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Hüttenweihnacht


Es schneit immer noch. Der Schneesturm saust orgelnd um die Hütte, und im Ofen prasseln die Scheite. Draußen wächst die weiße Mauer, und jedes Mal, wenn das spärliche Tageslicht langsam schwindet, muss einer hinaus, um die kleinen Hüttenfenster wieder freizukehren.

»Aber das ist doch wirklich eine Weihnachtszeit wie aus dem Bilderbuch«, tönt der Martl genüsslich. Er hat sich von der Nachbaralm durch den Schnee herübergekämpft. Kraftstrotzend, muskulös und schneidig blickt er in die Runde wie der ehemalige Herkules persönlich. Da sitzt er am rot glühenden, betagten Ofen und gibt seine fantastischen Erlebnisse zum Besten. Wenn man ihm glauben darf, sind seine gewagten Abenteuer aus den Jugoslawienkriegen ziemlich unheimlich und alles andere als weihnachtlich beschaulich.

»Wie ihr wisst, war ich ja immer ein Abenteurer, und meine Zeit in der Bundeswehr hat mich besonders geprägt«, meint er, total von sich überzeugt.

»Das merkt man auch sofort«, sagt die Anna-Lena ernst. »Aber hast du da selber denken dürfen oder musstest du dazu eine Genehmigung einholen?«

Verdutzt blickt er hoch, schenkt sich jedoch nebenbei sofort wieder ein neues Glas vom feinen Riesling ein. Spätlese. Es ist bereits das fünfte und die anderen lauschen faul, aber ungläubig seinen immer fantastischer werdenden, schaurigen Erlebnisberichten, die mit steigender Alkoholzufuhr mehr und mehr ausufern. Sie denken heimlich an »Tausendundeine Nacht«. Da geht es zwar poetischer, aber auch fast so wild zu. Die alten, teilweise gebrochenen Federn des uralten Kanapees knarzen und stöhnen. Denn darauf lümmeln sich die anderen Berg- und Kletterfreunde, der Adrian, der Elias, die Anna-Lena, der Marcel und die Emma-Pauline. In seinen ziemlich wilden, unglaublich spannenden und ungeheuerlichen Ausführungen ist er zunächst nur Sturmführer, dann Adjutant, aber bald schon Kommandeur mit besonders geheimen Aufträgen und irgendwelchen oberwichtigen Aufgaben. Seine Auszeichnungen und Abenteuer im Verbund eines verwilderten, kroatischen Partisanenhaufens in unzugänglicher Gebirgswildnis werden immer unglaubhafter.

»Angriff«, schreit er immer wieder, »Angriff!«

Die flackernden Kerzen und Strohsterne an der verkrüppelten, weihnachtlich ausgestatteten Minifichte zittern beeindruckt, ja, fast ängstlich. Vielleicht durch seine gewaltigen Ausbrüche? Er hat einen ziemlich roten Kopf, obwohl er Weißwein trinkt, und die anderen können ein ungläubiges Grinsen kaum verbergen. Schon leert er erneut sein Glas und jetzt packt er auch noch Humor aus:

»Ein Weißer und ein Schwarzer kommen in eine Lawine. Der Schwarze wird sofort gefunden und überlebt. Den Weißen findet man aber erst, als alles wieder grün ist.« Er lacht am meisten. Und schon weiß er wieder was Lustiges: »Welcher Einbruch ist straffrei? Der Wintereinbruch!« Hier wird etwas mitgelacht.

In der Bratröhre schmurgelt es heimelig. Jetzt endlich wendet sich das Blatt, bevor der Martl vielleicht sogar vor lauter Wichtigkeit explodiert, denn nun unterbricht der Marcel den fantasiegeladenen, unheimlichen Kriegsberichterstatter: »Ich habe gestern einen Hirschen geschossen«, meint er so nebenbei, wohlwissend, dass der Martl Jagdscheinbesitzer und leidenschaftlicher Waffennarr ist. »Der brutzelt jetzt da drin.«

Dem Martl sein Gesicht wird nun immer länger und dunkelrot. Er schnappt nach Luft. »Das ist jetzt aber ein dicker Hund. Du weißt schon, dass ich das zur Anzeige bringen müsste.« Sein Blick wird umgehend energisch, ja fast amtlich. »Ich sag nur: Wilderei! Strafe! Gefängnis!«

Alles freut sich herzlich über den notorischen Sprüchemacher und über seinen Auftritt als Vertreter von Recht und Ordnung. Der selbst ernannte Sheriff über Wald und Wild ist völlig verstört. Außerdem hat er den Faden zur Fortsetzung seiner fantastischen Schauergeschichten total verloren. Wutentbrannt springt er auf und saust davon, hinaus in die treibenden Schneeschauer.

Endlich ist weihnachtlicher Friede eingekehrt. Das Geheimnis in der Bratröhre: Die Anna-Lena war kürzlich in London und will den Freunden eifrig, wenn auch vergeblich, ihre moderne, vegane Einstellung zum Speiseplan schmackhaft machen. In Wirklichkeit ist der Braten nämlich eine Variante aus einem englischen Kochbuch mit Rezepten für alkoholfreie Cocktails und Häppchen. Das Gericht ist nicht nur ausnahmslos vegan und aus regionalen Bioprodukten zubereitet, sondern kommt auch komplett, sage und schreibe, ohne Weizen und Zucker auf den Tisch. Weise meint sie noch: »Ausschließlich alkoholfreie Getränke gehören ebenfalls unbedingt zu dem innovativen und erfolgreichen Konzept der beiden englischen Buchautorinnen. Selbst im tiefsten Schweinebraten-Oberbayern hat die vegane Küche viel zu bieten.«

Der Marcel ist schon seit geraumer Zeit ziemlich beduselt und freut sich diebisch über seinen Erfolg, dass er den schaurig-tragischen Helden und Kriegskommandanten etwas reizen konnte. »Ich habe kürzlich mit seiner langjährigen Freundin gesprochen«, meint er süffisant. »Ihre Meinung dazu: ›Der war noch nie in Jugoslawien‹, das es ja heute auch gar nicht mehr gibt. Ich habe sie auch gefragt«, meint der Marcel, »wie kommt es eigentlich, dass du dich ausgerechnet in den Martl verliebt hast? Nachdenklich meint sie darauf: ›Siehst du, jetzt wunderst du dich auch!‹«

Dabei geht er zum alten Grammofon hinüber und legt eine betagte Schall-Schellackplatte auf. Es ist die damals, 1939, weltbeste und von dem kuriosen, musikalischen Künstlervirtuosen auf dem Akkordeon namens Will und seinem Orchester eingespielte »Bier-Barrel-Polka«, mit der er hauptsächlich in Amerika große Berühmtheit erlangte. Früher hieß der Typ noch Gustav Adolf Wilhelm Glahé und war angeblich siebzehnfacher Träger der Goldenen Schallplatte. Andächtig-amüsiert lauschen alle den kratzigen Tönen. Und auch die Rückseite zeigt das musikalische, singende Tenorgenie namens Will virtuos mit seiner Quetschkommode: »Sie will nicht Blumen und nicht Schokolade.«

Doch dann wird es ernst. Die Nadel am Grammofon pflügt nur noch kratzig durch die letzten leeren Rillen. Im Ofen knistert es.

»Hört ihr das auch?«, ruft die Emma-Pauline plötzlich in die Beinahe-Stille hinein. Die Runde spitzt die Ohren. Verwehte, schwache Laute. »Das sind Hilferufe!«

Der Marcel stellt das Weinglas auf den Tisch, und der Adrian springt sofort auf. In fliegender Eile ist die Winterausrüstung angelegt, und hinaus geht es in den treibenden Schneesturm. Dann hört man länger nichts mehr, außer dem Heulen des Windes um die Hütte. Früh ist die abendliche Dämmerung hereingebrochen, und nun wird es immer schneller dunkel. Es vergeht eine Viertelstunde, es vergeht eine halbe Stunde. Die Freunde werden unruhig und machen sich schon bereit, ebenfalls nachzuforschen. Dann rumpelt es plötzlich gewaltig an der Türe, bevor sie aufspringt und ein eisiger Schneeschauer hereinfegt. Beide Freunde stützen den berühmten Kriegsberichterstatter, den erschöpften Martl, sie schütteln den Schnee ab, und der Gerettete schleppt sich in die gute Stube. Völlig ausgepumpt und fertig landet er auf der Ofenbank. Es ist zwar nicht sehr weit zur Nachbarhütte, seiner Unterkunft, aber der Martl hat sich, nur leicht bekleidet, im Schneesturm und in seinem Suff total verirrt und wäre um ein Haar in die nahe Schlucht gestürzt.

Kaum hat er sich wieder etwas erholt, meint er schwermütig, aber theatralisch: »Danke! Das muss gefeiert werden. Ich bin gerettet.« Er strahlt über das ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd. »Ich bin schon wieder total lebendig. Wie neugeboren.« Die gesunde Gesichtsfarbe kehrt schnell zurück. Und schon prostet der aus der Schneenot Befreite wieder mit dem vollen Glas in die Runde. Da wissen alle anderen, dass der gute Wein knapp werden wird. Kein Wort mehr vom vermeintlichen Hirschbraten in der Ofenröhre. Im Gegenteil. Vorsichtig erkundigt er sich, wie das mit dem weihnachtlichen Abendessen wäre. Er könne ja, wie man sehe, im Moment wegen des Unwetters noch nicht gleich in seine heimatliche Hüttenbehausung zurück, noch dazu in seinem angetrunkenen Zustand. Das wissen die anderen auch.

Dann tischt die Anna-Lena auf. Das schmackhafte, goldbraun Gebackene wird verteilt.

»Da habt ihr mich ja sauber hereingelegt«, meint der Held versöhnlich. Schmatzend und ohne weitere Widerrede verzehrt der Martl genüsslich die vegane Speise.

»Du wirst am Ende noch ein leibhaftiger Veganer«, lacht die Anna-Lena amüsiert.

Der Suffkopf nickt weise und erklärt zum Dank jovial: »Es folgt ein Witz. Von mir. Es darf gelacht werden: Neulich treffe ich einen alten Freund mit seinem Papagei. Ich frage ihn, ob das Vieh auch sprechen kann. Der grinst aber nur. ›Weiß ich doch nicht‹, krächzt der Papagei.«

Der Martl lacht am meisten. Und gleich bricht erneut sein Humor wieder aus: »Neulich ist eine Lawine bergauf abgegangen. Warum? Sie hatte unheimlich starkes Heimweh!« Verhaltenes Lachen belohnt den quirligen Burschen.

Dann wird es still, nur das alte Kanapee knarzt. Im Ofen prasseln die Fichtenscheite. Für kurze Zeit ist im schwachen Schein der Petroleumlampe weihnachtliche, nachdenkliche Beschaulichkeit eingekehrt. Aber gar nicht lange. Leider. Denn dann beginnt der große Held eine neue Märchenstunde: »Damals, als ich Kommandant in Kroatien war, …«

Weihnachts-Blues

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