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1. Vom Mythos zum Logos – die Entdeckung der Vernunft
ОглавлениеWer versucht, sich die Situation der Philosophie und der Wissenschaften im 5. Jahrhundert zu verdeutlichen, hat sich der Erkenntnis zu stellen, dass beide Wissensformen sich in dieser Zeit zu eigenen Frageweisen erst herausbildeten. Die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft im 6. und 5. Jahrhundert lässt sich als Bildung eines neuen Weltverhältnisses charakterisieren. Es handelt sich um den Übergang einer personalen Weltdeutung, wie sie im Mythos repräsentiert ist, zu einer sachlichen. Gleichzeitig tritt die im Mythos genealogisch beantwortete Ursprungsfrage zurück. Sie wird ersetzt durch den Versuch, das jederzeit präsente Wesen der Sache zu erfassen. Es entsteht die Suche nach einer sich gleichbleibenden Ordnung (Kosmos) in der Fülle der Phänomene, nach gesetzmäßigen Konstanten, wozu auch ein kausales Denken gehört (vgl. Pleger 1991).
Deutlich wird dieses neue, sachliche Denken in einer Mitteilung Herodots über Thales. Thales habe eine Sonnenfinsternis (nach neueren Berechnungen fand sie am 28. Mai 585 statt) vorausgesagt. Das Revolutionäre an dieser Mitteilung ist: Während, wie Herodot bemerkt, die Führer zweier im Krieg sich befindender Heere darin ein göttliches Zeichen sahen, das die sofortige Beendigung der Schlacht nötig machte, wird durch die Vorausberechnung dieses Ereignisses durch Thales dieser Sachverhalt aus seinem mythischen Kontext herausgelöst und als ein natürlicher interpretiert (vgl. Herodot o. J., 41). In ähnlicher Weise werden andere Phänomene wie Nilüberschwemmungen, Erdbeben, Umlauf der Gestirne, die Entstehung des Menschen u.a. erklärt.
Der auf diese Weise sich vollziehende Prozess der Entmythologisierung lässt sich als einer der Versachlichung charakterisieren. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die sich gleichbleibende Struktur der Sache. Dabei werden zwei Fragerichtungen verfolgt. Die eine zielt auf das Verhältnis der Phänomene zueinander und ermöglicht damit die Gewinnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse; die andere fragt nach grundlegenden Merkmalen des Seienden im Ganzen und zeichnet damit ontologisch-philosophische Spekulationen vor. Hierhin gehört z.B. die von Anaximander geäußerte These, dass sich das „Ganze“ in einer Rechtsordnung befindet, nach der stets, gemäß der „Anordnung der Zeit“, die eine Seite eines Gegensatzes durch die andere ersetzt wird: das Kalte durch das Warme, das Trockene durch das Feuchte. Den Anfang dieser naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Spekulationen machten Forscher aus Milet: Thales, Anaximander und Anaximenes. Ihre Fortsetzung und ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte das naturphilosophisch-ontologische Denken bei Heraklit (550–480) und Parmenides (515– nach 450).
Der aus Ephesos stammende Heraklit führte den bei Anaximander erörterten Gedanken des Umschlags der Qualitäten „warm und kalt“, „trocken und feucht“ fort und entwickelte daraus das universal gültige Prinzip der Einheit des Entzweiten. Diese Einheit verstand er als „Logos“, und der Logos beherrscht die Welt. In einer Fülle von Einzelsprüchen variiert er seine grundlegende Einsicht: „Der Weg hinauf hinab: derselbe“ (D/K 22 B 60) oder „Gott ist Tag – Nacht, Winter – Sommer, Krieg – Frieden, Sattheit – Hunger. Er wandelt sich aber gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermischt wird, nach dem Duft eines jeglichen heißt“ (ebd. B 67). Allerdings ist die Einheit des Entzweiten, wenngleich allgegenwärtig, selbst nicht sichtbar. Es handelt sich um eine „verborgene Harmonie“, und daher bemerkt er: „Sie verstehen nicht, wie es auseinandergetragen mit sich selbst im Sinn zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier“ (ebd. B 51).
Die Einheit konstituiert sich in zweifacher Hinsicht: zum einen zeitlich wie bei „Tag-Nacht“, „Winter-Sommer“, dann aber auch in der Einheit entgegengesetzter Prädikate für dieselbe Sache, so: „Meer: reinstes und scheußlichstes Wasser: Fischen trinkbar und lebenerhaltend, Menschen untrinkbar und tödlich“ (ebd. B 61). Während im Kontext der inzwischen sorgfältig gesammelten Fragmente deutlich wird, dass bei Heraklit der Akzent auf dem alles verbindenden „Logos“ liegt, ist die Wirkungsgeschichte Heraklits im 5. und 4. Jahrhundert dadurch bestimmt, dass der Logos-Gedanke übersehen wurde und seine Gegensatzlehre in einer eigentümlich verkürzten Form diskutiert wurde. Es wurden ihm zwei Thesen zugeschrieben: Alles fließt, nichts bleibt und Alles ist relativ. Diese Interpretation findet sich auch bei Platon und Aristoteles.
Als Antipode dieses freilich verkürzten Ansatzes galt Parmenides. Sein in weiten Teilen erhaltenes Lehrgedicht enthält die zentrale Aussage, „daß IST ist und daß Nichtsein nicht ist (…); denn weder erkennen könntest du das Nichtseiende (das ist ja unausführbar) noch aussprechen“ (D/K 28 B 2); „denn dasselbe ist Denken und Sein“ (ebd. B 3). Mit einer erstaunlichen Radikalität hat Parmenides das Zeugnis der Sinne verworfen. Die Sinne, die uns Vielheit und Bewegung präsentieren, täuschen uns. Die Einheit des Seins, die logisch zwingend ist, erschließt sich nur dem Denken. Wie sollte auch, argumentiert er, aus einem Nichts ein Sein werden oder ein Sein in ein Nichts vergehen? Parmenides’ Schüler Zenon hat daraus die Aporien der Vielheit und der Bewegung entwickelt, die bei Platon und Aristoteles erörtert werden.
Der Gedanke der Einheit des Seins war logisch so zwingend wie für das Prinzip der unmittelbaren Gewissheit der sinnlichen Wahrnehmung unannehmbar, und deshalb ist die weitere Geschichte des philosophischen Denkens – nicht nur des 5. und 4. Jahrhunderts, sondern weit darüber hinaus – durch die Frage bestimmt, wie das Zeugnis der Sinne gerettet werden kann, ohne den Gedanken der Einheit des Seins preisgeben zu müssen. Vereinfacht kann man sagen, dass die parmenideische Einheit des Seins aufgegeben wurde, zugunsten einer Vielzahl von Einheiten des Seins, denen selbst aber die parmenideischen Attribute zukamen. Wie aber diese Einheiten konzipiert werden, war durchaus unterschiedlich. Das eine Modell bestand darin, sie als kleinste, teilbare oder unteilbare (atoma) Körper zu interpretieren (Anaxagoras, Leukipp, Demokrit), das andere, sie als logische Gestalten (Ideen) zu denken (Platon) oder schließlich als Einzelnes, das eine allgemeine Form anstrebt (Entelechie), so Aristoteles. In all diesen Variationen ging es darum, an dem Gedanken eines unveränderlichen Seins festzuhalten und zugleich die Phänomene zu retten.
Die Lösung, das Ganze als eine Ansammlung verschiedenster, unendlich teilbarer Körper aufzufassen, entwickelte Anaxagoras (500–425), der in Klazomenai geboren wurde, aber 20 oder 30 Jahre seines Lebens in Athen verbrachte. Er führte dieses naturphilosophische Denken dort ein und – sieht man einmal von dem Rechtsdenker Solon ab – damit die Philosophie überhaupt. Ursprünglich – so sein Gedanke – befand sich „alles“ beieinander. Dann aber wurde „alles“ von einer eigentümlichen Kraft, die er Vernunft (nous) nannte, in eine wirbelnde Bewegung versetzt, so dass sich dadurch die sichtbare Anordnung der Stoffe ergab. Gleichwohl kam es nicht zu einer völligen Trennung der Stoffe, sondern er nahm an, dass in jedem Ding alle anderen Stoffe in unterschiedlicher Verteilung enthalten sind: im Knochen z.B. Anteile von Wasser und Erde und Feuer usw. Anaxagoras entwickelte seine Teilchenphysik so weit, dass er selbst von der Sonne behauptete, sie sei ein glühender Stein. Den Anhaltspunkt für diese These fand er in der Tatsache, dass er Kenntnis bekam von einem Meteoriteneinschlag in Aigospotamoi. In Athen führte seine Entmythologisierung des Sonnengottes Helios um 430 zur Anklage der Asebie, und er musste die Stadt verlassen.
Ein anderer hier zu nennender Forscher ist Empedokles, der von ca. 492 bis 432 in Akragas (Sizilien) lebte und, möglicherweise von Anaximanders Rede von den vier Qualitäten beeinflusst, die Lehre von den vier Wurzeln der Dinge entwickelte: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Aus der unterschiedlichen Mischung und Trennung dieser Stoffe ließ sich die Vielfalt der Phänomene erklären. Die Verbindung und Trennung der vier Elemente schrieb er zwei Kräften zu, die er mythologisierend Liebe und Hass nannte. Vom Mythos selbst war sein Denken weit entfernt. Vielmehr herrschten bei ihm mechanische Vorstellungen vor. Den Prozess der Wahrnehmung erklärte er durch die Annahme, dass sich von den Dingen ständig Teilchen ablösen, die von den menschlichen Wahrnehmungskanälen, den Poren, aufgenommen werden und einen dem Ding ähnlichen Abdruck erzeugen. Bei ihm finden sich nicht nur Ansätze von naturwissenschaftlichen Experimenten, sondern auch Konturen einer technischen und medizinischen Utopie: Nutzung der Windenergie, Abschaffung des Todes. Ohnehin ist sein Einfluss auf die medizinische Wissenschaft des 5. Jahrhunderts von Bedeutung.
Hinzuweisen ist dabei vor allem auf Hippokrates von Kos, der ungefähr 460 geboren war und bis ca. 370 lebte. Er gründete eine eigene Schule, und in ihr wurden zahlreiche medizinische Schriften verfasst, die unter dem Titel Corpus Hippocraticum überliefert sind, wohl aber nur zu einem geringen Teil von ihm selbst stammen (vgl. Hippokrates 1955). Die Grundprinzipien der hippokratischen Medizin sind in der „Säfte-Lehre“ zu sehen, der Humoralpathologie. Sie enthielt den Gedanken, dass Gesundheit und Krankheit von dem richtigen Mischungsverhältnis der verschiedenen Säfte des Körpers abhängen. Besonderer Wert wurde auf die Diagnose gelegt, auf eine genaue Beobachtung und Beschreibung des Krankheitsverlaufs sowie eine behutsame Therapie. Der entscheidende therapeutische Grundsatz war, dem Patienten nicht zu schaden. Große Bedeutung kam der richtigen Diät zu. Die Diätetik zeigt einen weiteren Grundsatz der hippokratischen Medizin: Der menschliche Organismus wird als ein Teil der natürlichen Umwelt interpretiert, mit der er in einem beständigen Austausch sich befindet. Deshalb sind für die Beurteilung von Krankheiten die örtlichen Verhältnisse wie geographische Lage, Qualität des Wassers und der Luft zu berücksichtigen. Diesem Thema hat er eine eigene Schrift gewidmet. Die sachliche Einstellung und somit das neue unmythologische Denken kommt auch darin zum Ausdruck, dass Hippokrates die Bezeichnung der Epilepsie als einer „heiligen Krankheit“ ablehnt und dagegen die These stellt, dass diese Krankheit wie jede andere auf natürliche Einflüsse zurückzuführen sei. Das Prinzip der Sachlichkeit ermöglichte eine genaue Beobachtung der natürlichen Beschaffenheit der Dinge.
Dieses Prinzip galt auch für die im 5. Jahrhundert sich entwickelnde Geschichtswissenschaft (vgl. Schadewaldt 1982). Als „Vater der Geschichtswissenschaft“ (Cicero) wird wohl zu Recht Herodot von Halikarnassos bezeichnet, der ca. 484 geboren wurde und kurz nach 430 starb (vgl. Herodot o. J.). Das Feld seiner Forschung war das Verhältnis der Griechen und Perser zueinander, vor allem der zwischen ihnen geführte Krieg. Die dargestellten Sachverhalte waren das Ergebnis eigener Erkundung (gr. Historia), und damit ist zugleich der neue Ansatz der Erkenntnis charakterisiert. Anders als sein von ihm kritisierter Vorgänger Hekataios von Milet beschränkte sich Herodot nicht darauf, mythologische Übertreibungen auf das Maß des Wahrscheinlichen zurückzuschneiden, sondern stellte an die Stelle der Erzählung vom Hörensagen die eigene Erkundung. Nur wo dies nicht möglich war, gab Herodot Berichte von Augenzeugen wieder, wobei er diese aber stets als solche bezeichnete und das eigene Urteil zurückhielt.
Thukydides, der um 460 geborene Historiker, konnte in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg auf den bei Herodot entwickelten historischen Ansatz zurückgreifen (vgl. Thukydides o. J.). Und wenn er sich in dem ausführlichen Methodenkapitel seines Werks auch von allen bloßen Geschichtenerzählern (Logographen) absetzt, wozu er zweifellos neben Homer auch Herodot zählt, sind die von ihm entwickelten Prinzipien historischer Forschung doch nur zu verstehen als gesteigerte Ansprüche an das Prinzip der Historizität. Dazu gehören für ihn Exaktheit, das heißt Tatsachengenauigkeit und Tatsächlichkeit, Zuverlässigkeit der Beweisgänge, Nachweis der vorgebrachten Zeugnisse, Verzicht auf alles Mythische. Hinsichtlich der Chronologie wird eine Genauigkeit durch mehrmalige Fixierung von Terminen angestrebt und fortlaufende Jahreszählung eingeführt. Die anthropologische Begründung seines Ansatzes ist darin zu sehen, dass Thukydides eine sich gleichbleibende menschliche Natur annimmt, so dass das, was er zu berichten weiß, unter ähnlichen Umständen sich wiederum ereignen kann, auch wenn die aufgrund der menschlichen Natur erwartbaren Ereignisse durch Zufälle und Einbrüche des Irrationalen durchkreuzt werden können.
Thukydides ist beeinflusst von der Sophistik, vor allem durch die Rhetorik des Gorgias. Von diesem Ansatz aus sind auch die von ihm konzipierten eingeschobenen Reden zu verstehen, die oftmals paarweise angeordnet im Stil von Rede und Gegenrede das sophistische Prinzip zur Geltung bringen, dass es zu jeder Sache zwei entgegengesetzte Meinungen gibt. Thukydides entwickelt – darin der Medizin nicht unähnlich – einen naturwissenschaftlich sezierenden Stil der Analyse von Geschehensabläufen, in dem der Versuch distanzierter Objektivität und Neutralität zum Ausdruck kommt.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die Geschichte der Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft im 6. und 5. Jahrhundert lässt sich verstehen als Prozess der Entmythologisierung, d.h. als Versachlichung des im Mythos repräsentierten personalen Weltverhältnisses. In ihm beginnt die zunächst Europa bestimmende und dann die global sich ausbreitende Entwicklung, in der die Vernunft zum Leitfaden einer neuen Weltorientierung gemacht wird. Das sokratische Denken gehört dieser Entwicklung an und gibt ihr zugleich eine entscheidende methodische Wende.