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Kapitel 6

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Nach einem kurzen Imbiss fuhr Paulsen zur Prärieblume, setzte sich ins Foyer und machte ein paar Notizen. Student Aschhoff war immer noch im Einsatz. Blass wie ein Engerling kauerte er hinter der Rezeptionstheke und starrte auf den Computerbildschirm. Kurz darauf kam Baranoff von draußen hereingestürmt, tat so, als bemerkte er Paulsen nicht und humpelte zum Aufzug.

Aschhoff beugte sich über die Empfangstheke.

„Hallo, Herr Baranoff! Falls Sie den Reporter suchen, der sitzt da in der Ecke.“

Wie ertappt blieb Baranoff stehen und schickte Aschhoff einen finsteren Blick zu, dann setzte er ein breites Lächeln auf und ging auf Paulsen zu.

„So einen Lenz müsste man haben! Wann arbeitet ihr Reporter eigentlich mal?“

„Wir arbeiten immer, auch wenn man es uns nicht ansieht.“

Baranoff lachte übertrieben. „Siehst du, da sind sich unsere Berufe gar nicht so unähnlich.“

Paulsen gab sich ahnungslos. „Wie ist die Jagd im Bahnhof ausgegangen?“

Baranoff blickte mürrisch. „Noch nicht spruchreif. Ich bin noch mitten in den Ermittlungen.“

Paulsen wartete, bis er sich gesetzt hatte.

„Jemand hat erzählt, die Polizei hätte Sie geschnappt.“

„Was heißt geschnappt? Ich habe denen kurz die Lage erläutert. Die sind ja so blind, dass sie nicht mal mitkriegen, wenn direkt vor ihren Augen mit Drogen gedealt wird.“

„Ist der Vertreter aufgetaucht?“

„Natürlich. Und der Libanese. Darum ging’s ja. Leider sind mir die beiden entwischt.“ Er stand auf. „Wie sieht’s aus mit einem Feierabendbierchen?“

Paulsen winkte ab.

Baranoff tat beleidigt. „Komisch, gestern konntest du den Hals nicht voll kriegen.“

Paulsen klappte das Notizheft zu. „Gestern war gestern. Und morgen ist morgen. Und dann stehe ich um Punkt elf bei Ihnen auf der Matte. Samt Kamerateam.“

Baranoff grunzte und verzog sich zum Aufzug. Paulsen erhob sich, ging zur Rezeption und stützte sich auf das Empfangspult.

„Hallo, Tilman. Doppelschicht?“

Aschhoff grinste, als sei er noch immer oder schon wieder bekifft.

„Nur bis zwei, dann kommt der Kollege.“

„Seit wann im Dienst?

„Seit gestern Abend um elf.“

„Mein lieber Mann, das sind ja mehr als sechzehn Stunden.“

„Merk ich gar nicht, wenn ich im Spiel bin.“

„Scheint ja ein tolles Spiel zu sein.“

„World of Warcraft.“

„Und welche Rolle spielst du?“

„Ich bin ein DiDi, Damage Dealer, ein Schadensverursacher. Ich kann jedem Gegner maximalen Schaden zuzufügen.“

Paulsen tat beeindruckt. „Toll. Wie lange machst du den Job eigentlich schon?“

„Als Damage Dealer?“

„Als Nachtportier.“

„Seit vier Wochen.“

„Das heißt, du kannst abends praktisch nie ausgehen, mit Freunden oder so. Hast du keine Freundin?“

„Doch, die Svenja.“ Er tippte auf der Tastatur herum, als müsste er seine Behauptung schnellstens beweisen. „Hier.“

Von einer Facebook-Seite lächelte Paulsen ein dunkelblondes Mädchen mit schmalem Gesicht entgegen. ‚Svenja Strelitz’ stand unter dem Bild.

„Nett. Und was hält sie von deinem Job?“, fragte Paulsen.

Tilman wich seinem Blick aus. „Für sie ist das okay.“

Paulsen hatte Glück. Eine Svenja Strelitz gab es im Telefonverzeichnis nur einmal, mit Festnetz- und Handynummer. Er rief sie an, stellte sich vor und fragte, ob sie sich zu einem kurzen Gespräch treffen könnten.

Sie klang reserviert. „Worum geht’s denn bitte?“

„Um Tilman Aschoff, der im Hotel Prärieblume arbeitet.“

„Ist ihm was passiert?“

„Nein, nein, alles okay. Ich bin ein Bekannter von ihm. Alles Weitere würde ich Ihnen dann gleich erklären.“

„Tja, ich weiß nicht. Ist es denn so dringend? Ich bin im Dienst und hab’ höchstens zehn Minuten Zeit.“

„Das wird reichen. Ich kann in ’ner Viertelstunde da sein.“

Sie nannte die Adresse des Seniorenheims, wo sie als Pflegerin jobbte. Das Heim am Morillenhang war ein schmuckloser Neubau aus Glas und Beton. Die Cafeteria hatte gerade geöffnet und war, abgesehen von den beiden Küchenfrauen hinterm Tresen, noch menschenleer. Paulsen schlenderte an der Theke entlang und besichtigte die Speisen in den Vitrinen, gummiartige Brötchen, die unter Zellophan schwitzten, und staubtrockener Sandkuchen. Dafür war sein Hunger nicht dramatisch genug.

Svenja tauchte auf, und er lud sie zu einem Kaffee ein. Sie war kleiner und zierlicher als sie auf dem Facebook-Foto gewirkt hatte. Sie nahmen ihre Tassen und setzten sich auf die Terrasse. Sie lag zwischen den beiden Flügeln des U-förmigen Gebäudes, grau und trostlos, wie aus Verzweiflung aufgehübscht mit ein paar Blumenkübeln aus Beton.

Paulsen stellte sich Svenja vor und, damit sie ein bisschen warm wurden, erkundigte er sich nach ihrer Arbeit im Heim. Sie antwortete aufgeschlossen, geriet ins Plaudern und meinte, sie arbeite eigentlich gerne als Pflegerin, doch sie mache den Job nur vorübergehend. Wie Tilman habe sie vor, Medizin zu studieren, und wie er müsse sie sicher noch lange auf einen Studienplatz warten.

„Aber ich darf mich nicht beklagen, meine Abi-Note war nämlich nicht gerade … na, ja …“

Sie unterbrach sich und lächelte verlegen, als sei ihr gerade aufgefallen, dass sie mit einem Fremden zusammensaß und zu viel redete. Sie hob ihre Tasse und blickte ihn über den Rand mit Kulleraugen an. „Langsam bin ich aber neugierig, was Sie eigentlich von mir wollen.“

„Etwas heikles Thema“, erklärte Paulsen. „Wir planen eine Reportage zum Thema Spielsucht. In dem Zusammenhang ist mir Ihr Freund aufgefallen. Anscheinend hängt er nächtelang am Computer und taucht in irgendwelche Fantasiewelten ab. Machen Sie sich als Freundin keine Sorgen?“

„Ob ich mir Sorgen mache?“ Sie lachte trocken. Nach einer Pause sagte sie: „Das ist doch der Grund, weshalb wir uns getrennt haben.“

„Getrennt? Seit wann?“

„Schon vor einem halben Jahr.“

Paulsen verschwieg, dass Tilman ihm etwas anderes erzählt hatte.

„Und warum?“

„Ich hab’s nicht mehr ausgehalten und bin ausgezogen.“ Sie kämpfte mit den Tränen. „Anfangs habe ich seine Spielerei nicht ernst genommen, aber es wurde immer schlimmer. Nachher hat er Tag und Nacht am Computer gehangen, Wolldecken vor die Fenster gehängt, die ganze Bude vollgequalmt und gespielt und gespielt. Wenn ich was gesagt habe, ist er sauer geworden, zwei Mal ist er völlig ausgeflippt und hat mich … ja, er hat mich geschlagen.“ Es brach aus ihr heraus, als ob sie selten Gelegenheit hatte, ihr Herz auszuschütten.

Paulsen wartete, bis sie sich wieder gefasst hatte.

„Waren auch Drogen im Spiel? Aufputschmittel, Wachmacher?“

„Weiß ich nicht. Keine Ahnung.“

Sie hob die Tasse mit zittriger Hand. „Vielleicht hilft es ja anderen, wenn man seine Erfahrungen öffentlich macht. Ich möchte aber nicht, dass Sie meinen Namen erwähnen. Auch nicht Tilman gegenüber.“

„Das wird nicht passieren“, versprach er.

Als er zurück zur Prärieblume kam, saß anstelle von Aschhoff ein glatzköpfiger älterer Mann mit pockennarbigem Gesicht an der Rezeption. Mürrisch händigte er Paulsen den Zimmerschlüssel aus, gähnte und riss dabei den Mund auf wie eine Krokodilschnauze.

„Danke, dass Sie mich nicht verschluckt haben.“

Der Mann sah ihn an, als wollte er doch noch nach ihm schnappen. Paulsen fuhr mit dem Aufzug, hoch und sinnierte über die Entstehung der Arten und das Verhalten der menschlichen Spezies im Allgemeinen. Über das von Tilman Aschoff im Besonderen. Seine Begeisterung für Rollenspiele hatte ihn offensichtlich ins gefährliche Abseits geschleudert. Überraschend war weniger, dass er spielsüchtig war, sondern dass so ein schmalbrüstiger Wicht gewalttätig werden konnte. Vorausgesetzt Svenja sagte die Wahrheit. Doch war ihm auch ein brutaler Mord zuzutrauen? Sein Gefühl sagte ihm nein.

Er schaltete den Fernseher an, zappte herum und blieb bei einer Unterhaltungsshow hängen, in der ein Mann lebendig begraben, einem anderen der Mund zugenäht, ein dritter auf einen Rennwagen geschnallt wurde. Bevor die Sieger des lustigen Gewinnspiels feststanden, war Paulsen eingeschlafen.

Kurz nach drei wachte er auf, als es über ihm rumste, und der Büffelhorn-Leuchter an der Decke schwankte. Flaschen klirrten.

Er kletterte aus dem Bett, lief die Treppe hoch und klopfte an Baranoffs Tür. Keine Reaktion. Er drückte die Klinke. Die Tür war unverschlossen, und er trat in das trüb erleuchtete Zimmer, in dem es nach Bier und Zigarettenqualm roch. Im Schlafraum war die Nachttischlampe auf den Boden gekippt, und Baranoff lag neben dem Bett inmitten einer Batterie leerer Flaschen. Paulsen sprach ihn an, doch Baranoff muckte sich nicht.

Paulsen versuchte, den massigen Körper zurück aufs Bett zu hieven, doch er war zu schwer. Schließlich gelang es ihm, Baranoff ein Stück nach vorn zu ziehen, bis sein Kopf außerhalb der klebrigen Bierpfütze lag, dann schob er ihm ein Kissen unter. Als er die Lampe zurück auf die Nachtkonsole stellte, sah er etwas unter der Bettmatratze hervorlugen. Ein dicker brauner Briefumschlag.

Paulsen zögerte. Sollte er in Baranoffs Sachen herumschnüffeln? Vielleicht eine Chance, ihm auf die Schliche zu kommen. Kurz entschlossen griff er zu. Der Umschlag war nicht zugeklebt und enthielt einen Bogen Passfotos mit dem Portrait einer jungen Schwarzen. Hübsches Gesicht, langes glattes Haar und große Augen. Auf der Rückseite des Bogens stand in krakeliger Kinderschrift geschrieben: Fayola Mafuto.

In dem Umschlag steckte noch etwas. Ein durchsichtiger Plastikbeutel mit einem kleinen Knochen, der mit einer Kette aus Grünen und blauen Glasperlen umschnürt war. Paulsen stopfte alles in den Umschlag und schob ihn zurück unter die Matratze. Bevor er das Zimmer verließ, warf er einen letzten Blick auf Baranoff. Der lag da und lächelte im Schlaf wie ein träumendes Kind.

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