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Kapitel 9
ОглавлениеKurz vor acht wachte Paulsen auf, packte seine Sachen und checkte aus. Es war nicht ausgeschlossen, dass das Rollkommando noch mal auftauchte, und unter den Fittichen von Meisterdetektiv Baranoff fühlte er sich nicht besonders geborgen. Statt weiter in der Prärieblume rumzulungern und Baranoff oder den Schuhvertreter zu belauern, schien es sinnvoller, die Spur der Nigerianer weiterzuverfolgen.
Fünfzehn Minuten später betrat Paulsen Krohnkes Büro, bereit, vor dem Ein-Mann-Tribunal schonungslos offenzulegen, was bisher schiefgelaufen war. Er gestand, dass er mit dem Verdacht auf den Hoteldetektiv eine falsche Fährte verfolgt hatte und wartete ergeben auf Krohnkes gnadenloses Urteil. Doch der war wieder mal für eine Überraschung gut.
„Was soll’s, dann begraben wir das Ganze.“
Er schien erleichtert, den heiklen Auftrag abblasen zu können. Ohne viel Federlesen setzte er sich an den Computer und suchte nach den Dateien, die er zum Mordfall angelegt hatte.
„Drei Klicks und schon haben wir wieder Platz für neue Themen“, frohlockte er geradezu.
„Moment, Moment, nicht so eilig“, griff Paulsen ein. „Ich hab’ nicht gesagt, der Fall ist abgeschlossen.“
Krohnke stoppte die Löscharbeiten auf dem Bildschirm und schaute ihn abwartend an.
Paulsen gab sich geheimnisvoll. „Es gibt eine neue, eine brandheiße Spur.“
„Brandheiß ist ja bei Ihnen alles. Deswegen verbrennen Sie sich ja auch andauernd die Finger. Und das Gesicht, wie ich sehe.“ Er starrte auf die Schwellung oberhalb Paulsens Wange.
„Das bringen heiße Storys so mit sich.“
Krohnke lachte. „Es sei denn, es sind bloß Strohfeuer. Viel Rauch um nichts sozusagen.“ Er blickte auf die Uhr. „Ihre Redezeit nähert sich dem Ende.“
Paulsen war klar, dass es jetzt auf die richtige Strategie ankam. Die vielversprechendste war, Krohnke an sein journalistisches Idealbild zu erinnern. Darin sah er sich als Jagdhund, der unbeirrbar durch das Dickicht von Korruption und Verbrechen pirschte – auch wenn er seit Jahren nur noch hinter dem Schreibtisch saß.
„Das habe ich ja von Ihnen gelernt“, sagte Paulsen, „ein Gespür zu entwickeln, ob aus dem Strohfeuer nicht vielleicht doch ein Großbrand wird.“
„Paulsen, es reicht. Auf Ihre Bauchpinselei falle ich schon lange nicht mehr rein.“ Er wandte sich dem PC zu und scrollte auf dem Bildschirm herum.
„Was ist denn mit dem Material, was Sie bisher gedreht haben? Kann man daraus wenigstens noch was anderes stricken?“
Paulsen nickte. „Für eine kurze Reportage über den Beruf eines Detektivs reicht es allemal. Aber bevor Sie jetzt irgendwas ändern oder löschen, hören Sie mir noch eine Minute zu.“
„Na, los, dann spucken Sie’s aus, wenn Sie noch was auf der Pfanne haben.“
„Die Ermordete war eine Prostituierte, Zwangsprostituierte, und wollte aussteigen, und es sieht alles danach aus, als ob sie genau deswegen umgebracht wurde. Ich würde vorschlagen, dass ich mich etwas genauer im Milieu umschaue.“
Krohnke hob warnend den Finger. „Wir sind nicht die Polizei und Sie kein Privatdetektiv.“
Paulsen deutete auf die Beule an seiner Schläfe. „Aber ein Betroffener.“
„Ein Grund mehr, die Sache abzublasen. Persönliche Rache als Motiv sollte tabu sein für einen seriösen Reporter.“
„Ich will nur herausfinden, wer mich in die Mangel genommen hat und was dahintersteckt. Man könnte es auch als investigativen Journalismus bezeichnen.“
„Nun tun Sie mal nicht so oberschlau. Es gibt noch andere Themen, um die wir uns kümmern müssen.“
„Geben Sie mir nur noch ein paar Tage. Dann liefere ich Ihnen eine Story, die es in sich hat.“
Krohnke betrachtete ihn einen Moment.
„Paulsen, Sie rauben mir den letzten Nerv. Ich gebe Ihnen noch genau drei Tage. Wenn Sie dann nicht mit Details rüberkommen, die mir einen Schauer über den Rücken jagen, ist Ende mit der Detektivspielerei.“
Paulsen machte sich an die Arbeit und suchte als erstes im Internet Material zum Stichwort ‚Zwangsprostitution‘. Dabei stieß er auf eine Beratungsstelle für Prostituierte mit dem Namen Minerva. Es meldete sich eine Frau Zöller, und er stellte sich als Reporter von Regio TV vor.
„Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?“ Ihre Stimme klang kühl wie eine automatische Telefonansage.
„Um die Arbeit Ihrer Beratungsstelle.“
Sie wirkte nicht gerade begeistert. „So, so. Tja, dann machen wir am besten einen Termin.“
„Würde das heute noch gehen?“
„Sie haben’s aber eilig. Na, gut, ich schau gerade mal … eventuell am späten Nachmittag?“
Bis dahin hatte er noch eine Menge Zeit.
Er fuhr zum Grünen Weg, um sich dort umzusehen. Das Auto war ein rollender Backofen. Die ganze Stadt ächzte unter der Hitze und sehnte sich nach Abkühlung. Am Himmel sah es verheißungsvoll aus, bleigraue Wolken türmten sich auf und schoben sich vor die Sonne.
Der Grüne Weg im Norden der Stadt verlief am Rande des Gewerbegebiets entlang einer alten Bahntrasse. Auf der einen Seite begrenzte eine Backsteinmauer die verwilderte Böschung unterhalb der Gleise, auf der anderen Seite reihten sich schmucklose Betonwürfel mit neonhellen Firmenbüros und Ausstellungsräumen aneinander. Ein Rätsel, wen die Automodelle, fabrikneuen Baumaschinen und Designmöbel in dieser abgelegenen Gegend anlocken sollten. Die mittlerweile tiefschwarzen Gewitterwolken mit Streifen schwefelgelben Lichts ließen die Gegend noch unwirtlicher erscheinen.
Ein halbes Dutzend junger dunkelhäutiger Frauen lungerten an der Straße herum, spazierten Handtaschen schlenkernd auf und ab oder lehnten rauchend an der Mauer zum Bahndamm, die meisten spärlich bekleidet mit Minirock, kurzem Top oder T-Shirt.
Paulsen lenkte den Wagen einmal um den Block, verlangsamte dann auf Schritttempo und hielt neben einer jungen Frau, die trotz der schwülen Hitze kniehohe weiße Stulpenstiefel trug, und kurbelte die Seitenscheibe herunter. Sie kam heran und fragte in einem Mix aus Englisch und gebrochenem Deutsch nach seinen Wünschen und rasselte die entsprechenden Preise herunter. Als er erklärte, er wolle sich nur mit ihr unterhalten, verdrehte sie die Augen, streckte ihm den Mittelfinger entgegen und ging Hüften schwingend zurück an ihren Platz. Er fuhr weiter, verfolgt von den misstrauischen Blicken der anderen Mädchen. An der nächsten Kreuzung entdeckte er ein Stehcafé, parkte den Wagen und ging hinein.
‚Bei Udo‘ war halb Kiosk, halb Imbissbude. Drei weißlackierte Stehtische mit Hochstühlen, links ein Regal mit Keksen und Bonbons, auf der anderen Seite ein großer Kühlschrank mit Getränken und unterhalb des Tresens eine Glasvitrine mit verschiedenen Salaten, Frikadellen und Rollmöpsen. Die großen Spiegel an den Wänden ließen den Laden größer erscheinen als er war.
Hinter der Theke stand Udo, ein dickbäuchiger Mann in weißem Kittel, mit einem Vollbart, der beinahe das ganze Gesicht überwucherte. Er bediente gerade den einzigen Kunden, einen Junkie, der Mühe hatte, das Kleingeld für eine Cola abzuzählen.
Paulsen stellte sich an und wartete geduldig. Ein Pappschild, das seitlich an der Wand baumelte, erleichterte dem Wirt das Kassieren, in ungelenker Kinderschrift stand geschrieben: 1 Flasche Bier = 1 Euro 50, 2 Flaschen = 3 Euro und so weiter, bis: 10 Flaschen = 15 Euro. Als Udo Paulsens Schmunzeln bemerkte, drehte er das Schild um.
Paulsen bestellte einen Kaffee, verschanzte sich hinter einem Stehtisch nahe am Fenster und blickte durch das fettige Glas, das wie ein Weichzeichner wirkte und die Menschen und Dinge draußen zu aquarellartigen Farbflächen verschwimmen ließ. Ein Tupfer nahm jetzt Gestalt an, wurde größer, und herein kam eine junge Schwarze in kurzem Rock und Tigerjacke, trat an die Theke und bestellte einen ‚Coffee to go’. Als sie ihren Pappbecher hinaustrug, folgte er ihr.
„Haben Sie einen Moment Zeit?“
Sie blieb stehen und blickte ihn an, halb amüsiert, halb ironisch.
„It’s my job.“
Er deutete zu seinem Wagen auf der anderen Straßenseite. Kaum waren sie eingestiegen, kam ein BMW herangerauscht und stellte sich dicht hinter sie. Hinter der Frontscheibe machte Paulsen die Silhouetten zweier Gestalten aus. Die junge Prostituierte neben ihm schien nichts zu bemerken.
„Kann ich erst meinen Coffee trinken?“
„Klar, ich habe nur ein paar Fragen.“
Sie lachte, vielleicht weil sie ihm nicht glaubte oder weil sie sich darüber freute, für ein paar Minuten unbelästigt Pause machen zu können. Paulsen nahm den Umschlag aus dem Handschuhfach und zeigte ihr die Fotos von Fayola.
„Kennst du das Mädchen?“
Sie nippte an ihrem Becher, blickte auf die Bilder und verzog keine Miene.
„Fayola Mafuto“, sagte er.
„No.“
Er hatte das Gefühl, dass sie nicht die Wahrheit sagte, holte den kleinen Knochen mit den Glasperlen hervor und hielt ihn ihr hin. Wie elektrisiert zuckte sie zurück.
„Hast du eine Ahnung, was das ist?“
Sie schwieg. Er hörte ein Geräusch und blickte in den Rückspiegel. Eine Gestalt sprang aus dem BMW, kam nach vorn und riss die Beifahrertür auf. Ein Schwarzer mit Ballonmütze beugte sich herein und schnauzte das Mädchen in einer Sprache an, die Paulsen nicht verstand. Ohne Widerspruch kletterte sie aus dem Wagen und verschwand. Der Schwarze hielt weiter die Tür auf und starrte Paulsen angriffslustig an.
Der startete den Motor und fuhr mit einem Ruck los, worauf der Zuhältertyp die Wagentür zuklappen ließ und gegen den Kotflügel trat, dass es krachte. Paulsen fuhr weiter und winkte zum Dank. Der Typ hatte genau die Autoseite bearbeitet, auf der zu einem gleichmäßigen Beulen-Look noch eine Delle gefehlt hatte.
Die Dachterrasse war Paulsens Zufluchtsort. Von hier überblickte er die Nachbarschaft, sah auf altertümliche Dachgauben, Pflanzen umrankte Balkone, Terrassen mit Sitzbänken und Liegestühlen. Nichts Mondänes, eher Kleine-Leute-Idylle.
Wenn er mit Vera hier abends gesessen hatte, bei Bier oder Wein, hatten sie sich vorgestellt, über den Dächern von Paris zu leben. Allerdings nur, wenn es gut lief zwischen ihnen, in den kurzen Phasen, die immer kürzer geworden waren. Daran hatte auch die Geburt ihrer Tochter nichts geändert. Lena, die Frucht einer kurzen intensiven Liebe. Er verscheuchte die Gedanken an die Vergangenheit und beschloss, Lena anzurufen und zu fragen, ob sie Zeit und Lust hatte, mit ihm essen zu gehen. Nach all den verlorenen Gestalten heute sehnte er sich nach etwas Positivem, Hoffnungsvollem. Er erwischte sie, was schon ein kleines Wunder war, und sie hatte tatsächlich Zeit. Sie verabredeten sich im Café Extrablatt. Wie immer kam sie zu spät. Mit geschultertem Rucksack, aus dem eine Wasserflasche ragte, stürmte sie herein wie der kleine Häwelmann, in komplett schwarzem Outfit, von den halbhohen Stiefeln über den am Knie zerrissenen Jeans bis zum Sweatshirt.
Lena war mittlerweile neunzehn. Sie sahen sich regelmäßig, wenn auch jeder sein eigenes Leben führte. Zu ihrer Mutter hatte er nur noch sporadischen Kontakt, doch es gab keinen Groll mehr zwischen ihnen, die Streitigkeiten lagen lang genug zurück.
Sie holten sich Essen vom Buffet und suchten einen Platz mit Blick nach draußen. Bei Rührei, Lachs und Kaffee ließen sie es sich schmecken, und je länger sie plauderten, umso weiter rückten die Bilder des Straßenstrichs in den Hintergrund.
Er fragte, wie es an ihrer Kunstschule liefe, und sie erzählte begeistert von ihrem neusten Semester-Projekt, der Verfilmung einer Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe. In der Geschichte ginge es um einen Studenten, der eine Nervenanstalt besucht, und von der neuen Klinikleitung beeindruckt ist. Erst als er auf Ärzte trifft, die geteert und gefedert worden sind, begreift er, dass die Irren die Macht in der Anstalt übernommen haben.
Paulsen ging nicht weiter darauf ein und hoffte, dass er Lena damit nicht verletzte. Sie konnte nicht wissen, dass er zurzeit von Geschichten, in der es um den schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Normalität ging, die Nase voll hatte.