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Der Bergdichter


Der Schnee liegt meterhoch und glitzert. Unter azurblauem Himmel steigen wir langsam auf. Unsere weihnachtliche Skitour in eine völlig abgelegene Gegend führt uns im Sonnenschein zunächst zur verfallenden Klausenhütte, die vom Landratsamt schon vor Jahren geschlossen wurde. Waren es, wie es heißt, die hygienischen Bestimmungen, die auf Berghütten immer nachdrücklicher gefordert werden? Das Dach ist durch die Schneelast bereits teilweise eingefallen. Eine hell leuchtende Dezembersonne lässt jetzt um die Mittagszeit die Temperatur erheblich über den Gefrierpunkt ansteigen. Wir sitzen auf der brüchigen Terrasse, und die Vergangenheit, die weihnachtlichen Feste, der Ausklang der vielen Jahre an Silvester, die zünftigen Hüttenabende, erstehen wieder aus der Erinnerung. Von der kaputten Dachrinne und den daran hängenden langen Eiszapfen beginnt es immer stärker zu tropfen. Dann lösen sich mehrere, sausen wie Torpedos herab und glänzen silbrig im Schnee. Aus den Fensterhöhlen schauen viele Jahre Vergangenheit heraus.

Der ehemalige Wirt und die Resi fragen uns heute nicht mehr nach unseren Wünschen. Schwer bepackt mit Proviant, kamen sie oft von der Tiroler Seite durch das lange Tal herauf. Die Verköstigung da oben war einfach, reichlich und immer schmackhaft. Es war ein munteres Volk, damals. Die steirische Harmonika und eine klapprige Gitarre spielten zum Tanz. Die schweren Skistiefel trampelten über den alten Holzboden. Draußen fiel der Schnee in dichten Flocken, und drinnen lagen wir musikalisch-fantastisch vor Madagaskar, oder es erklang weihnachtlich beschaulicher: »Lasst uns froh und munter sein.«

Und das waren wir: Eine verschworene Gemeinschaft von zünftigen Bergfexen der damaligen Jahre. Der Franz, unser Wirt, seines Zeichens Hüttenchef, stellte eine Aufschnittplatte nach der anderen mit Käse, Essiggurken und Bierwurst auf die narbigen Tische. Herber Tiroler Rotwein floss in Strömen, und die Stimmung war einzigartig grandios. Das waren oft die damaligen weihnachtlichen Festtage. Die Abfahrt unter seiner Führung (er war ehemaliger Skirennfahrer) durch das Wildbachtal hinunter zu später Stunde, wenn der Vollmond sein fahles Licht spendete, wurde im Slalom durch die tiefverschneiten Bäume zum speziellen Erlebnis. Oft genug kamen wir von oben bis unten weiß wie die Schneemänner am Parkplatz an.

Heute sitzen wir sinnend auf der Terrasse. Die Zeit vergeht langsamer, aber wie immer geht sie unaufhaltsam weiter. Es ist still. Vom bewaldeten Hügel herüber ruft ein Kuckuck. Der Wind weht von Süden über den weiten Talgrund von Österreich herauf. Es ist meditative Föhnstimmung, und wir genießen diese totale Entspannung. Doch dann müssen wir weiter. Wir schnallen die Skier wieder an, und der Rucksack wird geschultert. Einmal noch sehen wir zurück. Ein großes, buntes Bündel Erinnerungen nehmen wir mit. Noch staubt der Pulverschnee, bevor ihn die zunehmende Wärme des Föhneinbruchs am Boden festhält. Nahe dem Zinnenberg abseits aller gängigen Routen kommen wir zu einer kleinen, versteckten Hütte. In einer Senke zwischen ein paar Felstrümmern auf einer gemütlichen Bank sitzt ein verwegener Typ in der nachmittäglichen Sonne und ist überrascht: Ja, wo kommt ihr denn her?

Diese Frage schaut aus seinem verwitterten, bärtigen Gesicht heraus. Er hat ein Notizbuch in der Hand und sagt nachdenklich zunächst aber nichts. Wir setzen uns dazu.

Dann meint er verdrießlich: »Jetzt war ich gerade an einem schönen Weihnachtsgedicht und ihr habt mich total verwirrt. Da kommt doch sonst niemand herüber. Noch dazu im Winter. Wie soll ich denn jetzt einen passenden Schluss für diese Eingebung finden?«

Hin und wieder ist man doch erstaunt, welche unentdeckten Talente zufällig irgendwo im Gebirge dichterisch tätig sind.

»Zeig her«, meint der Marinus, unser poetisch veranlagter Freund, einsilbig. Dann liest er vor:

»Wintermeister Nikolaus

braust im Sturm

zum Wald hinaus.

Und vom nahen Felsenturm

schreit der Habicht

in den Schnee:

Wo bleibt die Sicht

hinab zum Reh.«

Der Marinus schüttelt den Kopf. »Den Georg-Büchner-Preis wirst du dafür leider nicht bekommen«, stellt er sachlich und fachkundig fest.

Dann wird ein anderes Problem vordergründig. Geringschätzig, aber überzeugt meint der Waldschrat: »Wie kann man nur mit solchen unpraktischen modernen Latten geradeaus fahren?«

Gemeint sind unsere unterschiedlich breiten Carving-Tourenskier. Es sind zwar nicht mehr die allerneuesten, aber sie sehen noch ganz passabel und vor allem modern aus, so glauben wir zumindest. Dort, wo die Bindung montiert ist, sind sie, wie zurzeit üblich, schmaler gehalten. Unser Blick fällt auf seine vorsintflutlichen Bretter, die neben dem Hütteneingang lehnen. Sie sind aus Holz, ungefähr 2,30 Meter lang und scheinen mindestens zwanzig Jahre alt zu sein. Er folgt unserem Blick.

»Die Länge bringt die Geschwindigkeit«, stellt er fachkundig fest. Dann steht er auf und geht gebückt in seine Hüttenbehausung. Und wir stellen erstaunt fest, dass er mindestens 1,95 wenn nicht zwei Meter hoch ist. Die Zeit vergeht, und wir überlegen schon, ob wir aufbrechen sollen. Doch da erscheint er wieder im Türrahmen und winkt uns herein. Drinnen ist es dämmrig, auf dem Ofen blubbert und dampft es. Dann stellt er den gewaltigen Topf auf einen wurmstichigen Holztisch und holt aus einer Schublade ein paar verbogene Blechlöffel heraus.

»Das ist Graupensuppe mit Selleriepulver und Pfefferschoten«, informiert er uns nebenbei. »Mahlzeit!«

Wir setzen uns auf historisch aussehende, wackelige Stühle. Und schon beginnt er vorsichtig, die heiße, dicke Brühe aus dem Kessel zu löffeln. Was bleibt uns da anderes übrig, als dasselbe zu tun, wenn wir seine Gastfreundschaft nicht verletzen wollen? Auch wir fangen zaghaft an, blasend und schlürfend zu löffeln. Aber diese spezielle Suppe ist nicht nur heiß, sondern auch äußerst scharf. Erstaunlicherweise schmeckt sie wirklich köstlich, obwohl wir durch die beachtliche Schärfe die Tränen kaum zurückhalten können. Wir schnappen nach Luft und das Wort »Durst« erobert bald unsere Sinne. Zum Glück stellt er jetzt ein paar Maßkrüge auf den Tisch, öffnet eine Klappe im Boden, verschwindet und kommt gleich darauf mit einem Arm voller Märzenbierflaschen wieder an die Oberfläche.

»Ihr müsst wissen, das ist ein besonderes, süffiges Edelstarkbier. Ich bin Spezialist und war viele Jahre als Braumeister in der besten Brauerei weit und breit in Aschau tätig. Das wichtigste an einem bekömmlichen Starkbier ist das naturreine Quellwasser, mit dem es gebraut wird.«

Er füllt die Maßkrüge, und wir prosten uns lautstark klirrend zu. Das kühle Bier schmeckt hervorragend. Und dann bemerkt er nebenbei ergänzend, aber sichtlich stolz: »Dieses Edelstoffbier kommt sozusagen aus der besten Brauerei auf der ganzen Erde.«

Wie sich weiter herausstellt, ist er auch als Schiffskoch beinahe weltweit unterwegs gewesen. »Jetzt habe ich hier oben, wo ich die meiste Zeit des Jahres in meditativer Einsamkeit faulenze, meinen Ruhepol gefunden. Diese Auszeit habe ich in Madagaskar beschlossen, als die Cholera auf dem Schiff ausgebrochen war.«

Dann kommt er auch noch mit einer Flasche echtem Gebirgsenzian daher, und allmählich gerät unsere kleine Gesellschaft etwas aus den Fugen. Das helle, sonnige Licht des Nachmittags draußen ist diffuser geworden. Wir denken an die um diese Jahreszeit früh einbrechende Dunkelheit. Und schon ist, auf dem Höhepunkt unserer Stimmung, wieder Abschied angesagt. Dieser unabsehbare Spaßverderber, nämlich die Zeit, muss ja leider immer irgendwann eintreffen.

Der Marinus war in seinem Kopf fleißig dichterisch tätig und sagt: »Für dein erhabenes Gedicht habe ich einen fortsetzungsähnlichen Schluss gefunden:

Weiter saus ich

mit den langen

Brettern eiliglich,

kurzes Bangen,

wenn der Nikolausi

liegt im Schnee

o Graus – gibts a Pausi.

Juchee!«

Der große Dichter ist aber offensichtlich überhaupt nicht begeistert von den neuen Zeilen. Dann geht er abrupt hinaus. Wir sehen durch die offene Tür, wie er seine langen Latten anlegt. Wir folgen, bier- und schnapsselig, doch etwas melancholisch, und steigen ebenfalls in die Skibindung. Ein frischer, warmer Föhnwind weht uns entgegen. Dünne, grauviolette Wolkenschleier haben sich ausgebreitet. Die Fichten stehen blauschwarz, fast der ganze Schnee ist von den Bäumen abgefallen. Der Bergpanoramablick ist durchsichtig und klar geworden. Er steht noch kurz auf seinen langen Brettern, schaut uns kopfschüttelnd an und schon nimmt er ohne Abschiedsgruß vom steilen Hügel hinunter eine ungeahnte, rasante Geschwindigkeit auf.

Unsere Rufe hört er sicher nicht mehr: »Danke, danke lieber Meister für die feine Graupensuppe!«

Ohne Schwung wird er pfeilgerade immer schneller, verschwindet hinter Bäumen, taucht wieder auf und ist dann endgültig im düster werdenden, späten Nachmittag wie eine Fata Morgana verschwunden.

»Der braucht keine modernen Carvingbretter für dieses Tempo. Er hat seine Hütte nicht einmal zugesperrt«, stellt unser Dichter nachdenklich fest. »Was ist da schon zu holen in seiner Räuberbude. Und jeder mögliche Dieb wäre verblüfft über sein problemloses, leichtes Eindringen. Ein Stehlratz mit Charakter würde sogar ein paar herzliche Grüße zurücklassen. Wenn es hier oben überhaupt so einen Typen gibt.«

Dann sausen wir vorsichtig und ziemlich angetrunken in die entgegengesetzte Richtung und in die diffuse Zukunft hinein. Es dauert länger. Vor allem das abwechselnde Ausbuddeln aus dem weichen Schnee braucht doch seine Zeit. Es ist fast schon dunkel, als wir wie unwirkliche Schatten ziemlich frohgemut, beschwingt und schneegepudert unten ankommen.

Weihnachts-Blues

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