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Kapitel 4
Оглавление„Unglaublich!“
Baranoff zog ein großes schmuddeliges Taschentuch hervor und wischte sich den Nacken. Dabei schielte er zu Paulsen, als wollte er sich vergewissern, wie er das Ganze aufgenommen hatte. Paulsen verzog keine Miene.
„Wenn der Meffert glaubt, er könnte sich mit irgendwelchen Tricks herauswinden, dann hat er sich geschnitten. Mich legt der nicht rein. Auf meiner Liste bleibt er ganz oben. Cognac?“
„Ich hatte vor, schlafen zu gehen.“
„Einen zum Feierabend. Ich habe unten in der Küche noch einen guten Tropfen in petto.“
Paulsen hatte eine Idee und gab nach. Als Baranoff das Zimmer verlassen hatte, sah er sich um. Die Behausung war eine Kombination aus Büro, Küche und Wohnzimmer. Zur Büroabteilung gehörten Schreibtisch, Aktenregal und an der Wand darüber ein gerahmtes Detektiv-Diplom, ausgestellt auf Baranoffs Namen von einem ‚Council of International Investigation‘ aus den USA. Vermutlich im Internet gekauft. Als Küche diente eine Anrichte mit Elektroplatte neben einer kleinen Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte. Gegenüber der Kochnische führte eine Tür ins Nebenzimmer, eine spärlich eingerichtete Kammer mit Schlafcouch und zerwühltem Bettzeug. Der Boden mit leeren Flaschen übersät.
Vom Flur ertönten Schritte, Paulsen schloss die Tür und setzte sich zurück in den Sessel. Baranoff kam mit einer Flasche Cognac zurück, goss zwei bauchige Schwenker bis zum Rand voll und prostete ihm zu.
„Auf den ganzen Ärger!“
Er kippte den Cognac runter wie Wasser und schenkte sofort wieder nach.
Paulsen lehnte sich zurück, streckte die Füße unter den
Couchtisch und stieß dabei auf etwas Hartes. Er hob einen Schuh auf – ein auf Hochglanz poliertes Musterexemplar.
„Gehört dem Mörder“, sagte Baranoff.
„Welchem Mörder?“
„Dem Meffert. Der Irre mit den Schuhen. Hast du gesehen, wie ihm die Nerven geflattert haben? Und weißt du, warum? Der Klinkenputzer handelt nicht nur mit Schuhen, er hat noch anderes im Sortiment – nämlich Koks.“
„Und was hat das mit dem Mädchen zu tun?“
„Kann ich dir sagen: Der hat sie abgefüttert mit dem Zeug, und sie stand bei ihm bis über beide Ohren in der
Kreide.“
„Und deshalb soll er sie umgebracht haben?“
„Hundertprozentig. Für mich war es so: Sie schuldet ihm ein paar Riesen, er will das Geld aus ihr rausprügeln, gerät in einen Blutrausch und macht sie kalt.“
„Irgendeinen Beweis dafür?“
Er sah Paulsen mit listen Augen an. „Noch nicht. Aber morgen weiß ich mehr. Dann blas ich zum Halali. Wenn
Meffert den Libanesen trifft.“
„Welchen Libanesen?“
Baranoff grinste und gab zu, dass er über die Hausanlage Mefferts Telefongespräche abgehört hatte. Dabei habe er was von einer Verabredung mit einem Libanesen am Bahnhof mitbekommen, und er sei sich sicher, dass es um einen größeren Drogendeal gehe.
„Vielleicht will er nur Schuhe verkaufen.“
Baranoff lachte. „Unfallverhütungsschuhe, wie? Die können sie im Libanon vielleicht gut gebrauchen, aber ich glaube nicht, dass die heimlich im Bahnhof übergeben werden müssen.“
Allmählich spürte Paulsen den Alkohol, die Augenlider wurden schwer, und er hatte Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Die Gedanken schwirrten. War Baranoff ein Schwätzer, oder wollte er ihn auf eine falsche Fährte locken? Woher wusste Baranoff überhaupt, dass Meffert … Paulsen musste ihn danach fragen, am besten sofort.
Er zuckte zusammen und öffnete die Augen. Wie lange hatte er geschlafen? Er setzte sich auf und blickte zu Baranoff.
Der lag mit dem Kopf auf der Sessellehne und schnarchte.
Als Paulsen am Morgen in seinem Zimmer erwachte, drang schwüle Luft durch das offene Fenster herein. Von der kümmerlichen Buche, dem einzigen Baum im Hinterhof, erklang dünnes Vogelgezwitscher. Paulsens Schädel pochte schmerzhaft. Zehn Uhr, u noch über eine Stunde bis zu Baranoffs geplanter Drogenjagd im Hauptbahnhof. Unter der Dusche ließ er die Nacht Revue passieren. Baranoff hatte versucht, aus dem Schuhvertreter eine Art drogensüchtigen ‚Jack the Ripper‘ zu machen. Selbst wenn es ein Hirngespinst war, Tatsache blieb, dass Meffert und das ermordete Mädchen auf irgendeine Weise Kontakt gehabt hatten.
Einigermaßen erfrischt machte Paulsen sich auf zum Bahnhof, gespannt, ob Baranoff und Meffert tatsächlich auftauchten. Auf dem Weg nach unten rief er Sascha an, seinen Whistleblower vom Polizeirevier Mariental, die verlässliche Quelle, wenn er schnell und unbürokratisch eine Information brauchte. Paulsen bat ihn nachzuforschen, ob es etwas über Winfried Baranoff im Polizeicomputer gab.
Unten im Foyer traf Paulsen auf Hotelchef Kohlhammer, den knorrigen Westernhelden. Mit den scharfen Mundfalten und tief in den Höhlen liegenden wässrigen Augen wirkte er heute Morgen noch magenkranker als bei der ersten Begegnung. Vielleicht hatte ihn die Aufregung im Haus mehr mitgenommen als ein raubeiniger Sheriff zugeben durfte. Diesmal trug er ein Holzfällerhemd mit groben rot-schwarzen Karos, ordentlich in die Jeans gestopft.
„Moment Zeit?“
Paulsen blickte auf die Uhr. „Bin gleich verabredet.“
„Nur kurz.“
Kohlhammers Büro lag in einem flachen Anbau hinter dem Foyer. Sie passierten eine hölzerne Hängebrücke über einen Bach, der auf den Boden gemalt und von blank geputzten Kieselsteinen umsäumt war. ‚Sheriff's Office‘ verkündete das Schild an der Bürotür. Entsprechend war das Büro eingerichtet: ein antiker Waffenschrank mit Winchesterbüchsen, ein altertümlicher dunkelgrüner, mannshoher Tresor, ein Schaukelstuhl und auf einem Beistelltisch eine Lampe in Form eines Planwagens. Über dem dunkel gebeizten Schreibtisch hing das Foto des Indianerhäuptlings Sitting Bull. Mit strenger Miene blickte er auf die eintretenden Bleichgesichter.
Kohlhammer setzte sich hinter den Schreibtisch.
„Hat sich das mit dem Siegelbruch geklärt?“
„Da gab’s nichts zu klären. Ich hatte nichts damit zu tun.“
Kohlhammer rieb sich die Stirn. „Was Baranoff angeht … was zum Teufel ist so interessant an dem Kerl, dass er ins Fernsehen soll?“
„Es geht um die Arbeit eines Hoteldetektivs. Baranoff hat sicher eine Menge zu erzählen.“
„Hoteldetektiv? Na ja, sagen wir mal Hauswart. Und wegen dem haben Sie sich hier einquartiert?“
Paulsen nickte. „Um ihm bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.“
Kohlhammer musterte ihn argwöhnisch. „Und was ist mit dem …“ Er zögerte, als scheute er sich, das unheimliche Wort auszusprechen. „Also, mit dem, was hier im Haus passiert ist? Wie denken Sie darüber?“
„Das wollte ich Sie eigentlich fragen.“
Kohlhammer blickte zu Sitting Bull, als suchte er bei ihm Rat. Nach einer Weile schien er ihn bekommen zu haben und tat ihn in gesetzten Worten kund:
„Das Leben ist ein kurzer Schatten, der über das Gras huscht.“
„Für Fayola Mafuto ein besonders kurzer Schatten“, sagte Paulsen. „War Ihnen die Ermordete eigentlich bekannt?“
„Nein.“
„Haben Sie keinen Überblick, wer hier im Hotel übernachtet?“
„Ich kümmere mich um andere Sachen.“
„Was ist mit Baranoff?“
„Baranoff arbeitet seit knapp einem Jahr bei uns.“
„Wenn ihn jemand verdächtigte, was würden Sie dazu sagen?“
Kohlhammer überlegte einen Moment, dann sagte er:
„Über einen Mann kann man nicht urteilen, bevor man nicht in seinen Mokassins gegangen ist.“
Paulsen ließ die Indianerweisheit eine Weile nachklingen, als müsse er darüber nachdenken.
„Anders gefragt: Könnte man Baranoff so etwas zutrauen?“
„Fragen Sie ihn selbst. Für mich zählt das Wort eines Mannes noch etwas.“
Paulsen gab es auf. „Wie bei den Indianern, meinen Sie, stimmt’s.“
Kohlhammer blickte ihn forschend an, schien zu überlegen, ob er ihn auf den Arm nehmen wollte, dann nickte er.
„Ja, wie bei den Indianern.“ Er deutete auf das Poster. „Wie er. Er hat zu seinem Wort gestanden. Zum Dank haben sie ihn abgeknallt.“
Paulsen nickte. „Den Sieg am Little Big Horn hat man ihm nie verziehen.“
Kohlhammer betrachtete ihn, und etwas wie Wohlwollen leuchtete in seinen Augen auf.
„Sie interessieren sich für die Geschichte der Indianer?“
„Ich weiß zumindest, dass es ’ne Tragödie war.“
Kohlhammer stand auf.
„Ich zeig Ihnen mal was.“
Er trat an das Poster und deutete auf Sitting Bulls Brust.
„Sehen Sie mal genau hin.“
Sein Finger fuhr über ein paar dunkle Punkte auf dem mit Perlenketten behängten Hirschlederhemd.
„Was sehen Sie da?“
Paulsen wusste nicht, worauf er hinauswollte.
Kohlhammer gab die Erklärung selbst. „Einschusslöcher. In dem Moment, als er ins Freie trat und die Deckung verließ, haben sie ihn erschossen.“
Für Paulsen sahen die Punkte aus wie schadhafte Stellen auf der alten Fotografie, behielt es aber für sich.
„Sie meinen, das Foto ist in den Moment gemacht worden, als er erschossen wurde?“
Kohlhammer nickte. „Dabei wollte er nur verhandeln.“
Er setzte sich zurück in den Sessel.
Paulsen dachte, Zeit, das Irrenhaus zu verlassen. Er deutete auf seine Uhr. „Muss leider los.“
Kohlhammer nickte gnädig. Paulsen hatte die Tür fast erreicht, da hörte er ihn sagen: „Wann wollten Sie denn mit der Reportage anfangen?“
Überrascht blickte Paulsen sich um.
„Wenn es geht, noch in dieser Woche.“
„Geben Sie Ihr Bestes“, sagte Kohlhammer und blickte zu seinem Häuptling.
„Danke“, sagte Paulsen mit letztem Blick auf den alten Kauz, der traumverloren dasaß, als ritt er durch die Weiten der Prärie – 140 Jahre zurück nach Little Big Horn.
Paulsen ging hinaus. In dem alten Salonspiegel neben der Tür sah er, wie Kohlhammer ihm nachblickte. Für einen Moment schien es, als ob er grinste.