Читать книгу Weihnachts-Blues - Wolfgang Schierlitz - Страница 11
ОглавлениеGeburtstagsfeier im Chaos
Es gibt intelligente, originelle Menschen, sogar gute Freunde, denen man überhaupt nichts Negatives, Verrücktes ansieht. Kommt man jedoch in ihre Wohnbehausung, ist jeder Durchschnittsmensch entsetzt. Da merkt man nämlich sofort, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Weil nicht nur Weihnachten naht, sondern auch die Freunde unmittelbar vor der Türe stehen, hat den Martl zur Jahreszeit passend eine Christbaumsammelorgie erfasst. Im Vorgarten seines abgelegenen Hauses stehen eine Edeltanne, eine serbische Omorikafichte, eine Balsamtanne, eine Korktanne, eine Zirbelkiefer, eine Felsengebirgstanne und eine Blaufichte.
»Wo und wie der diese interessanten Sorten Weihnachtsbäume überall aufgetrieben hat, noch dazu sicher alle biologisch zertifiziert, ist das große Geheimnis«, stellt die Anna-Lena erstaunt fest.
Der stolze Fachmann meint später dazu: »Das sind auch auf Frische geprüfte Bäume. Ein Spezialist und Fachmann wie ich kennt dafür den Schüttel-, Streich- und Kratztest.«
Es fehlen leider noch der Schmuck und die obligatorischen Kugeln. Nur echtes, schweres Lametta strahlt silbern und feierlich aus dem Gezweig. Aber als wir später seine diesbezügliche Sammlung bestaunen, ist uns klar: Diese kostbaren, echten, mundgeblasenen, weihnachtlichen Kugelraritäten müssen vorsorglich unter Dach und Fach bleiben.
Meine handgezogenen, zwanzig Zentimeter langen Bienenwachskerzen aus einer alten Manufaktur, von denen ich genügend besitze, werde ich an diesem 24. Dezember, wenn es dunkel ist, für ein paar Stunden anzünden. Und vielleicht schneit es heute auch noch weihnachtlich-romantisch. Ich sitze schon beinahe jeden Adventstag auf meiner Veranda mit Blick auf den leuchtenden, weihnachtlichen Wald von Lampen und bunten Lichterketten überall da drüben und trinke andächtig einen selbst gebrauten Punsch aus einem kleinen antiquarischen Drei-Liter-Eimer aus dem Jahr 1795. Selbst die Christbaumständer der Baumauswahl im Garten sind verschiedener Art, teilweise handgeschmiedet und offensichtlich aus Martls reichhaltiger, antiquarisch-kunstvoller Kollektion. Da es bisher noch nicht geschneit hat, sind sie als interessante Sammlerstücke auch im Freien gut zu betrachten. Und kaum stehen nicht nur wir, sondern auch Weihnachten und sein Geburtstag vor der Türe, geht sie auf, und der Martl begrüßt uns im feierlich blaugrünen Festanzug und einer Krawatte mit goldstrahlendem Christkind. Aber schon wird das normale Vorwärtskommen von einem Sammelsurium aller möglichen und unmöglichen Dinge blockiert. Da muss man sich hindurchwinden. Das historische Gerümpel stapelt sich an den Wänden, an Haken befestigte, vorsintflutliche Werkzeuge und Fahrräder hängen so tief von der Decke, dass man den Kopf einziehen muss.
Wie man sieht: Unser Freund Martl ist ein echtes Original, wahrlich ein waschechter Messie. Er kann nicht nur exzellente Sprüche machen und erfundene Geschichten fantasiereich ausschmücken, sondern ist auch einer schlimmen Sammelwut verfallen.
»Hoffentlich wirkt sie nicht ansteckend auf uns«, meint die Anna-Lena spöttisch. Und er, der Meister, hat noch dazu an Weihnachten Geburtstag. Deshalb sind wir erstaunlicherweise in diesen beengten Räumen bei ihm eingeladen, und das ist eine besondere Ehre für uns. Wir wissen, dass er sonst den Weihnachtsabend gerne ganz alleine verbringt.
Der Marcel meint: »Viel hat da nicht mehr Platz in deinem Wohnzimmer. Das wird aber eng.« Dann räumt er einfach das alte Kanapee und einen hochbeladenen Barockstuhl so weit ab, dass wir, wenn auch sehr gedrängt, unter dem ganzen historischen Gerümpel eintauchen können.
Missbilligend sagt der Martl sofort: »Vorsicht, das sind teilweise wertvolle Sammlerobjekte«, und schlängelt sich in die Küche durch. Mit mehreren Flaschen exklusiver Spätlese und alten, handgeschliffenen Gläsern aus Böhmen taucht er wieder auf. Auch ein Tischtuch aus dem vorvorigen Jahrhundert hat er dabei und breitet es vorsichtig auf dem Boden aus, dem einzigen kleinen freien Platz. Dann holt er noch eine üppige, schokoladenverzierte Geburtstagstorte. In Schwabacher Zierlettern steht darauf: »Martl, du bist älter geworden!«
Er schneidet sie an und kommentiert: »Die habe ich von meiner Mutter.« Als alles ebenerdig deponiert ist, sucht er sich ebenfalls einen schmalen Sitzplatz auf einer gotischen Kirchenbank.
Die praktisch veranlagte Anna-Lena meint: »Ich schlage vor, dir einen passenden, gehobenen Titel zu verleihen, nämlich: Seine Durchlaucht, der größte Messiekönig aller Zeiten.«
Der Marcel hat auch eine besondere verbale Auszeichnung für den Gerümpelliebhaber: »The Earl und Collector of historic Krempel.«
Doch diese spöttischen Titel scheinen ihn keinesfalls zu stören. Im Gegenteil fühlt der Martl sich sogar geehrt und verkündet stolz: »Danke. Wie ihr seht, habe ich eine tolle, spezielle Sammlung von historisch-wertvollen und einmaligen Objekten zusammengetragen. Teilweise stammen einige besondere Stücke aus meinem damaligen Aufenthalt als Kommandeur im Bürgerkrieg von Kroatien. Ihr könnt mir ruhig glauben, da stecken sehr viele Stunden Arbeit und Fachkenntnisse dahinter. Ich war bisher auf jedem Flohmarkt in der näheren und entfernteren Umgebung. So manche Dinge sind durch mein schlaues Feilschen wirklich billig in meinen Besitz gelangt. Für weitere größere Objekte wie historische Fahrräder und Pferdeschlitten sind mir aber, wie ihr seht, inzwischen leider Grenzen gesetzt.«
Nun spielt er sich als Führer durch sein museales Gerümpel auf, und wir steigen und stolpern ihm hinterher. Es sind viele Räume, durch die wir uns hindurchkämpfen müssen. Einer davon ist ebenerdig und unter anderem mit mindestens zwanzig vorsintflutlichen Fahrrädern mit Karbidlampen und eigenartigen Lenkern vollgestopft. Die Räder hängen teils von der Decke herab, teils sind sie eng aneinandergereiht, sogar ein gewaltiges, rostiges Hochrad ist darunter.
»Damit bin ich als Attraktion beim letzten Faschingszug mitgefahren, leider bei strömendem Regen.«
Ein weiterer Raum ist mit alten Pferdeschlitten angefüllt. Dann geht es über die Treppe nach oben. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn bereits auf den Stufen lagern viele seiner einmaligen, stolzen Sammlerstücke, vom alten Gramola mit Schalltrichter über die aufgestapelten Schellackplatten bis zu Kartons mit mundgeblasenen und handbemalten Christbaumkugeln. Schon die Verpackung ist einzigartig und mit historischen Bildern vom weißbärtigen Nikolaus mit Rute bis hin zum strahlenden Christkindlein und bunten Schrifttypen aus der Jugendstilzeit bedeckt. Im Vorbeigehen zieht er den Gramola-Kasten, auf und schon erklingt es kratzig: »Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freu’n! Lustig, lustig, tralalalala! Bald ist Nik’lausabend da, bald ist Nik’lausabend da!« Der schöne, leider zu späte Gesang ist erst viel zu schnell und dann wird er immer langsamer, bis dem alten Kasten der Atem ausgeht. Wir aber stolpern weiter.
»Vorsicht«, schreit der Martl sofort ängstlich, als der Marcel so einen seltenen Karton mit Christbaumkugeln beim Vorbeisteigen streift. Dann kommen wir in einen Raum im ersten Stock. Das heißt, wir kommen überhaupt nicht richtig hinein. Aber wir stehen am Anfang eines pyramidal gestapelten, historischen Gerümpels. Alte, wurmstichige Möbelstücke, Regale mit Lexikonbänden aus dem vorvorigen Jahrhundert und Hutschachteln aus der Zylinderzeit sind hier bis unter die Decke aufgetürmt. Dann geht es wieder vorsichtig zu unseren versteckten Sitzplätzen zurück.
»Weil ich meine historischen Schnäppchen in den anderen Zimmern noch nicht ganz aufgeräumt habe«, meint der Freund ernsthaft.
Eingeengt, aber fröhlich feiern wir dann bis über Mitternacht hinaus, und der Martl hat für jeden von uns noch ein eigenartig unbrauchbares Weihnachtsgeschenk aus einem Fundus, den er eigentlich zum Sammelmüll geben müsste. Wir bedanken uns abschließend aus vollem Herzen und vollem Alkoholpegel beim Herrn Museumsdirektor. Draußen rieselt es leise vom Himmel herab. Die feinen weißen Flocken glänzen kurz im Licht, das aus der Türe fällt und uns sozusagen heimleuchtet.