drei der Autoren – Aristophanes, Xenophon und Platon – Sokrates persönlich kannten und der vierte – Aristoteles – als Schüler der platonischen Akademie nicht nur mit der Schultradition vertraut war, sondern bereits erstmalig philosophiegeschichtliche Interessen entwickelte.

Im vierten Kapitel werden Sokratische Dialoge an repräsentativen Beispielen vorgestellt. Die Autoren sind – in werkgeschichtlicher Chronologie angeordnet – Aristophanes, der frühe Platon und Xenophon. Bei dem Ausdruck Sokratische Dialoge handelt es sich um eine Übersetzung der von Aristoteles eingeführten Bezeichnung „Sokratikoi logoi“ (Aristoteles 1983, 1447 b). Sie bilden eine eigene Literaturgattung: Es sind poetisch gestaltete „Nachahmungen“ von Gesprächen des Typs, den Sokrates eingeführt hat. Zweifellos sind die platonischen Frühdialoge, von denen fünf vorgestellt werden, die philosophisch bedeutsamsten, aber unter einer philosophiegeschichtlichen Fragestellung, die ja immer auch eine historische in einem allgemeinen Sinn ist, sind auch die übrigen Quellen zu berücksichtigen. Nur der Quellenvergleich lässt das geschichtlich Eigentümliche von Sokrates deutlich werden.

Im fünften Kapitel wird der Versuch unternommen, die Eigenart der sokratischen Philosophie im Unterschied zum Denken führender Repräsentanten der Sophistik herauszustellen. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Sokrates in einer ganzen Reihe von Denkmotiven mit der Sophistik übereinstimmt. Die Tatsache, dass die Anklage ihn als einen Sophisten darstellt, hat Anhaltspunkte, die in seiner Person liegen. Gleichwohl gibt es unverwechselbare Merkmale seines Wirkens, die es als berechtigt erscheinen lassen, die Denker vor ihm – trotz der großen Unterschiede zwischen ihnen – als ‚Vor-Sokratiker‘ zu bezeichnen.

Im sechsten Kapitel wird in exemplarischer Weise auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der sokratischen Philosophie hingewiesen. Zu erwähnen sind die Sokratiker und die sokratischen Schulen, die sich schon bald nach seinem Tod bildeten. Sie sind sehr unterschiedlich; und das ist auch als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass in der Person von Sokrates offensichtlich sehr heterogene Züge vereinigt werden. Im Mittelalter wurde die Dialektik als Kunstform des Sokratischen Dialogs zum vorherrschenden Medium der intellektuellen Auseinandersetzung. Beispielhaft stehen hierfür Augustinus, Anselm von Canterbury und Nikolaus von Kues. Außerdem werden einige Stationen der Geschichte der Sokrates-Deutungen des 18. und 19. Jahrhunderts skizziert. Die Wirkungsgeschichte thematisiert schließlich anthropologische, politische und philosophische Strömungen des 20. Jahrhunderts, in denen das von Sokrates entwickelte Konzept einer dialogischen Vernunft nachgewiesen werden kann. Zu ihnen gehören Freud und Buber, Popper und Arendt, Apel und Habermas.

Im Epilog wird schließlich in drei Bereichen auf die unverminderte Aktualität des Projekts einer dialogischen Vernunft hingewiesen. Auf Passagen, die ich meinen Büchern zu Platon (Pleger 2009) und zur Ethik (Pleger 2017) entnommen habe, wird im betreffenden Abschnitt hingewiesen.

Sokrates

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