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2 Die sowjetische Besatzung

2.1 Die Potsdamer Konferenz

Vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 hielten die Vertreter der Siegermächte auf dem Schloss Cecilienhof in Potsdam eine Konferenz ab. An dieser nahmen Josef Stalin für die Sowjetunion, Harry Truman für die USA und Winston Churchill für Großbritannien teil. Da Churchills Partei die Unterhauswahlen verloren hatte, kam ab dem 28. Juli 1945 für Churchill als neuer Premierminister Clement Attlee, zu diesem Treffen. Frankreich blieb außen vor. Es erhielt aber die Möglichkeit, den Beschlüssen dieser Konferenz zuzustimmen oder sie abzulehnen …

Mit der nach außen gezeigten Geschlossenheit bekräftigten die Konferenzteilnehmer, dass sie gewillt waren, als Besatzungsmacht Verantwortung für „Berlin und Deutschland als Ganzes“ in den Grenzen von 1937 zu übernehmen.

Auf diesem Treffen wurde das nördliche Ostpreußen der UdSSR zugeschlagen, die Ostgrenze Polens endgültig und die Oder-Neiße-Grenze als vorläufig festgelegt. Ein künftiger Friedensvertrag sollte Deutschlands Ostgrenze bzw. Polens Westgrenze endgültig regeln. Im Kommuniqué vom 1. August 1945 umrissen die Vertreter der UdSSR, der USA und Großbritanniens (sowie unter Vorbehalt Frankreich) die Aufgaben des Alliierten Kontrollrates. Hierzu gehörten in groben Zügen die Entmilitarisierung, die Demokratisierung, die Entnazifizierung und die Dezentralisierung der Machtbefugnisse.

Im Londoner Abkommen vom 14. November 1944 wurde beschlossen, zur Verwaltung Nachkriegsdeutschlands einen Alliierten Kontrollrat einzurichten. Dieser trat am 30. Juli 1945, also während der Potsdamer Konferenz, das erste Mal zusammen.

Im Gegensatz zum Versailler Vertrag wurde den Deutschen, die seit 1945 plötzlich unter der Staatshoheit anderer Staaten lebten, das Recht aberkannt, eine andere Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie mussten ihre angestammte Heimat verlassen. Damit legalisierten die drei Staatsvertreter eine millionenfache gewaltsame Vertreibung/Zwangsaussiedlung und missachteten damit die Atlantik-Charta! Laut Artikel XIII sollte die „Überführung“ der Deutschen aus der russischen Enklave Kaliningrad, aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn „in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen“. Diese Wortwahl ist in Anbetracht dessen, was die deutschen Vertriebenen erlebt haben und noch erleben werden, blanker Euphemismus! Die Realität sah ganz anders aus! Im Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974 ging man von schätzungsweise 600 000 Deutschen bzw. Deutschstämmigen aus, die zwischen Ende 1944 und Ende 1947 durch Flucht und Vertreibung ums Leben kamen. Es mutet schon etwas befremdlich an, wenn Staatsführer, an deren Händen Blut klebt, über das Schicksal eines anderen Volkes entscheiden wollen. Damit soll keineswegs die Schuld, die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen haben, klein geredet werden. 1985 schrieb der deutsche Journalist und Verleger des „Spiegels“, Rudolf Augstein, in einem Beitrag dazu:

„Das Gespenstische an der Potsdamer Konferenz lag darin, daß hier ein Kriegsverbrechergericht von Siegern beschlossen wurde, die nach den Maßstäben des späteren Nürnberger Prozesses allesamt hätten hängen müssen. Stalin zumindest für Katyn, wenn nicht überhaupt, Truman für die überflüssige Bombardierung von Nagasaki, wenn nicht schon von Hiroschima, und Churchill zumindest als Ober-Bomber von Dresden, zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon erledigt war.

Alle drei hatten ‚Bevölkerungsumsiedlungen‘ verrückten Ausmaßes beschlossen, alle drei wußten, wie verbrecherisch diese vor sich gingen.“11

Dieses Zitat ist nicht nur in seiner Klarheit, sondern auch dahin gehend bemerkenswert, dass in den heutigen Leitmedien angesichts der fortgeschrittenen transatlantischen Indoktrination der (west-)deutschen „Elite“ solch ein Satz nicht mehr zu lesen wäre, nicht einmal im heutigen „Spiegel“!

Auf der Potsdamer Konferenz wurde auch die Frage nach der Reparation angesprochen. Die Russen und eigentlich auch die Franzosen wollten dabei einen radikaleren Kurs fahren als die US-Amerikaner und die Briten. Und als die Konferenz an dieser Meinungsdifferenz zu scheitern drohte, hieß die Kompromissformel, dass jede Besatzungsmacht in ihrer Besatzungszone nach Belieben die Reparationen eintreiben dürfe. Das war eine folgenreiche Entscheidung für die Menschen, die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. später in der DDR lebten! Sehenden Auges hatten die Westalliierten die Bevölkerung in der SBZ bzw. in der DDR einer wesentlich brutaleren russischen Ausplünderungspolitik überantwortet.

Ich möchte hier noch mit einem Irrtum aufräumen: Fälschlicherweise wird das Kommuniqué der Potsdamer Konferenz als „Potsdamer Abkommen“ bezeichnet. Das ist insofern verkehrt, als es sich hier um eine Willenserklärung dreier Staatsmänner handelt. Aus staatsrechtlicher Sicht hatte es nie Gesetzeskraft erlangt, weil es nicht von den Parlamenten verabschiedet worden ist. Einige Textteile wurden sogar bis 1947 geheim gehalten. Allerdings erfolgte eine Umsetzung der Vorgaben aus der Potsdamer Konferenz trotzdem, weil es alle Alliierten so wollten.

2.2 Die Organisation des sowjetischen Besatzungsapparates in Deutschland zwischen 1945 und 1949

Die Alliierten richteten sich nach 1945 in den ihren zugewiesenen Besatzungszonen in Deutschland häuslich ein. Für die grundsätzlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen war der Alliierte Kontrollrat verantwortlich. Ansonsten schalteten und walteten die Alliierten in ihren Zonen, wie sie wollten. Der Alliierte Kontrollrat arbeitete auf der rechtlichen Grundlage des Londoner Abkommens von 14. November 1944 und auf der Grundlage der Berliner Vier-Mächte-Erklärung vom 5. Juni 1945. Im Kontrollrat waren die vier von den Alliierten als Oberbefehlshaber in Deutschland eingesetzten Personen vertreten: Marschall Schukow (UdSSR), General Dwight D. Eisenhower (USA), Feldmarschall Bernard Law Montgomery (Großbritannien) und General de Lattre de Tassigny (Frankreich). Der Wirkungskreis war auf die deutschen Gebiete westlich der von nun an als vorläufig bezeichneten Oder-Neiße-Grenze beschränkt. Der Alliierte Kontrollrat erließ Kontrollgesetze und Direktiven. Inwieweit diese dann umgesetzt wurden, lag in der Verantwortung der Militärgouverneure. Waren die Meinungen zu einem Sachverhalt zu gegensätzlich, so konnten sie nach den Anweisungen ihrer Regierungen handeln. In der sowjetisch besetzten Zone hatte seit Juni 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Verwaltungshoheit inne.

Sehr schnell zeichneten sich die gegensätzlichen Meinungen in Wirtschaft, Politik und in der Umsetzung der Entnazifizierung ab, waren die Gemeinsamkeiten so gut wie aufgebraucht. Im Gegensatz zu den anderen Besatzungszonen fand in der SBZ 1946 eine Bodenreform statt, bei der der Landadel vollkommen und die Großbauern teilweise enteignet wurden. Alle Großbetriebe wurden in Volkseigentum überführt. Personen, die bezichtigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben, verloren ihr gesamtes Hab und Gut und wurden, wenn sie sich nicht rechtzeitig in die westlichen Zonen absetzten, eingesperrt. Wie ich noch zeigen werde, verlief die Entnazifizierung in der SBZ weitaus härter als in den Westzonen und schoss teilweise auch über das Ziel hinaus. Die sowjetische Militärverwaltung förderte mehr oder weniger die Machtergreifung der deutschen Kommunisten und die Verdrängung der Sozialdemokraten, die mit der Gründung der SED am 21./22. April 1946 ihren Anfang nahm. Die SED wurde Stück für Stück zur Kader- und Staatspartei aufgebaut. Die demokratischen Parteien und Organisationen, die die sowjetische Militäradministration zuließ, waren für die SED eher schmückendes Beiwerk, aber keine starke konkurrierende politische Kraft. In der SBZ stellten die Russen in Wirtschaft und Politik alle Hebel in Richtung Sozialismus.

Die von mir geschilderte sowjetische Politik in Deutschland und die Schaffung von Satellitenstaaten führten zunehmend zu Spannungen mit den Westalliierten. Wirtschaftlich und politisch entwickelten sich die West- und die Ostzone auseinander. Im November/Dezember 1947 kamen in London die Außenminister der Siegermächte zusammen, um ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen über Deutschland auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Sowjetunion sah es als eine Einmischung an und verließ am 20. März 1948 den Alliierten Kontrollrat und am 16. Juni 1948 die Alliierte Kommandantur (für Groß-Berlin). Den kleinsten gemeinsamen Nenner sehe ich darin, dass die Besatzungsmächte hüben wie drüben nach relativ kurzer Zeit (nach ungefähr einem Jahr) zur Erkenntnis gekommen sind, dass es nicht funktioniert, das Maximale aus Deutschland herauszuholen, wenn sie die deutsche Industrie weiter demontieren und ihren Machtanspruch auf Deutschland für möglichst lange Zeit zu zementieren.

Zur endgültigen Spaltung kam es, als in der Westzone am 20./21. Juni 1948 die Deutsche Mark eingeführt wurde, die Ostzone vom 24. bis zum 28. Juni 1948 mit einer Währungsreform nachziehen musste und am 8. April 1949 durch den Beitritt der französischen Besatzungszone zur angloamerikanischen Wirtschaftszone in Deutschland die Trizone entstand.

Die Gründung der BRD und dann der DDR im Jahre 1949 war nur noch eine offizielle Bestätigung der Spaltung Deutschlands. Das änderte aber nichts am Zustand, keine staatliche Souveränität zu haben. Die Besatzungsmächte hüben wie drüben behielten alle Macht fest in ihren Händen.

Die Mehrheit der Bevölkerung, die eher unpolitisch war, sah die Staatsgründungen eher gelassen. Das lag daran, dass die Menschen zu dieser Zeit mit großen existenziellen Problemen zu kämpfen hatten. Deutschland lag noch in Trümmern. Zudem gab es noch keine befestigte Staatsgrenze, sodass man ohne Hindernisse von Ost nach West oder von West nach Ost gehen konnte. Über die Situation der Menschen werde ich an anderer Stelle ausführlich eingehen.

Zwischen 1945 und 1949 ließ die SMAD zur Entlastung ihrer Arbeit Zentralverwaltungen einrichten, die alle Lebensbereiche abdeckten. Es gab bis zu 15 Zentralverwaltungen. Die Posten in diesen Verwaltungen wurden im Laufe der Zeit immer mehr mit systemtreuen Deutschen, insbesondere Kommunisten, besetzt. Die Sowjetunion leistete somit sozialistische Aufbauarbeit. Als die DDR dann gegründet wurde, gingen einige Zentralverwaltungen nahtlos in Ministerien der DDR über.

2.3 Die Organisation des sowjetischen Besatzungsapparates in der DDR zwischen 1949 und 1990

Am 7. Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. Mit der Gründung der DDR erhielt die DDR-Regierung zwar offiziell die Verwaltungshoheit. Diese war allerdings eher formell, weil die sowjetische Militäradministration immer das letzte Wort hatte.

Drei Tage nach der Gründung der DDR, also am 10. Oktober 1949, wurde die SMAD aufgelöst. An ihre Stelle trat dann die Sowjetische Kontrollkommission (SKK). Diese trat dezent in den Hintergrund. Sie ließ die DDR-Regierung schalten und walten und griff nur dann ein, wenn diese Politik den Interessen der Sowjetunion zuwiderlief. Die SKK konnte auch Gesetze vorgeben. Sie achtete auf die Durchsetzung der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz.

Nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953 setzte in der Sowjetunion eine gewisse Liberalisierung ein, die sich auch auf die Satellitenstaaten auswirkte. Am 28. Mai 1953 wurde die Sowjetische Kontrollkommission in die Hohe Kommission der UdSSR in Deutschland umgewandelt. Auf der Grundlage eines Ministerratsbeschlusses vom 20. September 1955 erlangte die DDR die „volle Souveränität“. Diese politische Entscheidung kam nicht rein zufällig. Denn kurz zuvor, am 5. Mai 1955, hatte die BRD von den Westalliierten mit dem Deutschlandvertrag die „volle Souveränität“ zuerkannt bekommen. Im Gegensatz zur Zusage an die DDR gab es im Grundgesetz der BRD Textpassagen, die ganz offen die Vorherrschaft der Besatzungsmächte zementierten. Das soll aber nicht das exklusive Thema dieses Buches sein. Jedenfalls ist es ein offenes Geheimnis, dass beide deutsche Staaten nur eine beschränkte Souveränität genossen.

Diese Lockerung der Zügel der Macht war von allen Besatzungsmächten keineswegs uneigennützig. Sie brauchten schlichtweg hochmotivierte militärische Bündnispartner für den Kalten Krieg. So wurde am 12. November 1955 in Westdeutschland die Bundeswehr und am 1. März 1956 in der DDR die Nationale Volksarmee (NVA) gegründet. Beide Staaten wurden 1955 Mitglied sich feindlich gegenüberstehender Militärbündnisse. Die BRD wurde Mitglied der NATO und die DDR Mitglied des Warschauer Vertrages. Es ist schon eine gewisse Tragik, dass sich von nun an Deutsche militärisch gegenüberstanden …

Zurück zur Organisation des sowjetischen Unterdrückungsapparates: Nachdem die UdSSR per Ministerratsbeschluss 1955 der DDR die „volle Souveränität“ zugesichert hatte, wurde das Amt des Hohen Kommissars durch einen Rechtsakt aufgehoben und durch einen Beistandspakt ersetzt. Fortan fand die dezente Kontrolle der DDR-Staats- und der Bezirksregierungen durch die sowjetische Botschaft in Berlin statt. Interessant ist, dass, wie schon angedeutet, es wohl bis heute keine eindeutigen schriftlichen Belege analog den alliierten Vorbehaltsrechten für eine De-facto-Machtausübung der Sowjetunion auf die DDR seit dem Jahr 1955 gibt. Die in der DDR stationierte sowjetische Armee dürfte allemal ein Druckmittel gewesen sein. Zudem stand seit 1968 die Breschnew-Doktrin im Raum, wonach alle Ostblockstaaten, die sich in der sowjetischen Einflusssphäre befanden, keine souveränen Staaten seien.

Der Alliierte Kontrollrat existierte seit 1948 lediglich auf dem Papier. Aufgrund der friedlichen Revolution in der DDR kam er im Dezember 1989 wieder zusammen. Durch den Zwei-plus-vier-Vertrag wurde der Alliierte Kontrollrat aufgelöst.

2.4 Die sowjetischen Truppen in Deutschland zwischen 1945 und 1994

Die sowjetischen Truppen, die ab dem 29. Mai 1945 im restlichen Deutschland ‒ genauer gesagt: in der SBZ ‒ blieben, setzten sich aus Truppenteilen der Ersten und Zweiten Weißrussischen Front sowie aus der Ersten Ukrainischen Front zusammen. Sie nannten sich Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland (GSBTD). Das Oberkommando residierte bis 1951/1952 in Potsdam-Babelsberg und dann in Wünsdorf. Die anfängliche Truppenstärke wurde von ungefähr 1,5 Millionen Soldaten und Offizieren 1947 auf 350 000 reduziert und stieg während des Koreakrieges (1950‒1953) und der Berlin-Krise (1958‒1962) auf 500 000 bis 600 000 Militärangehörige an. Prinzipiell sank die Zahl der sowjetischen Soldaten in der DDR und im vereinigten Deutschland nie unter 350 000. Die sowjetischen Truppen hatten in der DDR 616 Standorte mit 1116 Liegenschaften, die insgesamt so groß wie das Saarland waren. Das damalige und jetzige Land Brandenburg trug mit 237 Standorten die Hauptlast der Besatzung.12 Das lag wohl auch daran, dass es territorial Berlin umschließt, und vielleicht auch daran, dass es Teil des Staates Preußens war.

Seit 1947 gab es für die sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland eine Richtlinie, wonach diese den Kontakt mit der deutschen Bevölkerung möglichst meiden sollten. Diese Regelung entsprang der Angst vor Spionage. Und so kamen sowjetische Soldaten und Offiziere eher über staatlich organisierte Veranstaltungen in Kontakt mit Deutschen, meistens aber höchstens mit DDR-Funktionären. Sollte es zu privaten Kontakten gekommen sein, so mussten sie abgebrochen werden oder es kam zu Versetzungen und anderem mehr.

Sowjetische Wehrpflichtige mussten in Deutschland für zwei Jahre bleiben. Sie blieben, wenn nicht militärische Übungen angesetzt waren oder wenn sie nicht von einem militärischen Standort zum anderen gehen mussten, fast immer in der Kaserne. Unterkunft und Essen würden viele deutsche Wehrpflichtige dort eher als eine Zumutung empfinden. Im Monat bekam der Soldat 30 DDR-Mark. Er wurde von den Offizieren oftmals nicht gut behandelt, erst recht nicht, wenn er gegen Regeln verstieß oder wenn er in der deutschen Öffentlichkeit Straftaten jeglicher Art beging. Der sowjetische Soldat war in den Augen vieler DDR-Bürger ein armer Schlucker … Den sowjetischen Offizieren ging es dagegen in der DDR sehr gut. Sie erhielten je nach Dienstgrad einen Sold zwischen 750 und 1.500 DDR-Mark. Sie durften ihre Familien mit zum Standort nehmen und wohnten oftmals in Villen und anderen Wohnhäusern, die 1945 enteignet worden waren. Für die Schulkinder der Offiziere gab es eine Schule. Die ganze Infrastruktur befand sich oftmals in abgegrenzten, vor neugierigen Blicken geschützten Arealen. Diese durfte kein Deutscher ohne ausdrückliche Genehmigung betreten. Seit den 1970er-Jahren waren von der sowjetischen Armee betriebene Lebensmittelgeschäfte, sogenannte Russenmagazine, auch für die deutsche Bevölkerung zugänglich. Dort konnte man russische Produkte kaufen.

Auf dem militärischen Gelände wurde es mit dem Umweltschutz nicht so genau genommen. Das ist noch eine nette Untertreibung …

Beim Aufstand vom 17. Juni 1953 reagierte die sowjetische Militäradministration mit drakonischen Maßnahmen. Für 167 der 217 (Land-)Kreise in der DDR wurde der Ausnahmezustand verhängt. An der Zerschlagung des Aufstandes beteiligten sich 16 Divisionen mit ungefähr 20 000 Soldaten. 34 Demonstranten wurden von der deutschen kasernierten Polizei und von sowjetischen Soldaten erschossen. Sowjetische und deutsche Gerichte sprachen insgesamt sieben Todesurteile aus. Diese wurden dann auch ausgeführt. Weitere Personen starben in der Haft.

Die Umbenennung der sowjetischen Truppen in der DDR im Jahre 1954 in Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) muss in dem Zusammenhang gesehen werden, da die Regierung der UdSSR am 25. März 1954 die Absicht erklärte, dass die DDR „voll souverän“ werden solle.

Am 12. März 1957 schlossen die Regierungen der DDR und der Sowjetunion ein Abkommen über den zeitweiligen Aufenthalt sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR ab. In diesem wurden die Truppenstärke der GSSD, ihre Stationierungsstandorte und die Übungsplätze mit den zuständigen Staatsorganen der DDR abgestimmt. Interessant ist, dass in diesem Abkommen festgelegt wurde, dass sich die sowjetischen Besatzungstruppen nicht in innere Angelegenheiten der DDR einzumischen hatten. Welchen Wert diese Zusicherung hatte, was der DDR bei Ausscheren aus der von Moskau vorgegebenen Marschrichtung blühen könnte, zeigten das Eingreifen der in Dresden stationierten sowjetischen Soldaten 1968 bei der Niederschlagung des Prager Frühlings und die Verkündung der Breschnew-Doktrin im selben Jahr.

1959 stationierte die sowjetische Armee in Fürstenberg an der Havel Mittelstreckenraketen vom Typ R-5M und ab 1968 nukleare Sprengköpfe in den Sonderwaffenlagern Himmelpfort und Stolzenhain.

Nach dem Tod des Generalsekretärs der KPdSU Konstantin Tschernenko wurde am 11. März 1985 Michail Sergejewitsch Gorbatschow zu seinem Nachfolger gewählt. Im Zuge der Reformierung der Armee wurde 1988 die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in Westgruppe der Truppen (WGT) umbenannt. Gorbatschow hob die Breschnew-Doktrin auf, 1985 noch inoffiziell, 1988 ganz offiziell. Am 21. März 1989 erhielt Erich Honecker von Gorbatschow ein Schreiben, dass er sich von nun an nicht auf einen militärischen Beistand durch die sowjetischen Truppen verlassen könne. Auf der Basis des Erlasses über die Reduzierung der UdSSR-Truppen ließ Gorbatschow die Truppenstärke in den Staaten des Warschauer Vertrages um 500 000 Mann reduzieren. Davon war in der DDR insbesondere Jüterbog betroffen, wo die 32. Garde-Panzerdivision Poltawa stationiert war. Diese Maßnahme war nicht nur das Ergebnis seiner Vision eines gemeinsamen Hauses Europa, sondern auch den gähnend leeren Staatskasse geschuldet. Die sowjetischen Truppen griffen auch nicht ein, als im Herbst 1989 in der DDR immer mehr Menschen auf die Straße gingen und die Herrschaft der SED ins Wanken geriet. Dass diese Revolution friedlich vonstattenging und die Deutschen die Vereinigung der DDR mit der BRD erleben durften, hatte zweifellos mit der Rolle Gorbatschows und der Sowjetunion allgemein zu tun. Das sollten die Deutschen nie vergessen.

Im Zwei-plus-vier-Vertrag wurde auch der Abzug der sowjetischen Truppen bis Ende 1994 beschlossen.

Während die Führung der Sowjetunion 1994 unter die Besetzung Deutschlands einen Schlussstrich zog, dachte und denkt die US-Regierung bis heute nicht im Traum daran, Deutschland zu verlassen. Ein Teil der Besatzungsrechte lebt in deutschen Gesetzen und eventuell in Geheimverträgen fort. Ansonsten sorgt die geglückte Indoktrination weiter Teile der westdeutschen „Elite“ durch die angloamerikanischen Alliierten dafür, dass jedes Unabhängigkeitsstreben bei ihnen im Keim erstickt worden ist, sodass die US-Truppen auch weiterhin in Deutschland bleiben dürfen. Für die ehemaligen DDR-Bürger bot sich ein sehr entlarvendes Schauspiel: Westdeutsche Medienvertreter und Politiker bekamen Schnappatmung, als Anfang August 2019 der US-amerikanische Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, der Bundesregierung drohte, die US-Truppen aus Deutschland abzuziehen, falls diese ihre Militärausgaben nicht umgehend auf zwei Prozent des Bundeshaushalts erhöht.13

2.5 Die Sowjetische Besatzungszone, die DDR und die Reparationskosten

2.5.1 Das Ringen der Alliierten um eine gemeinsame Haltung gegenüber Nachkriegsdeutschland

Nachdem im Juli 1943 die deutschen Truppen die Schlacht am Kursker Bogen verloren hatten und Italien im September 1943 kapituliert hatte, war absehbar, dass Hitler den Krieg nicht mehr gewinnen würde. Auf der Konferenz von Teheran im Dezember 1943 und vielen darauffolgenden Treffen der Westalliierten mit der Sowjetunion wurden Vorstellungen ausgetauscht, wie das Nachkriegsdeutschland aussehen könnte und welche Maßnahmen man ergreifen müsse, um zu verhindern, dass Deutschland erneut einen Krieg anzettele, und wie man Deutschland nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch schwächen könne. Auch in den Administrationen der Regierungen in Moskau, London und Washington wurden Deutschlandpläne ausgearbeitet. Einige Entwürfe sahen eine äußerst harte Haltung gegenüber Deutschland vor. Es gab auch Vorstellungen, dass Deutschland nach der Erfüllung bestimmter Bedingungen die Möglichkeit bekommen solle, relativ schnell wieder auf die Beine zu kommen. Letztere Ideen wären aber bei der Bevölkerung in den USA und in Großbritannien und auch bei Stalin nicht auf Zustimmung gestoßen.

Eine der bekanntesten und umstrittensten Vorstellungen, wie das Nachkriegsdeutschland zu gestalten sei, ist zweifellos der Morgenthau-Plan. Diesen arbeitete der US-amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau im August 1944 für den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt aus. Er beinhaltete unter anderem die Umwandlung Deutschlands von einem Industrie- in einen Agrarstaat. Er war einer von mehreren Entwürfen. Auf der Zweiten Québec-Konferenz, die vom 11. bis zum 19. September 1944 stattfand, trafen sich Churchill und Roosevelt. Der US-Präsident nahm anstatt seines Außenministers Cordell Hull seinen Gegenspieler Henry Morgenthau zur Konferenz mit. Bei der Québec-Konferenz ging es um die Verlängerung der US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftshilfe, aber auch um die Abstimmung gemeinsamer Ziele für den Umgang mit Deutschland. Pikanterweise stand am Textende des Abkommens ein Satz, der aus dem Morgenthau-Plan entnommen wurde. Dieser lautete: „Dieses Programm zur Ausschaltung der Kriegsindustrie in Ruhr und Saar soll Deutschland in ein Land mit vorwiegend agrarischem und ländlichem Charakter verwandeln.“14 Anfangs lehnten Winston Churchill und sein Außenminister Anthony Eden den Morgenthau-Plan ab, akzeptierten ihn aber als weitere Diskussionsgrundlage. Morgenthau stellte den Briten einen 6,5-Milliarden-Kredit in Aussicht. Das stimmte Churchill um. Während die Außenminister der USA und Großbritanniens dagegen Einwände erhoben, hatten Churchill und Roosevelt dieses Abkommen unterschrieben. Als am 21. September 1944 aufgrund einer Indiskretion aus dem US-Finanzministerium diese Textpassage veröffentlicht wurde, war der Protest in der Bevölkerung der USA und Großbritanniens unerwarteterweise sehr groß. Auch die Reaktionen der US-Presse waren sechs Wochen vor den Präsidentschaftswahlen durchweg negativ. Daraufhin distanzierten sich Churchill und Roosevelt von dieser Aussage. Der Plan wurde deshalb nicht dem Senat zur Beratung zugeleitet, sondern ad acta gelegt. Am 20. Oktober 1944 lehnte Roosevelt jede konkrete Deutschlandplanung ab, setzte in der Folge die harsche Direktive JCS 1067 durch, wonach Deutschland als besiegtes und nicht als befreites Land behandelt werden sollte, und unterband alle Instruktionen für die European Advisory Commission EAC (zu Deutsch: Europäische Beratende Kommission) in London. Diese wurde Anfang 1944 von Russland, den USA und Großbritannien gebildet, um eine gemeinsame Haltung zu den Kapitulationsbedingungen und zum Besatzungsstatut für Deutschland auszuarbeiten. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem neuen US-Präsidenten Harry S. Truman schied Henry Morgenthau aus dem Außenministerium und aus den wichtigsten Entscheidungsgremien aus. Formal ist die Aussage des US-amerikanischen Nachschlagewerkes Wikipedia richtig, dass der Morgenthau-Plan nicht die Grundlage angloamerikanischer Nachkriegspolitik für Deutschland war. Ein mündiger Bürger unterscheidet aber bei Politikern zwischen deren Worten und Taten. Und wie sich dann noch zeigte, kann man sich nicht des Eindruckes erwehren, dass beim Handeln vieler amerikanischer Politiker und Militärs der Morgenthau-Plan zumindest im Hinterkopf präsent gewesen sei: Zur unangenehmen Wahrheit gehörte die praktizierte Bestrafungsphilosophie der USA nach Kriegsende, der deutschen Bevölkerung keine Hilfe zu gewähren, weder eine wirtschaftliche noch eine humanitäre. Die US-Besatzungstruppen wurden angewiesen, keine Lebensmittel an die hungernden Deutschen zu verteilen. Bis zum 5. Juni 1946 durfte die US-amerikanische Hilfsorganisation CARE (Cooperative for American Remittance for Europe) nicht ihre europaweit bekannten CARE-Pakete nach Deutschland senden. Die Direktive JCS 1067 wurde erst im Juli 1947 durch die deutschlandfreundlichere Direktive JCS 1779/1 ersetzt. Es bleibt festzuhalten, dass weder auf der Konferenz von Teheran, auf der Québec-Konferenz, auf der Konferenz von Jalta, bei der Europäischen Beratenden Kommission noch auf der Potsdamer Konferenz sich Russland, die USA und Großbritannien darauf einigen konnten, wie und in welchem Ausmaß die Reparationen Deutschlands stattfinden sollten. Aufgrund der Erfahrungen mit den Reparationszahlungen wegen des Ersten Weltkrieges waren sich die Alliierten nur in einem einig: Die Reparationen sollten nicht mehr über Geldzahlungen erfolgen. Stalins Reparationsforderung an Nachkriegsdeutschland in Höhe von 10 Mrd. US-Dollar wurden von den USA und Großbritannien entschieden abgelehnt. Der verzweifelte Kompromiss auf der Potsdamer Konferenz, jeder könne sich in seiner Besatzungszone nach Belieben bedienen, war für die Bevölkerung in der Sowjetisch Besetzten Zone und der daraus entstandenen DDR äußerst tragisch.

2.5.2 Was zu den Reparationsleistungen zählt und die Diskrepanz bei der Wertstellung

Im Pariser Reparationsabkommen vom 14. Januar 1946 wurden die Forderungen der alliierten Verbündeten (außer diejenigen der Sowjetunion) an Deutschland aufgelistet. Die Sowjetunion bestand hingegen auf ihren Maximalforderungen.

Als Reparation galten die Konfiszierung des Auslandsvermögens, von Devisenbeständen, von Patenten, Warenzeichen, Sachlieferungen, die Demontage von Industrieanlagen und Ähnlichem sowie die Zwangsarbeit deutscher Kriegsgefangener und Zivilisten. Nicht nur in den Bombennächten der letzten Kriegsmonate, auch durch den Raub von Kunstschätzen durch die alliierten Streitkräfte ging viel kulturelles Erbe verloren. Selbst wenn ich kein Rechtsexperte bin, so glaube ich nicht, dass geraubte Kunst, egal, von wem sie gestohlen wurde, für die Verrechnung von Reparationskosten herangezogen werden darf, dass das also nicht mit internationalem Recht vereinbar ist. Ich denke da insbesondere an die Beutekunst aus Deutschland, die in Sankt Petersburg deponiert ist.15

Der erste Deutsche Bundestag beschäftigte sich 1949 mit der Ermittlung des Auslandsvermögens nach dem Zweiten Weltkrieg und kam zum Schluss, dass sich eine Ermittlung der Gesamtsumme als äußerst schwierig erweise, sodass ihre Schätzung um den Faktor 16 über derjenigen der Inter-Allied Reparations Agency (IARA) lag. Da die damalige Bundesregierung davon ausging, dass die Abtretung der ostdeutschen Gebiete an Russland und Polen bis zum Friedensvertrag nur eine vorübergehende Sache sei, wurde der Wert dieser Gebiete nicht in die Ermittlung des Auslandsvermögens einbezogen. Allerdings blieb der Bundesregierung auch nichts anderes übrig, die Kröte der starken Diskrepanz bei der Werteinschätzung der IARA zu schlucken, da sie sich in der schlechteren Position der Bittstellerin befand. Angesichts der damaligen Situation der BRD erschien es der Bundesregierung als ratsamer, das Angebot der Alliierten anzunehmen. Denn die Summe des Schuldenerlasses beim Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 lag weit über ihrer Schätzung der Höhe des deutschen Auslandsvermögens. Der Erlass bezog sich zwar nicht auf die Reparationsschulden des Zweiten Weltkrieges, für die junge Bundesrepublik ging es aber ums finanzielle Überleben. Hierzu später mehr.

2.5.3 Die Demontage in der West- und in der Ostzone

Die UdSSR erlitt im Zweiten Weltkrieg die größten Kriegsschäden. Daher wurde ihr von den Westalliierten zugestanden, sich bei Reparationen (bei der Demontage von Industrieanlagen) auch in der Westzone bedienen zu dürfen. Ihr standen 25 Prozent aller Demontagen zu, wobei sie für 15 Prozent einen Gegenwert aus der SBZ in Form von Nahrungsmitteln, Holz, Kali, Kohle und Zink u. a. m. liefern sollte. Zehn Viermächtekommissionen wählten die zu demontierenden Betriebe aus. Da die Sowjetunion eine Gegenleistung ablehnte, stoppte der US-amerikanische Militärgouverneur Lucius Clay am 25. Mai 1946 den Transfer von Sachleistungen auf das sowjetische Reparationskonto aus der von den USA besetzten Zone. Daraufhin stellten auch Frankreich und Großbritannien die Transferleistungen aus ihren Besatzungszonen an die Sowjetunion ein.16

Bis März 1947 wurden in der SBZ 11 800 km Eisenbahnschienen demontiert und in die UdSSR transportiert. Das entspricht einer Verringerung auf 48 Prozent des 1938 im mittleren Deutschland existierenden Schienennetzes. Zwischen 2000 und 2400 der größten und modernsten Betriebe wurden vollkommen demontiert. Die Demontage des Schienennetzes und der Industrieanlagen endete in der Ostzone in dem Moment, als die USA ab 1948 die Westzone mit dem European Recovery Program, eher bekannt unter dem Namen Marshallplan, unterstützte. Der Nutzen der Demontage wurde immer fraglicher, weil sich abzeichnete, dass nur circa 25 Prozent der abgebauten Anlagen in der Sowjetunion wirklich in Betrieb genommen werden konnten. Viele Maschinen und Maschinenteile wurden falsch gelagert und transportiert. Dann fehlten die richtigen Montagepläne, oder die Arbeiter in Deutschland hatten aus stillem Protest gegen die Zerstörung ihrer Arbeitsplätze bei der Demontage und Einlagerung „aus Versehen“ Teile mit in die Sendung hineinzulegen „vergessen“, sodass diese dann in der Sowjetunion fehlten. Der Abbau von Anlagen in der Energiewirtschaft führte zu Stromengpässen. Da für die sowjetische Militärverwaltung und für die Regierung der DDR die Produktion von Gütern oberste Prioritäten hatte, kam es zu Spitzenzeiten in den Wohnvierteln immer wieder zu Stromabschaltungen.

Die Gefahr, die SBZ durch Demontagen nicht mehr überlebensfähig zu machen und dieser dann seitens der UdSSR finanziell unter die Arme greifen zu müssen, stieg mit jeder Demontage. Zudem drohte die Stimmungslage in der Bevölkerung zu kippen. Das waren die Hauptgründe, den Abbau von Anlagen und ganzen Betrieben zu stoppen. Der Ministerrat der Sowjetunion erließ zwar die Verordnung Nr. 32-19s, die die „weitere Montage von Ausrüstungen deutscher Betriebe verbot“. Trotzdem forderten verschiedene sowjetische Ministerien die Fortsetzung der Demontage in der SBZ. In Wirklichkeit endete diese erst im April 1948, als sich die Führungsriege in der UdSSR sicher war, dass sich die SBZ auf dem besten Weg zum „demokratischen“ (Satelliten-)Staat befand.17

In der Westzone und in der jungen BRD ging die Demontage noch weiter bis Ende 1950. Erst mit dem Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 wurde offiziell ihr Ende beschlossen. Viele westdeutsche Betriebe nutzten die Kredite des Marshall-Planes, um sich für die fehlenden Maschinen sofort neue und produktivere zu kaufen …

Der Wert aller demontierten Anlagen betrug in der SBZ/DDR 5 Mrd. DM und in der Westzone/BRD 5,4 Mrd. DM. Auch wenn die Demontage im Vergleich zwischen den beiden Zonen wertmäßig ausgeglichen zu sein schien, so war diese für den Osten weitaus schmerzlicher. Denn: Bis 1948 hatte der Substanzverlust an industrieller und infrastruktureller Kapazität in der Sowjetischen Besatzungszone ein Maß angenommen, das, alle Branchen zusammengerechnet, 70 Prozent der Wirtschaftskraft von 1944 auf dem gleichen Gebiet entspräche. Das Verhältnis des Kapazitätsverlustes durch Demontagen zwischen West und Ost beträgt nach wissenschaftlichen Ermittlungen des Wirtschaftshistorikers Dr. Rainer Karlsch immerhin 1:10!18

Die KPD, die SPD und seit April 1946 die SED glaubten, dass Betriebe, die in Volkseigentum überführt worden seien, einen gewissen Schutz vor der Demontage hätten. Die SMAD und die Führungsriege in der UdSSR ließen sich in ihrem einmal eingeschlagenen Deutschlandkurs nicht beirren. Selbst das Bitten, wenigstens Teile der Betriebe aus volkswirtschaftlichen Gründen in der SBZ zu belassen, hatte bis zu 99,9 Prozent keinen Erfolg. Es gab Fälle, wo der SMAD Kompromissbereitschaft zeigte, dann aber seine Zusage nicht mehr einhielt und wo SED-Funktionäre aus der unteren Ebene der Bevölkerung/der Belegschaft vortäuschten, sie hätten positive Signale von der SMAD bekommen, was aber nicht der Wahrheit entsprach. Von ganz wenigen Aktionen abgesehen, herrschte in der SED-Führung ein lähmendes Schweigen. Die Demontage von Betrieben und Anlagen durch die Sowjetunion sowie das Verhalten der SED führten zu einem bleibenden Imageschaden. Es war einer von vielen Gründen, die letztendlich zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 führten …

2.5.4 Sowjetische Aktiengesellschaften in der SBZ/DDR

Relativ schnell gelangten die Besatzungsmächte in Ost und West zur Erkenntnis, dass die anvisierten Reparationsleistungen allein durch Demontage der Industrieanlagen u. Ä. nicht zu erreichen waren. Der, etwas zugespitzt formuliert, „Morgenthau-Plan light“ konnte zuerst aus finanziellen und später aus bündnispolitischen Gründen nicht durchgehalten werden. Deshalb sollte beispielsweise aus ökonomischer Sicht von nun an zweigleisig gefahren werden: Demontage und Entnahme aus einer stabilisierten Produktion. In der amerikanisch besetzten Zone sorgte die Direktive JCS 1779/1 für eine deutschlandfreundlichere Politik. Der Befehl Nr. 167 der SMAD vom 5. Juni 1946 mit dem Titel „Über den Übergang von Unternehmungen in Deutschland in das Eigentum der UdSSR auf Grund der Reparationsansprüche“ markierte einen Wendepunkt in der sowjetischen Besatzungspolitik. Um die 200 größere Betriebe in der SBZ sollten in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) nach deutschem Recht überführt werden, wobei ungefähr 300 000 Beschäftigte in bis zu 35 Aktiengesellschaften zusammengefasst wurden. Die Hauptverwaltung sowjetischen Vermögens im Ausland beim Ministerrat der UdSSR war einhundertprozentiger Besitzer. 1947 betrug der Anteil an der Industrieproduktion in der SBZ ungefähr 20 Prozent. Zeitweise lag sie sogar bei 30 Prozent. Die SAG waren hauptsächlich in der chemischen, Elektro-, Gummi- und in der Mineralölindustrie angesiedelt. Ab Ende der 1940er-Jahre durften die Länder der SBZ bzw. die DDR die Sowjetischen Aktiengesellschaften zurückkaufen.

Die Kosten für die seit Beginn des Kalten Krieges heimlich betriebene Aufrüstung (Aufbau einer Kasernierten Volkspolizei), die Reparationen und die Unterhaltskosten für die Besatzungstruppen banden große Teile des Staatshaushalts. 1952 machten diese 22 Prozent und 1953 noch 18 Prozent aus.19 Hinzu kamen Kosten für den Rückkauf der SAG und für die Inhaftierung politischer Gefangener. 1953 waren die Ausgaben zeitweise nicht durch Einnahmen gedeckt. Deshalb ordnete die Regierung der DDR für die Volkseigenen Betriebe (VEB) drastische Normerhöhungen an. Das, aber auch noch andere Gründe führten zu einer Welle von Streiks durch Arbeiter und Angestellte. So bedauerlich die Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war, war dieser jedoch nicht ganz umsonst. Die Führung in der Sowjetunion erkannte, dass sie ihre Besatzungspolitik in Bezug auf Reparationen nicht fortsetzen konnte. Sie stellte zum 1. Januar 1954 die Reparationsforderungen ein. Die letzten 33 SAG gingen zu diesem Zeitpunkt eigentumsrechtlich auf die DDR über.

Eine SAG spielte hier von Anfang an eine Sonderrolle und war von der vollkommenen Eigentumsübergabe ausgeschlossen: Es war die Wismut AG. Diese hatte für das sowjetische Atomwaffenprogramm eine enorme Bedeutung, weil sie Uran aus den Bergwerken in Thüringen und Sachsen lieferte. Ab dem 1. Januar 1954 wurde dieses Unternehmen in die Sowjetisch Deutsche Aktiengesellschaft SDAG Wismut mit 50-prozentiger deutscher Beteiligung umgewandelt. Am 20. Dezember 1991 wurden von der BRD die sowjetischen Aktienanteile übernommen.

2.5.5 Der Aderlass an Wissen und Fachleuten in der SBZ

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland einen Aderlass an Wissen, Wissenschaftlern und Fachleuten in einem bis dato nie bekannten Ausmaß. Ich möchte mich hierbei vornehmlich auf die Sowjetische Besatzungszone konzentrieren, aber auch ab und zu diesbezüglich einen Blick auf die Westzone/auf die Westalliierten werfen, weil es immer wieder Interaktionen zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten gab.

Da die USA im Zweiten Weltkrieg von der Zerstörung verschont geblieben war, waren die Amerikaner weniger an Sachleistungen als an der Erlangung deutschen Wissens interessiert. Sofort, als die US-amerikanischen Truppen deutschen Boden betreten hatten, schwärmten eigens dafür ausgebildete Truppen aus, um Patente, eingetragene Warenzeichen, Experimentier- und hochmoderne Industrieanlagen, Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker aufzuspüren und in die USA zu bringen. Von besonderem Interesse waren die Raketen-, die Flugzeug-, die Antriebs-, die optische, die chemische, die Farbfilm- und die Maschinenbauindustrie.

Was viele ehemalige DDR-Bürger nicht wissen, weil es zwar noch regional besprochen, da nicht abstreitbar, aber in den offiziellen Geschichtsbüchern in der DDR verschwiegen wurde, ist die Tatsache, dass die US-Truppen Sachsen-Anhalt, Thüringen und das westliche Sachsen einschließlich Leipzig bis Ende Juni 1945 besetzt hielten.20 Allenfalls wurde vom „Handschlag in Torgau“, als am 25. April 1945 sowjetische Truppen auf die US-amerikanischen stießen, berichtet …

Bis 1945 war die Industrie des mittleren Deutschlands konzentriert im südlichen Teil: in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Sachsen. Ich denke an Jenaer Glaswerke Schott & Gen. sowie Carl Zeiss in Jena, die Leunawerke in Leuna, die Buna-Werke in Schkopau, die Filmfabrik in Wolfen, Hentschel in Staßfurt, die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke in Dessau, die Siebel Flugzeugwerke KG in Halle usw. Seit 1944 wurden Berlin, das Berliner Umland und die Heeresversuchsanstalt Peenemünde, wo die Ernst Heinkel Flugzeugwerke an der Entwicklung von Einstrahlflugzeugen und Raketenantrieben beteiligt waren, immer stärker von den Alliierten bombardiert. Daher erfolgte eine Dezentralisierung. Betriebsteile und Berliner Forschungseinrichtungen wurden nach Thüringen, Sachsen-Anhalt und nach Sachsen umgesiedelt. Im Harz und im Gebirge um Jena trieben Zwangsarbeiter Stollen in die Berge, wo dann die Produktion von Munition, Flugzeug- und Raketenteilen sowie die Forschung relativ ungestört bis Kriegsende fortgesetzt werden konnte.

Das starke Interesse der Amerikaner am deutschen Wissen/an Patenten in der Chemie und in der Flugzeug- und Raketentechnik war nicht ganz unbegründet. Denn nach Aussage Adenauers hatte zum Beispiel die IG-Farben gegenüber der Chemieindustrie in den USA einen Wissensvorsprung von mindestens zehn Jahren.21 So ähnlich war es auch in der Flugzeug- und Raketentechnik.

Die USA nutzte die kurze Zeit ihrer Besatzung in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen intensiv aus, um an Patente, Industriegeheimnisse, wissenschaftliche Forschungsergebnisse, an Experimentieranlagen und an wichtige Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker zu kommen. Von 1945 bis 1947 eigneten sich die USA in ihrem Machtbereich deutsche Patente und Betriebsgeheimnisse im Wert von 10 Mrd. US-Dollar an.22 Im Vergleich dazu: Beim Marshall-Plan erhielt die Westzone einen Kredit von lediglich 1,4 Mrd. US-Dollar! Der Schaden für Deutschland war allein aus der Sicht immens.

Mit der Operation Overcast rekrutierten die USA 1945/1946 deutsche Wissenschaftler und Ingenieure, um mit ihrer Hilfe das militärische Rüstungsprogramm bezüglich der Flugzeug- und Raketentechnik deutlich voranzubringen. Die Operation Paperclip diente dazu, wichtige deutsche Fachleute vor der Flucht ins Ausland abzuhalten und sie stattdessen in die USA zu bringen und sie eventuell auch einzubürgern. Die bekannteste Person war zweifellos Wernher von Braun. Der Umgang mit ihm ist ein Beispiel dafür, dass die USA wenig Berührungsängste gegenüber Personen hatten, die mit einer nationalsozialistischen Vergangenheit behaftet waren, wenn es um ihre Vorteile ging.23

Deutsche Wissenschaftler und Ingenieure, die die USA nicht für ihr Rüstungsprogramm brauchte und die die anderen Siegermächte nicht für ihre Zwecke nutzen sollten, wurden im Rahmen des Projektes Safehaven gefangen genommen, aufs Land verfrachtet und zum Nichtstun verdammt. Es handelte sich hierbei um 1800 Wissenschaftler und Techniker aus allen Bereichen der Forschung und Entwicklung und 3700 Familienangehörige. Diese Personen durften, von der Umwelt abgeriegelt, höchstens artfremde Tätigkeiten durchführen. Sie befanden sich gewissermaßen in einem Abklingbecken des Wissens. Damit sollten sie ihre Spitzenposition in der Wissenschaft verlieren. Diese Wissenschaftler, Techniker und herausragenden Denker standen somit dem Aufbau Deutschlands nicht zur Verfügung.24

Das britische „Engagement“ zur Erlangung von Wissen und Wissenschaftlern aus Deutschland war etwas bescheidener und von weniger Erfolg gekrönt. Am ehesten bekannt ist die Operation Matchbox. Hierbei wurden 200 deutsche Wissenschaftler zusammen mit ihren Familienangehörigen gegen ihren Willen nach Australien gebracht. Schwerpunkt der Forschung war es, aus Braunkohle Treibstoff zu gewinnen. Diesbezüglich hatten sich Forscher in den Buna-Werken schon ein Verfahren ausgedacht.

Das VW-Werk in Wolfsburg wollten die Briten vollkommen demontieren. Bestimmte Kreise in der britischen Militäradministration, Politik und Wirtschaft konnten aus den technischen Unterlagen von VW keine besonderen Erkenntnisse ziehen und sahen beim Verkauf der bisher produzierten Modelle auf dem britisch beherrschten Markt keine Aussicht auf Verkaufserfolge. Dieser Fehleinschätzung ist es zu verdanken, dass der Betrieb erhalten blieb, die Produktion von Pkws in Wolfsburg wieder anlaufen durfte und heutzutage VW zu einem der größten und weltweit führenden Konzerne in seiner Branche geworden ist …

Auch die Sowjetunion zog schnell nach, als es um die Ergreifung von Maßnahmen zur Erlangung deutschen Wissens ging. Ab Mai 1945 konzentrierte sich in der Sowjetischen Besatzungszone die Suche der sowjetischen Militäradministration auf alle deutschen Wissenschaftler und Ingenieure, die sich mit Flugzeug- und Raketentechnik beschäftigten und sich nicht in die Westzone oder ins Ausland abgesetzt hatten. Sie wurden teils dienstverpflichtet, teils durch hohe Gehälter gelockt, in Experimental-Konstruktionsbüros, in sogenannten OKB, zu arbeiten. (OKB steht auf russisch für: опытно-конструкторское бюро). In der SBZ gab es sieben dieser Art.

Nachdem die US-amerikanischen Truppen mit Menschen und Material abgezogen waren, errichtete die SMAD in Bleicherode, bei Nordhausen und südlich des Harzes im Sommer 1945 das Institut RABE (Raketen-Bau und -Entwicklung) und die „Zentralwerke“, ein weiteres Zentrum, wo alle Wissenschaftler und Techniker zusammengefasst wurden. Bis zu 6000 Beschäftigte mussten die V2 (eine deutsche Großrakete) konstruieren und bauen. Diese wurde dann in die Sowjetunion geliefert und getestet. Die sowjetischen Spezialtruppen versuchten notgedrungen, viele Wissenschaftler aus der zweiten Reihe, die eng mit Wernher von Braun zusammenarbeiteten, für ihr Raketenprogramm zu gewinnen oder sie dazu zu zwingen. Es gelang ihnen sogar, Helmut Gröttrup, der Stellvertreter von Wernher von Braun gewesen war, aus der Westzone für diese Arbeit anzuwerben. Zu jenen bekannten deutschen Wissenschaftlern, die am gleichen Projekt arbeiteten, gehörten auch Heinrich Wilhelmi und Werner Albring.

Alle von mir genannten Zentren wurden dem sowjetischen Ministerium für Bewaffnung unterstellt und von einem sowjetischen Offizier geleitet. Die deutschen Wissenschaftler und Ingenieure hatten die Aufgabe, verloren gegangene oder zerstörte wissenschaftlich-technische Dokumente über die neuesten deutschen Waffensysteme zu rekonstruieren und fertigzustellen. Damit verstieß die Sowjetunion gegen Geist und Buchstabe der Abmachungen der Potsdamer Konferenz, auf deutschem Boden keine Waffensysteme zu entwickeln und herzustellen. Daher kam von den Westalliierten scharfer Protest. Die Sowjetunion sah sich genötigt, ihre Strategie bei der Aufrüstung mit deutscher Beteiligung zu ändern …

Am 22. Oktober 1946 ab 05:30 Uhr wurde in der SBZ eine lange, bis ins letzte Detail geplante Aktion, die von der SMAD geleitet wurde, durchgeführt. Mehr als 100 Güterzüge wurden hierzu bereitgestellt und das örtliche Telefonnetz außer Betrieb gesetzt. Diese Operation lief unter dem Namen Aktion Ossawakim. (In Wirklichkeit müsste sie „Operation Ossoawiachim“ heißen.) Im Rahmen dieser Aktion suchten Spezialkräfte der Sowjetarmee die Wohnungen ausgewählter Wissenschaftler und Techniker auf, die sich mit Flugzeug- und Raketentechnik beschäftigten. Sie umstellten die Wohnungen und forderten sie auf, alles auszuräumen, was sie mit in die Sowjetunion nehmen wollen. „Auf Befehl der sowjetischen Militäradministration müssen Sie fünf Jahre in Ihrem Fach in der Sowjetunion arbeiten. Die Arbeitsbedingungen sind dieselben wie für einen Russen in entsprechender Stellung. Sie werden Ihre Frau und Ihr Kind mitnehmen. Sie können von ihren Sachen so viel mitnehmen, wie sie wollen. Packen Sie!“ Diesen Spruch bekamen die vollkommen überraschten Personen von den bei der Aktion mitgenommenen Dolmetschern aus der Sowjetarmee zu hören.25 Innerhalb weniger Stunden wurden in Bleicherode 150 Personen zumeist gegen ihren Willen mit Familie und Mobiliar in Züge ins Ausland verfrachtet. So oder so ähnlich lief es zeitgleich in mehreren Orten in der SBZ ab. Insgesamt betraf es rund 2500 Wissenschaftler, Techniker und andere Spezialisten und ungefähr 4000 Familienangehörige.

Die im Rahmen der Aktion Ossawakim verschleppten Wissenschaftler und Techniker kamen aus den Spezialgebieten „Radar und Funk“, „Kreisel- und Navigationssysteme“, „Feststoffraketenantriebswerke“, „Flüssigkeitsraketen“, „Flugzeuge, Strahltriebwerke und Flugabwehrraketen“, aus der Erdölindustrie und aus der Foto- und Kinoindustrie. Die verschleppten Deutschen wurden auf verschiedene Forschungszentren in der Sowjetunion aufgeteilt. Einerseits bauten sie dort die deutschen Waffensysteme und Flugzeuge nach und verbesserten diese, andererseits wurden völlig neue Waffen und Flugzeugtypen entwickelt. Das Hauptziel war es, eine Trägerrakete zu entwickeln, die drei Tonnen Nutzlast 3000 km weit transportieren konnte. Als 1953 Stalin starb, durften viele Deutsche, nachdem sie die sowjetischen Militärs und Wissenschaftler eingearbeitet hatten, in die nun entstandene DDR zurückkehren. Dort erwarteten sie oftmals hohe Positionen in Wissenschaft und Wirtschaft.

Ich möchte hier einige Beispiele nennen: Brunolf Baade, der bei den Junkers-Werken in Dessau Leiter der Konstruktionsabteilung war, 1946 in die Sowjetunion verschleppt worden war, kam 1954 ins Nachkriegsdeutschland zurück. Er wurde Chefkonstrukteur in der DDR-Flugzeugindustrie. Baade entwickelte das Strahlenverkehrsflugzeug 152.

Erich Apel, ein Maschinenbauingenieur, arbeitete in Peenemünde und in Bleicherode zeitweise mit Wernher von Braun zusammen. Er wurde auch in die Sowjetunion gebracht und musste sich mit Raketentechnik beschäftigen. Apel durfte 1952 in die Heimat zurückkehren und machte im DDR-Ministerium eine steile politische Karriere.

Manche gingen mit Unterstützung westlicher Geheimdienste auch in die BRD. Die letzten deutschen Wissenschaftler und Techniker durften erst 1958 in ihre stark veränderte Heimat zurückkehren.

Obwohl die Deutschen insbesondere in der Raumfahrt der UdSSR und der USA für einen enormen Entwicklungsschub sorgten, nahmen in der Öffentlichkeit dieser Länder andere die Lorbeeren entgegen …

Carl Zeiss Jena erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg zwei ähnliche Verschleppungsaktionen: Zuerst nahmen US-amerikanische Truppen 150 Spezialisten und einige für sie interessante Maschinen mit nach Baden-Württemberg. Für eine komplette Demontage war die Besatzungszeit zu kurz. Danach verschleppten sowjetische Truppen 300 Wissenschaftler, Ingenieure und andere Fachleute in die Sowjetunion. Carl Zeiss Jena sollte vollkommen demontiert werden. Es gleicht schon einem Wunder, dass diese Firma erhalten blieb und ihre Produkte selbst unter DDR-Wirtschaftsverhältnissen wieder Weltniveau erlangten.

Während es der Sowjetunion mit der Hilfe der Deutschen in der Raketentechnik gelang, eine weltweit führende Position in der Raumfahrttechnik zu erringen, gab es diesen Erfolg mit der sowjetischen Optikindustrie nicht. Das lag unter anderem daran, dass für diese Aktion im Gegensatz zur Entwicklung der Flugzeug- und Raketentechnik durch Deutsche viel weniger Geld zur Verfügung stand, die Standorte für die Optik in der UdSSR sehr dezentralisiert waren, die deutschen Optik-Spezialisten daher überlastet waren und es einen mangelhaften Wissenstransfer auf die russischen Mitarbeiter gab.26

2.5.6 Reparationen der Westzonen/BRD und der SBZ/DDR

Wenn es um die Reparationen für Schäden und Verluste aus dem Zweiten Weltkrieg geht, wird in verschiedenster Literatur immer wieder auf die Londoner Schuldenkonferenz vom 28. Februar bis 8. August 1952 verwiesen. Es bleibt festzuhalten, dass die Konferenz diese Frage nur am Rande behandelt hatte. Viel eher wurden die einzelnen Schulden für Deutschland als Ganzes und für die junge BRD aufgedröselt. Es ging hauptsächlich um die Benennung der verbliebenen Schulden, die sich für ganz Deutschland aus dem Versailler Vertrag ergaben, und um die Schulden, die die Westzonen/die BRD durch den Marshall-Plan angehäuft hatten.

Die BRD hatten den Alleinvertretungsanspruch auf Deutschland als Ganzes (in den Grenzen von 1938) erhoben. Die Vertreter der BRD wiesen darauf hin, dass die Weimarer Republik letztendlich an den zu hohen Reparationskosten gescheitert sei. Denn große Teile Deutschlands (gemeint sind das mittlere Deutschland und Ostdeutschland) seien bis zur Klärung der Grenzen in einem Friedensvertrag abgetrennt, sodass die ökonomische Kraft zur Erbringung der Reparationskosten nur sehr eingeschränkt sei. Adolf Hitler hatte gleich bei seinem Machtantritt im Jahre 1933 sein Wahlversprechen eingelöst und die Reparationszahlungen, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben, eingestellt. Die Geldsumme aus dieser Zeit stand nun im Raum. Diese Summe wurde Gesamtdeutschland von den Alliierten erlassen. Wenn sich Deutschland, in welchen Grenzen auch immer, vereinigen sollte, dann sollte der Restbetrag abgeleistet werden. Mit der Vereinigung der BRD und der DDR im Jahre 1990 begann die Begleichung der Reparationsschulden, und sie endete 2010.27

Die Westzonen und die BRD hatten 1948 bis 1952 aus dem Fonds des Marshallplans, offiziell European Recovery Program (ERP) genannt, 1,4128 Mrd. US-Dollar erhalten. Bis 1966 zahlte die BRD ungefähr 1 Mrd. US-Dollar ab. Der Rest wurde ihr erlassen.

Die Reparationskosten aus dem Zweiten Weltkrieg wurden Deutschland als Ganzes mit dem Abschluss der Londoner Schuldenkonferenz ausgesetzt und sollten bei einem Friedensvertrag neu geklärt werden. Aus bestimmten Gründen wurde bei der Vereinigung der deutschen Staaten auf einen Friedensvertrag verzichtet. Im Zwei-plus-vier-Vertrag wurde angemerkt, dass dieser faktisch ein Friedensvertrag sei. Die Alliierten und die anderen ehemaligen Verbündeten verzichteten auf Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg.

Da die DDR die Bezahlung von Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg ablehnte, keinen Kredit aus dem Marshallplan erhielt, sich auch nicht als Teil Gesamtdeutschlands verstand und keine Vereinigung mit der BRD anstrebte, war für sie die Londoner Schuldenkonferenz im Gegensatz zur BRD ohne Bedeutung. Für die BRD endeten mit dieser Konferenz die Reparationszahlungen. Sie wurde aber verpflichtet, jährlich Besatzungskosten in Höhe von 2,4 Mrd. US-Dollar zu zahlen.

2.5.6.1 Was haben nun die Westzonen/die BRD und die SBZ/die DDR an Reparationen für den Zweiten Weltkrieg bezahlt?

Hierzu finde ich in der Literatur diverse Summen, die mitunter erheblich auseinanderliegen. Folgende Ursachen haben dazu geführt:

1. ideologisch geprägte Absichten,

2. die Verwendung unterschiedlicher Bezugsgrößen,

3. regelwidriges Verhalten der Besatzungsmächte und fragwürdige Berechnung beim Reparationskonto durch die Interalliierte Reparationsagentur in Brüssel und

4. eine unklare Berechnung/„Gutschreibung“ des Wertes zur Reparationslast auf die SBZ/DDR bzw. auf die Westzonen/BRD bezüglich des geistigen Diebstahls durch die Besatzungsmächte.

Ich möchte auf die einzelnen Punkte näher eingehen.

Zu Punkt 1:

Um die Sowjetunion in einem besonders schlechten Licht dastehen zu lassen, wurde besonders im Kalten Krieg von westlichen Wissenschaftlern, Medien und Politikern die Summe der durch die SBZ/DDR bezahlten Reparationen bewusst in die Höhe getrieben. Aber auch glühende Anhänger der DDR waren bemüht, einen sehr großen Unterschied in den Reparationsleistungen zwischen den Westzonen/BRD und der SBZ/DDR herbeizuschreiben.

Zu Punkt 2:

Die verwendeten Bezugsgrößen waren/sind höchst unterschiedlich. Mal wird der US-Dollar mit seinem Wert aus der Vorkriegszeit, ein anderes Mal wird der Dollar mit seinem Wert aus der Nachkriegszeit zum Vergleich herangezogen. Bei einigen Vergleichen wurden die Reparationskosten in DM umgerechnet. Der Dollar und auch die DM der BRD war zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich viel wert. Zuweilen lässt sich nicht erkennen, ob in einem Vergleich die Zahlen in der Währung Deutsche Mark mit Zahlen in der Währung Mark der DDR gegenübergestellt wurden.

Zu Punkt 3:

Am 14. Januar 1946 wurde im Pariser Reparationsabkommen unter den 18 Teilnehmern der ehemaligen alliierten Verbündeten die prozentualen Anteile an Reparationssprüchen festgelegt. Die am 24. Januar 1946 gegründete Interalliierte Reparationsagentur in Brüssel (IARA) eröffnete ein Reparationskonto. Mit diesem Konto sollte dann die festgelegte Verteilung der Kriegsbeute überwacht werden. Hierzu war sie auf die wahrheitsgemäßen Angaben der vier Besatzungsmächte angewiesen. Das ist genau der wunde Punkt, wo vieles zuungunsten Deutschlands und der anderen ehemaligen alliierten Verbündeten lief. Es ist ein offenes Geheimnis, dass alle vier Besatzungsmächte bereits vor der Eröffnung des Reparationskontos kräftig Selbstbedienung betrieben. Denn sie betrachteten sich als „reparationspolitische Sonderfälle“. Die sowjetischen Truppen betraten bereits 1944 dauerhaft deutschen Boden. Sie zerstörten oder verschleppten bereits zu dieser Zeit Industrieanlagen, beschlagnahmten Lokomotiven und Schiffe. Für die deutschen Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch und Jochen Laufer gibt es Indizien dafür, dass sich die Sowjetunion auch in Ostpreußen, Pommern und Schlesien kräftig bediente.28

Die Briten eigneten sich Maschinen/Industrieanlagen im Wert von 2 Millionen Pfund Sterling an. Der als General und seit 1949 als Militärgouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone fungierende Lucius D. „Clay berichtete zunächst für seine Zone Entnahmen in Höhe von 500000 Dollar, was später dann nach oben bis zu 10 Millionen Dollar (2,5 Millionen Pfund) korrigiert wurde. Die Franzosen wiederum räumten ein, aus ihrem Gebiet ohne vorherige Benachrichtigung der IARA 6000 Maschinen entfernt zu haben; der Wert dieser Maschinen lag wahrscheinlich, auch wenn die Abnutzung berücksichtigt wird, über 2 Millionen Pfund.“29

Es stellt sich die Frage, wie seriös die Angaben des Zeitwerts der demontierten Industrieanlagen u. a. m. waren, ob da nicht kräftig manipuliert wurde. Am 30. September 1961 verfasste die aufgelöste Interalliierte Reparationsagentur (IARA) einen Abschlussbericht. Hierzu existiert ein Schriftstück, das zwischen dem Abwickler der Deutschen Reichsbank und den verschiedenen Ministerien der Deutschen Bundesregierung kursierte. Im Schreiben vom 14. Februar 1963 ist auf Seite 2 unter Punkt II zu lesen: „Die beträchtlichen Bewertungsunterschiede, die in der Stellungnahme aufgezeigt werden, sind den beteiligten Bundesbehörden nicht unbekannt. Das gleiche gilt für die durch die IARA nicht verrechneten Reparationsleistungen (vgl. Abschnitt IV der Stellungnahme). Die sog. Restwerte (residual values), die der Alliierte Kontrollrat der IARA gemeldet hatte, sind erheblich niedriger als die sog. Zeitwerte der Reparationskartei (Abweichung etwa 40 %).“30

Zu Punkt 4:

Wie bereits erwähnt, bezifferte Bundeskanzler Adenauer den Wert der angeeigneten deutschen Patente und Werksgeheimnisse durch die USA auf etwa 10 Mrd. US-Dollar. Hier ist es schwierig, diese wertemäßig auf die Westzonen/BRD und auf die SBZ/DDR aufzuteilen, sie als Reparationsleistung „gutzuschreiben“. Die USA hatten auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt und in Sachsen diesbezüglich gewildert. Zudem ist es aus der Sicht schwierig, den legitimierten geistigen Diebstahl Ost und West zuzuschreiben, weil die großen Betriebe im gesamten Deutschen Reich aktiv waren.

Im Abschlussbericht der IARA wurde die Tatsache nicht berücksichtigt, dass die USA sich den gesamten oder, wie die Amerikaner behaupteten, nur den vorgefundenen Rest des Reichsbankgoldes bis zum heutigen Tage angeeignet haben. Immerhin waren es insgesamt 365 Tonnen Gold.

Doch nun zu den Zahlen. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission der DDR, Siegfried Wenzel, geht davon aus, dass die SBZ/DDR 99,1 Mrd. DM (Kaufpreis 1953) und die Westzonen/BRD nur 2,1 Mrd. DM (Kaufpreis 1953) an Reparationen bezahlt haben.31 Klaus Behlings Ermittlungsergebnisse gehen eher dahin, dass die SBZ/DDR 12 bis 14 Mrd. US-Dollar und die Westzonen/die BRD 12 Mrd. US-Dollar an Reparationen bezahlt haben.32 Der deutsche Wirtschaftshistoriker Dr. Rainer Karlsch errechnete für die SBZ/DDR Reparations- und Besatzungskosten in Höhe von 14 Mrd. Dollar zu Preisen von 1938 aus.33 Abgesehen davon, dass die aus der Produktion entnommenen Waren und die demontierten Anlagen oftmals zu niedrig bewertet wurden, hatte die Sowjetunion die von ihr geforderten und von den Westalliierten abgelehnten Reparationsforderungen in Höhe von 10 Mrd. Dollar bei Weitem überzogen.

Ich halte die von Siegfried Wenzel errechnete Reparationslast der SBZ/DDR für zu hoch. Hier steckt allem Anschein nach die durch seine Ideologie geprägte Absicht, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die DDR auch später noch hatte, allein auf die schlechteren Startbedingungen zu reduzieren. Die Angaben Klaus Behlings halte ich für realistischer. Selbst für den Fall, den ich persönlich nicht glaube, dass die SBZ/DDR genauso viele Reparationen wie die Westzonen/BRD bezahlt hat, ergibt sich eine ungleiche Belastung der Bürger. Denn laut der Statista GmbH lebten um 1950 herum in der SBZ/DDR 27,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Nachkriegsdeutschlands.34 Das heißt, dass die Menschen in der SBZ/DDR selbst bei gleich großer Reparationssumme viermal stärker belastet wurden! Sie hatten die größte Reparationslast getragen, die im 20. Jahrhundert je einem Land aufgebürdet wurde.35 Es ist mittlerweile eine unbestrittene Tatsache, dass die Menschen in der SBZ/DDR fast die gesamte Last an Reparationen für die Sowjetunion und für Polen bezahlt haben.

2.5.6.2 Welche Bedeutung haben die Zahlen für die Weiterentwicklung der DDR und der BRD?

Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, unterlag ich der Illusion, mit dem Herausfinden der wirklichen Reparationslasten begründen zu können, warum die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten so weit differierte. Indem ich mich in die Materie einarbeitete und Wirtschaftswissenschaftler befragte, kam ich mittlerweile zu der Erkenntnis, dass es noch viele weitere Faktoren gibt, die hierbei eine Rolle spielen. Hierzu müssten unter anderem folgende Fragen beantwortet werden:

• Wie stark war die Infrastruktur zerstört?

• Welche Branchen waren von Bombardierung und Demontage besonders betroffen?

• Wie hoch ist der finanzielle Aufwand, um diese Lücke wieder zu schließen?

• Standen unbegrenzt viele Fachleute zur Verfügung?

• Welchen Handlungsspielraum hatten die SBZ/DDR bzw. die Westzonen/BRD ab dem 1. Januar 1954 nach ihrem Schuldenerlass durch die Sowjetunion/Polen bzw. durch die Westalliierten und ihre Verbündeten?

• Welches Wirtschaftssystem förderte oder behinderte die wirtschaftlichen Triebkräfte?

So viel steht fest:

• In der Westzone/BRD waren die meisten Großstädte sehr zerstört, in der SBZ/DDR waren es „nur“ vier Großstädte (Berlin, Potsdam, Magdeburg und Dresden).

• In der SBZ/DDR war die Infrastruktur nach 1945 genauso mittelmäßig erhalten wie in den Westzonen/der BRD. Allerdings fand eine großflächige Zerstörung/Beeinträchtigung der Infrastruktur durch die SMAD statt. So wurden jedes zweite Gleis und jede zweite Lokomotive aufgebracht, Telefonleitungen wurden aus der Erde und von den Masten geholt, auf große Kabeltrommeln gewickelt und in die Sowjetunion geliefert. Meine Mutter musste bei solchen Arbeiten mithelfen …

• Die planmäßige Demontage von Industrieanlagen/Maschinen setzte in der Westzone/BRD etwas später ein als in der SBZ/DDR und klang zu dem Zeitpunkt langsam aus, als die USA ab 1948 in den Westzonen/der BRD anhand des Marshallplanes den wirtschaftlichen Aufbau forcierte.

• Die Fachkräfte waren in der SBZ/DDR dünner gesät wegen der Fluktuation. Einerseits war die Intensität der Entnazifizierung im Westen nicht so stark, andererseits stieg die Höhe der Auswanderungswilligen gleich einer Fieberkurve an, wenn politische Säuberungs- und Enteignungswellen durch das Land schwappten.

• Führungskräfte wurden oft eher nach Gesinnung als nach Befähigung ausgesucht.

• Die SBZ/DDR brauchte im Gegensatz zum Westen mit keiner großen finanziellen Unterstützung zu rechnen. Die Sowjetunion konnte es nicht und wollte es auch nicht. Stalins Philosophie war die maximale Ausplünderung Nachkriegsdeutschlands.

• In der SBZ/DDR machten die Volkseigenen Betriebe (VEB) bereits Anfang der 1950er-Jahre die absolute Mehrheit der Firmen aus. Sie hatten den Vorgaben sowohl der SED als auch der SMAD zu folgen. Der Freitod Erich Apels, des Vorsitzenden der Staatlichen Planungskommission, im Jahre 1965 hatte allem Anschein nach mit den zwei Hauptproblemen der DDR-Wirtschaft zu tun: der Drangsalierung der Betriebe durch die SED und der starken Rohstoffabhängigkeit der DDR von der Sowjetunion.36 Hierzu mehr in einem späteren Kapitel.

Auch wenn die Reparationslast für die Menschen in der SBZ/DDR ungleich höher war, so ist für das Auseinanderdriften der Effektivität der Betriebe und des Wohlstands der Bevölkerung zwischen Ost und West dieser Umstand in einem geringeren Maße verantwortlich, als in der Öffentlichkeit angenommen wird. Der deutsche Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Albrecht Ritschl und Prof. Tamás Vonyó (beide von der London School of Economics and Political Science berufen) beschäftigten sich mit der Frage, wie und wann es zu der besagten Schere gekommen ist. Hierzu betrachteten sie den Zeitraum zwischen 1945 und 1950. Die Studie heißt: „The roots of economic failure: What explains East Germany’s falling behind between 1945 and 1950?“ Die Verfasser kamen zu erstaunlichen Erkenntnissen. Hier erst einmal einige Untersuchungsergebnisse in Form von Tabellen:

Tabelle 1: Indizes des industriellen Bruttokapitalbestands (Vorkriegsgebiet, 1936 100)

JahrWestdeutschland/Westzonen/BRDMittleres Deutschland/SBZ/DDR
1944136,2143,0
1946115,794,8
1948112,979,9
1950122,084,4

Bruttowert aller Ausrüstungen, Maschinen in Industrieunternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten37

Kommentar zu Tabelle 1:

Die SBZ erlebte durch die sowjetische Besatzungsmacht mehrere Wellen der Enteignungen, Demontagen und andere Formen der Schädigung der Wirtschaft. Das hatte zur Folge, dass der wirtschaftliche Kapitalstock drastisch zusammenschmolz. Vor und während des Krieges wurde mehr in das mittlere Deutschland investiert als nach dem Krieg. Bereits ab 1946 hatte die Ostzone gegenüber der Westzone das Nachsehen.

Tabelle 2: Indizes der industriellen Beschäftigung (Vorkriegsgebiet, 1936 100)

JahrWestdeutschland/Westzonen/BRDMittleres Deutschland/SBZ/DDR
1939123,2125,0
1944123,2125,0
194689,7106,2
194898,0118,7
1950128,3121,6

Referenzwert für Beschäftigungszahlen in Tausend (von Sleifer 2006 errechnet): 1 937 976 für die SBZ/DDR (einschließlich Ostberlin) und 3 869 757 für die Westzonen/BRD (außer Saarland und Westberlin). Während des Krieges wird von einer konstanten Beschäftigungszahl ausgegangen.38

Kommentar zu Tabelle 2:

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Anzahl der Beschäftigten im Osten wie im Westen Nachkriegsdeutschlands. Die sowjetische Besatzungsmacht verstand es aber, die industriellen Arbeitskräfte wesentlich schneller zu mobilisieren und umzustrukturieren. Allerdings erreichte die Beschäftigungszahl 1950 im Osten nicht mehr das Niveau von 1939. Zum einen kamen im Laufe der Zeit immer mehr Kriegsgefangene zurück, zum anderen strömten auch Flüchtlinge aus den Ostgebieten in die SBZ und in die Westzonen. Lebensmittelkarten mit umfangreicheren/zusätzlichen Leistungen erhielten nur diejenigen, die arbeiten gingen. In der SBZ/DDR gab es fünf Kategorien. Insofern war es ein Anreiz, sich eine Arbeit zu suchen.

Eine hohe Anzahl von Beschäftigten bedeutet aus ökonomischer Sicht noch längst nicht, dass ein Betrieb effektiv arbeitet. Wie Tabelle 4 zur Effektivität verdeutlicht, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass hinter der gestiegenen Anzahl der Beschäftigten im Westen eine Erhöhung der Anzahl der Betriebe stecken muss. Auch in der SBZ/DDR ist die Zahl der Unternehmen gestiegen, aber nicht in dem Maße wie im Westen.

In den Westzonen wirkte sich die Währungsreform für die Wirtschaft wie ein Katalysator (Beschleuniger) aus, wo neue ungeahnte Kräfte freigesetzt wurden.

Tabelle 3: Indizes der industriellen Nettoproduktion (Vorkriegsgebiet, 1936 100)

JahrWestdeutschland/Westzonen/BRDMittleres Deutschland/SBZ/DDR
1939126,0143,0
1944137,0153,0
194634,342,0
194859,559,5
1950111,281,1

Referenzwert ist eine Nettoproduktion im Jahre 1936 im Wert von 16,8 Mrd. RM durch die westdeutsche Industrie und 7,6 Mrd. RM durch die Industrie im mittleren Deutschland zu Preisen von 1939 (Sleifer 2006).39

Kommentar zu Tabelle 3:

Im mittleren Deutschland war die Nettoproduktion im Jahre 1939 größer als in Westdeutschland. Mit Kriegsende sank in diesen Landesteilen die Produktion in einem Maße, das das 19. Jahrhundert noch nie gesehen hat. Ende 1945 betrug die Produktion im Westen 30 Prozent des Niveaus von 1936 und in der SBZ 40 Prozent. 1948 war der Wendepunkt, als sich das Blatt drehte und die Westzonen gegenüber der SBZ die Führung übernahmen.

Tabelle 4: Indizes der industriellen Arbeitsproduktivität (Vorkriegsgebiet, 1936 100)40

JahrWestdeutschland/Westzonen/BRDMittleres Deutschland/SBZ/ DDR
1936100,0100,0
1939102,3114,4
1944111,2122,4
194638,439,5
194860,750,1

Kommentar zu Tabelle 4:

Bis 1946 arbeiteten die Betriebe im mittleren Deutschland/in der SBZ produktiver. Spätestens ab 1948 hinkte der Osten dauerhaft dem Westen hinterher. Die Verfasser dieser Studie verwiesen auf den holländischen Wirtschaftshistoriker Jaap Sleifer, der in seinem Buch „Planning Ahead and Falling Behind: The East German Economy in Comparison with West Germany 1936‒2002“ ermittelte, dass 1954 ein Arbeiter in der DDR nur 65 Prozent so viel erarbeitete wie einer in Westdeutschland.

Hierbei muss aber auf ein typisches Phänomen im östlichen Teil Nachkriegsdeutschlands hingewiesen werden: Die Betriebe durften keine Gewinne anhäufen. Sie mussten diese an den Staat abgeben. Die Staatliche Plankommission entschied über die Verteilung der Gelder, welche Branche besonders gefördert werden sollte. Die Kombinate (ein [Zwangs-]Zusammenschluss von Betrieben der gleichen Branche) entschieden wiederum, wer wie viel Geld bekam. Es gab also durchaus gut wirtschaftende Betriebe. Diese Aussage halte ich für umso wichtiger, als im Zusammenhang mit der Arbeit der Treuhand in den 1990er-Jahren selbst der „Spiegel“, von dem ich zu dieser Zeit noch sehr viel hielt, fraglos die Aussagen von Vertretern der Treuhand und von Bundespolitikern hinnahm, alle DDR-Betriebe seien Schrott gewesen … Carl Zeiss Jena ist das prominenteste Beispiel dafür, dass diese Aussage nicht stimmen kann.

Tabelle 5: Indizes der industriellen totalen Faktorproduktivität (Vorkriegsgebiet, 1936 100)41

JahrWestdeutschland/Westzonen/BRDMittleres Deutschland/SBZ/DDR
1936100,0100,0
1944111,9117,6
194635,341,1
194857,957,2
195088,275,4

Kommentar zu Tabelle 5:

Die industrielle totale Faktorproduktivität (englisch: industrial total factor productivity, industrial TFT) ist noch aussagekräftiger als die industrielle Arbeitsproduktivität, weil sie das Kapital, die Arbeit und den Produktionsausstoß gleichzeitig berücksichtigt. 1946 ging diese Effektivität in beiden Landeshälften auf ein Drittel des Niveaus von 1944 zurück. Die Bombardierung der Eisenbahnanlagen, der Stromversorgung und anderer für die Wirtschaft empfindlicher Bereiche ab Mitte 1944 führte offenbar zu einem dramatischen Rückgang der Produktion. Das mittlere Deutschland/die SBZ hatte bis 1946 noch die bessere industrielle totale Faktorproduktivität. Spätestens ab 1948 überholte die Wirtschaft der Westzonen mit ihrer Produktivität den Osten permanent.

Zusammenfassung:

Das mittlere Deutschland war aufgrund der Nähe zur Reichshauptstadt Berlin ein bevorzugter Investitionsstandort. Wegen der Bombardierung Berlins wurden ab Mitte 1944 viele Forschungsstätten und Betriebsteile in das nähere und entferntere Umland ausgelagert. Nach 1945 bewirkte die sowjetische Besatzungsmacht durch Demontagen von Maschinen, von Industrie- und Forschungseinrichtungen eine Skelettierung der Wirtschaft, die mit der westdeutschen Wirtschaft eng verzahnt war. Die Bodenschätze waren geografisch zum Leidwesen der SBZ/DDR ungleich verteilt. Außer Kali, Braunkohle und radioaktives Uran gab es keine weiteren Bodenschätze. Somit entwickelte sich eine große Abhängigkeit von den Bodenschätzen aus der Sowjetunion.

Für die Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Ritschl und Tamás Vonyó waren zwar Westdeutschland/die Westzonen allgemein mehr zerstört als das mittlere Deutschland/die SBZ, was aber in ihren Augen durch die Reparationen an Russland und Polen mehr als ausgeglichen worden sei. Nicht die hohen Reparationskosten einschließlich der Demontagen und auch nicht die Gründung zweier deutscher Staaten im Jahre 1949 haben laut der Studie von Ritschl und Vonyó dazu geführt, dass die Schere in der Prosperität der Wirtschaft zwischen Ost und West auseinanderging. Der Beginn der Scherenbildung, so die Wirtschaftshistoriker, sei viel früher zu verorten, bereits zwischen 1946 und 1948. Und der Grund sei vornehmlich das Auseinanderdriften der Effektivität der Betriebe in den Westzonen und in der SBZ.

Hierbei darf auch nicht verschwiegen werden, dass die volkseigenen Betriebe in der DDR ihre Gewinne nicht behalten durften. Sie mussten an den Staat abgeführt werden. Zudem war es auch nicht möglich, ausländisches Kapital in die Wirtschaft der SBZ/DDR zu investieren. Gerade die kostenintensive Schwerindustrie hätte diese Unterstützung dringend gebraucht. Somit mussten die Finanzen im eigenen Land erwirtschaftet werden, was zunehmend schwieriger wurde. Bereits 1993 kam der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch zu der Feststellung: „Die immer wieder zitierte Schere in der Entwicklung beider deutscher Teile öffnete sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren.“42 Ritschl und Vonyó haben mit ihrer Studie aus dem Jahre 2018 das auch wissenschaftlich bewiesen. Ihre Studie bezog sich auf das Zeitfenster 1945‒1950.

Die Demontage von Betrieben und Industrieanlagen hatte, wie bereits gesagt, insbesondere für die Wirtschaft in der DDR eine langfristige Wirkung. Rainer Karlsch schreibt in seinem Buch „Allein bezahlt?“: „… doch die ‚Spätfolgen‘ der Demontagen wuchsen sich in den fünfziger Jahren zu erheblichen Wachstumshemmnissen aus. In einzelnen Bereichen konnten sie bis zum Ende der DDR nicht gänzlich überwunden werden.“43 Ein prominentes Beispiel ist die Deutsche Reichsbahn. Diese hatte für den arbeitsteiligen industriellen Produktionsprozess eine herausragende Bedeutung. Der Wirtschaftskreislauf drohte immer wieder zu stocken, weil es zu wenige Lokomotiven und Güterwagen gab. Tausende von ihnen wurden im Laufe des Zweiten Weltkrieges von den sowjetischen Truppen erbeutet und gingen in das Staatseigentum der UdSSR über. Vier Abkommen mit der Sowjetunion in den Jahren 1951 und 1952 ermöglichten einen Rückkauf. Die DDR kaufte 693 Dampflokomotiven, 186 Elektrolokomotiven, 894 Personenwagen, 152 S-Bahnwagen und 50 982 Güterwagen zu einem Preis von 257,476 Millionen DM-Ost zurück.44 Diese Menge war immer noch nicht ausreichend. Selbst 1966 lag der Bestand an Dampflokomotiven 24 Prozent unter dem Stand von 1936!45 Die DDR hatte den Verlust durch den Abbau von 11 800 km Eisenbahnschienen durch die sowjetische Besatzungsmacht, das entspricht 48 Prozent aller Gleisanlagen im Jahre 1938, bis zu ihrem Ende nicht ausgleichen können. Rüdiger Kühr befasste sich im Buch „Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944‒1949“ sehr ausführlich mit den Folgen der Demontage bei der Deutschen Reichsbahn. Ob nun die Führungsriege der DDR eine ausreichende Modernisierung/Finanzierung der Reichsbahn nicht wollte, wie es Kühr mit der Formulierung „beharrliche Weigerung“ zum Ausdruck brachte, halte ich für nicht bewiesen, zumal seine Zahlen nur bis zum Jahr 1966 gingen.46 Ich vermute eher, dass die nötigen finanziellen Mittel angesichts anderer Schwerpunktsetzung in der Politik nicht vorhanden waren.

Als Lehrling, Angehöriger der Nationalen Volksarmee und als Student nutzte ich in den 1970er- und 1980er-Jahren sehr oft die Bahn. Ich hatte trotz Wind und Wetter keine Zugausfälle erlebt. Zugegeben, die meisten Personenwaggons waren nicht auf dem neuesten Stand der Technik und Ästhetik. Als im März 1990 Willy Brandt auf einer Wahlveranstaltung in Neuruppin war, witzelte er über die Ostberliner S-Bahn: Die Holzsitze und die robusten Heizungen erinnerten ihn an seine Jugendzeit, als er in Berlin gewesen sei …

Allerdings sehe ich keinen Grund, sich über die Deutsche Reichsbahn in der Zeit der DDR lustig zu machen. Denn das Erscheinungsbild der heutigen Bundesbahn ist katastrophal: Große Teile des Schienennetzes wurden stillgelegt. Der Güterverkehr führt nur noch ein Schattendasein. Die Bahn ist so unzuverlässig wie noch nie. Seit 20 Jahren bin ich Berufspendler und nutze täglich die Bundesbahn. So lange wird schon über eine kurze und schnelle Eisenbahnverbindung zwischen Neuruppin und Berlin diskutiert. Aber nichts ist passiert! Durch Zugausfälle, Verspätungen und das Warten auf den Gegenzug hat sich bei mir bestimmt ein halbes Jahr an Wartezeit angesammelt! Nicht umsonst gibt es den Witz: „Wer sind die größten Feinde der Bundesbahn? Frühling, Sommer, Herbst und Winter!“ Lenin bezeichnete einmal die kaiserliche Eisenbahn als die zuverlässigste Institution der Welt. Von diesem Anspruch ist die Deutsche Bundesbahn weiter entfernt denn je. Daran sind wohlgemerkt nicht die Schaffner, die Lokführer und die einfachen Angestellten in der Verwaltung der DB schuld. Sie versuchen tagtäglich im Rahmen ihres vorgegebenen Handlungsspielraums, daraus noch das Beste zu machen. Den bejammernswerten Zustand der Bahn haben einzig und allein das Management der Deutschen Bundesbahn und die Bundespolitiker zu verantworten …

Doch zurück zu der Schere bei der Effektivität der Wirtschaft und den Folgen der Demontage. Hierbei möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Situation außerhalb des nationalen Tellerrandes lenken. Die Tschechoslowakei war vor 1945 ein Industrieland, das sich von der Wirtschaftskraft und Effektivität nicht groß vom mittleren Deutschland unterschied. Es war bis Ende des Zweiten Weltkrieges nicht so zerstört wie das mittlere Deutschland. Es zählte zu den Verbündeten der Siegermächte und bekam von der SBZ/DDR Reparationen gezahlt.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts glichen sich die DDR und die ČSSR in puncto Wirtschaftskraft, Effektivität, Wohlstand und bezüglich der Schere zur BRD einander sehr stark an. Wie konnte das passieren? Sowohl in der DDR als auch in der ČSSR regierten die kommunistischen/sozialistischen Parteien in die Wirtschaftspolitik hinein. Die Betriebe durften die erwirtschafteten Gewinne nicht behalten, sondern mussten diese an den Staat abführen. Die Staatliche Plankommission verteilte die Gelder dann an alle volkseigenen Betriebe.

Es gibt auch Dinge, die die Wirtschaftswissenschaftler nicht in Zahlen fassen können und daher oft nicht genannt werden: Es sind die psychologischen Folgen einer Politik. Die Aktion Ossawakim im Oktober 1946 hatte beispielsweise zur Folge, dass viele Wissenschaftler und Fachleute, die bis zu diesem Zeitpunkt noch in der SBZ lebten, sich in den Westen absetzten und somit nicht mehr der Wissenschaft und Wirtschaft hierzulande zur Verfügung standen. Ein anderes Beispiel aus der Psychologie ist die Auswirkung der im Sozialismus durchgesetzten Sicherheit, nicht den Arbeitsplatz zu verlieren, auf die Werktätigen. (Das trifft somit auch für die ČSSR zu!) Die Arbeitsplatzsicherheit selbst bei gröberen Vergehen führte dazu, dass ein Teil der Arbeiter und Angestellten sich auf der Arbeit nicht mehr anstrengte, wodurch es Betriebe gab, die teilweise oder insgesamt ineffektiv arbeiteten. Zuweilen mündete hier eine soziale Errungenschaft nicht in eine unbeschwerte und alle Geisteskräfte erweckende Arbeitsatmosphäre, sondern verkehrte sich in das Gegenteil. Teilweise gab es hier eine Doppelmoral: Während es eine schlimme Sache war, wenn man privat bestohlen wurde, empfanden einige es eher als ein Kavaliersdelikt, aus dem Betrieb etwas mitgehen zu lassen. Das Wort „Volkseigentum“ war für viele zu abstrakt. Bei der Führungsriege, so hatten die meisten DDR-Bürger den Eindruck, war man sich nicht bewusst, dass auch für die sozialistischen Staaten die ökonomischen Gesetze gelten. Nicht umsonst kursierte in der Bevölkerung der DDR ein Witz über einen von Erich Honecker getätigten Ausspruch: „Der Kapitalismus steht vor dem Abgrund. Wir sind einen Schritt weiter!“

Der Vergleich mit der ČSSR zeigt, dass bestimmte sozialistische Entscheidungen und Erscheinungen zu einem Hinterherhinken hinter der Effektivität der kapitalistischen Ökonomie geführt haben. (Das heutige China scheint diesbezüglich deshalb erfolgreicher zu sein, weil die Kommunistische Partei einen anderen Weg gegangen ist. Sie hat sich die politische und militärische Macht gesichert, aber den Großteil der Wirtschaft privatisiert und dort nicht hineingeredet.)

Es muss also festgestellt werden, dass die Reparationsleistungen unterschiedlichster Art nicht als alleiniger Grund herangezogen werden dürfen, um den wirtschaftlichen Rückstand der DDR zur BRD zum Zeitpunkt der Vereinigung zu erklären. Die Ausrichtung der Wirtschaft der DDR auf den Osten ist zweifellos ein Ergebnis der sowjetischen Besatzung und der Politik der SED-Führung. Diese wirkt bis heute nach …

2.6 Repressionen durch die sowjetische Besatzung

2.6.1 Erst vergewaltigt, dann vergessen – eine gern verschwiegene Nachkriegsgeschichte

Während des Krieges, aber auch danach rollte eine Welle der Vergewaltigung von Mädchen/Frauen durch Soldaten der Siegermächte über das deutsche Land. Es begann 1944 in Ostpreußen und fand seinen Höhepunkt in Berlin: Schon in den ersten drei Monaten der sowjetischen Besatzung (Mitte Mai bis Mitte August 1945) begingen Armeeangehörige allein in Berlin ungefähr 110 000 Vergewaltigungen.47 Die Motive und die Art der Verbrechen waren beim Einmarsch der sowjetischen Armee in die Ostgebiete anders als die nach Ende des Krieges: Anfangs ging es den Armeeangehörigen um brutale Rache für alles, was die „Russen“ bei Einfall deutscher Truppen in die Sowjetunion erlebt hatten, um Zerstörungswut und um die kollektive Demütigung und Bestrafung der Deutschen. Nach der vollständigen Kapitulation Deutschlands ging es um Inbesitznahme in einem scheinbar rechtlichen Niemandsland …

Lange Zeit wurden nur die „Russen“ als Täter angeführt. Das passte gut in das Konzept des Kalten Krieges. In den 1990er-Jahren gab es zaghafte Versuche, darauf hinzuweisen, dass auch Amerikaner, Franzosen und Briten massenhaft deutsche Mädchen/Frauen vergewaltigt hatten.

Von Ausnahmen abgesehen, wagten es die fast ausschließlich aus Westdeutschland stammenden und zudem transatlantisch ausgerichteten Leitmedien erst 2015, darüber öffentlich zu berichten.48 Das finde ich sehr beschämend. Sahen sich vielleicht diese Medien in Zugzwang, weil zu diesem Thema am 2. März 2015 ein Buch mit entlarvenden Fakten veröffentlicht wurde? Es handelte sich um das Buch mit dem Titel „Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ von Miriam Gebhardt.

Da es für die betroffenen Mädchen/Frauen eine schmerzhafte und äußerst peinliche Angelegenheit ist, wird das Ausmaß dieses Verbrechens wohl niemals sichtbar werden. Die Schätzungen gehen weit auseinander. Sie schwanken zwischen 800 000 und 2 000 000 Vorfällen.49 Ich bin mir sicher: Die seelischen Wunden, die durch die Erfahrungen während der Vergewaltigung und danach geschlagen wurden, sind/waren bei den Betroffenen niemals verheilt …

Am 8. Mai 2020 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und andere Bundespolitiker haben der vielen deutschen Vergewaltigungsopfer nicht gedacht. Mir gegenüber gab Klaus-Peter Willsch, Mitglied der CDU und Bundestagsabgeordneter, an, dass die Bundeskanzlerin zu diesem Thema nirgendwo eine Rede gehalten habe. Bundespräsident Steinmeier hielt zwar eine Gedenkrede, sprach aber nur von „Hunger, Flucht, Gewalt, Vertreibung“, die deutsche „Kinder durchlitten“ hätten.50 Führende deutsche Politiker schwiegen hierzu genauso beharrlich, genauso, wie sie es auch am 100. Jahrestag der Unterzeichnung des schicksalhaften Versailler Vertrages am 28. Juni 2019 und es zur Massenvergewaltigung in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 getan haben!

2.6.2 Speziallager und Sowjetisches Militärtribunal in der SBZ/DDR

Bis in die 1990er-Jahre waren die vom sowjetischen Geheimdienst eingerichteten Speziallager ein Tabuthema. Es wurde in der DDR lediglich dazu gesagt, diese dienten zur Entnazifizierung und dort hielten sich nur die gefährlichsten Nazigrößen auf. Erst nach der Vereinigung beider deutscher Staaten fand zögerlich eine Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels statt. Es ist ein Kapitel, das das deutsch-sowjetische Verhältnis zweifellos belastet, weil es hier um Rechtlosigkeit und Willkür geht, aber das auch den bis heute von bestimmten linksgrünen Kräften glorifizierten Aufbau des Sozialismus auf deutschem Boden als recht fragwürdig erscheinen lässt.

Was war geschehen?

Auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches wurden mit dem ausgehenden Zweiten Weltkrieg Internierungslager eingerichtet. In den von den „Russen“ eroberten Gebieten war dafür die Rechtsgrundlage der NKWD-Befehl 00315 vom 18. April 1945 mit dem Zweck der „Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen“. (NKWD ist Abkürzung für das „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“, auf Russisch: Народный комиссариат внутренних дел). Diese Maßnahme steht erst einmal im Einklang mit den Beschlüssen der Alliierten, deutsche Kriegsverbrecher sowie Funktionäre, Militär- und Polizeiangehörige des nationalsozialistischen deutschen Staates zu internieren. Die Siegermächte benutzten hierzu die bereits vorhandenen Konzentrations-, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager. In der britischen Zone wurden 90 000, in der französischen Zone 21 500, in der US-amerikanischen 120 000 und in der sowjetischen Zone 189 000 Personen deshalb festgehalten.51 Die sowjetischen Besatzer nannten diese Lager „Speziallager“. In der SBZ gab es zehn Speziallager:

-Nr. 1:Mühlberg (September 1945–Oktober 1948)
-Nr. 2:ehem. KZ Buchenwald (August 1945–Februar 1950)
-Nr. 3:Berlin-Hohenschönhausen (Mai 1945–Oktober 1946)
-Nr. 4:Bautzen (Mai 1945–Februar 1950)
-Nr. 5:Ketschendorf b. Fürstenwalde (April 1945–Februar 1947)
-Nr. 6:Jamlitz (September 1945–April 1947)
-Nr. 7:Weesow b. Werneuchen (Mai 1945‒August 1945, dann in das KZ Sachsenhausen verlegt)
-Nr. 7:ehem. KZ Sachsenhausen (August 1945–März 1950)
-Nr. 8:Torgau (Seydlitz-Kaserne) (August 1945–März 1947)
-Nr. 9:Fünfeichen b. Neubrandenburg (April 1945–Oktober 1948)
-Nr. 10:Torgau (Fort Zinna) (Mai 1946–Oktober 1948)

Bekannte Speziallager in den Ostgebieten des Deutschen Reiches befanden sich im ehemaligen KZ Auschwitz, in Graudenz, in Landsberg (Warthe), in Oppeln, in Posen, in Schneidemühl, in Schwiebus und in Tost. Diese wurden spätestens im Frühjahr 1946 geschlossen und die Gefangenen in die oben genannten zehn Speziallager in der SBZ verteilt.

Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 sah die Einrichtung von Gerichtshöfen vor, die die Aufgabe hatten, NS- und Kriegsverbrechen zu untersuchen und strafrechtlich zu ahnden. Insofern stand die Installation eines „Sowjetischen Militärtribunals“ (SMT) auf dem Gebiet der SBZ im Einklang mit dem oben genannten gemeinsam gefassten Beschluss der Alliierten. Der sowjetische Geheimdienst NKWD spürte die betreffenden Deutschen auf und transportierte diese in die Speziallager. Der NKWD benannte sich 1946 in MWD um (Abkürzung für Ministerium für innere Angelegenheiten, auf Russisch: Министерство внутренних дел), ohne dass die Struktur und ihr Aufgabengebiet sich geändert hätten.

Wegen der für den Sieg über Hitlerdeutschland notwendigen Koalition zwischen der Sowjetunion und den Westalliierten wurden die gegensätzlichen Interessen hintangestellt und für die Öffentlichkeit verdeckt. Jedoch frühestens im Frühjahr 1946 mit der Irankrise und spätestens mit der Verkündung der Truman-Doktrin im Frühjahr 1947 brach der Konflikt und damit der Kalte Krieg offen aus. Die Sowjetunion begann, den Menschen in der SBZ ihr sozialistisches Gesellschaftsmodell überzustülpen. Die Bodenreform in den Jahren 1945/1946 in der SBZ war ein untrügliches Anzeichen dafür. Bisher hatten das Bild der Lagerinsassen von Speziallagern solche Personen geprägt, die eines Kriegsverbrechens bezichtigt wurden (ungefähr 20 Prozent), auch Funktionäre/Mitglieder der NSDAP, der Gestapo, der HJ, des SD, der SA, der SS und Jugendliche, die angeblich den Werwölfen angehört haben sollen (circa 80 Prozent). Dann kamen immer mehr politische Gefangene, Bauern, Gutsbesitzer und Fabrikbesitzer, die sich der Enteignung von Grund und Boden widersetzten, Adlige, Bürgermeister und Zeitungsredakteure in die Speziallager. Das Spektrum der politischen Gefangenen reichte von ehemaligen NS-Widerstandskämpfern über Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale bis zu Konservativen. Bekanntere Personen sind NS-Regimegegner Joachim Ernst von Anhalt, Schauspieler Heinrich George und Ernst Fresdorf, der 1945 von den US-amerikanischen Truppen zum Oberbürgermeister von Eisenach eingesetzt worden war.

Ohne das Mitwirken deutscher Zuträger (Denunzianten) hätte der sowjetische Geheimdienst die Säuberungsaktionen in diesem Ausmaß nie durchführen können. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der paramilitärische Teil der KPD. Der Aufbau der politischen Polizei in der SBZ, die ihre Aufgabe in der Bekämpfung politisch Andersdenkender, „faschistischer Banden“ und „westlicher Agenten“ sah, war auf den Befehl Nr. 201 vom 16. August 1947 des MWD zurückzuführen. Dieses war bei der Deutschen Volkspolizei, bei der Kriminalpolizei im Kommissariat 5 („K5“) angesiedelt. Bereits am 28. Dezember 1948 genehmigte die sowjetische Regierung, einen ostdeutschen Geheimdienst zu gründen. Er sollte dann auch im „kapitalistischen Ausland“, vornehmlich in Westdeutschland, tätig werden. Am 7. Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. Am 8. Februar 1950 verabschiedete die noch junge DDR-Regierung ein „Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit“ (MfS). Dieses trat am 21. Februar 1950 in Kraft. Das MfS wurde dann mithilfe und unter Aufsicht der sowjetischen Berater des KGB aufgebaut. Der MfS verfügte anfangs über fünf Landesverwaltungen, die Sonderverwaltung W (für das „Wismut-Gebiet“) und die Verwaltung E (die bei der Deutschen Reichsbahn tätige Transportpolizei). Mit der Auflösung der Länder und der Bildung von Bezirken infolge der Verwaltungsreform von 1952 wurde die Verwaltung der MfS noch feingliedriger organisiert. Der Stamm der hauptamtlichen Mitarbeiter stieg rasant an: Waren es 1950 nur 2 700, so gab es 1951 schon 4 500, 1952 gar 8 800 und 1956 bereits 16 000. Da das Sowjetische Militärtribunal in der DDR bis 1955 tätig war, soll von einer zahlenmäßigen Entwicklung des MfS weit über dieses Jahr hinaus abgesehen werden. Ich denke, wenn ich davon ausgehe, dass auf einen hauptamtlichen Mitarbeiter zehn informelle Zuträger kommen, dann dürfte das gesamte Ausmaß an Überwachung und Denunziation der Bevölkerung noch untertrieben sein …

Anfangs spürte der NKWD bzw. der MWD (wirkliche und vermeintliche) deutsche Kriegsverbrecher, nationalsozialistische staatstragende Funktionäre sowie Menschen, die sich gegen die sowjetische Besatzungsmacht in verschiedenster Weise betätigten, auf, verhörte diese und steckte sie ohne Gerichtsurteil und Benachrichtigung der Angehörigen in Speziallager. Viele Jugendliche wurden einfach auf der Straße aufgegriffen, vom sowjetischen Geheimdienst verhört, und es wurde ihnen vorgeworfen, bei den Werwölfen gekämpft zu haben. Das Kommissariat 5 unterstützte den sowjetischen Geheimdienst, um Deutsche im Sinne des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 festzusetzen. Allerdings verlagerte sich zusehends ihre Aktivität in die Richtung, dass die Klientel der Festgenommenen fast nur noch aus Andersdenkenden bestand.

Die Insassen der Speziallager wurden vom NKWD/MWD nach Belieben gefoltert, um die gewünschten Geständnisse herauszupressen. Oftmals unterschrieben die Malträtierten einen auf Russisch verfassten Text, dessen Inhalt sie nicht verstanden. Nicht alle Inhaftierten, aber ein großer Teil, kam dann vor ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT). Die praktizierten rechtsstaatlichen Prinzipien, die hier zur Anwendung kamen, spotteten jeder Beschreibung und erinnern mich an die Schreckensherrschaft der Jakobiner während der Französischen Revolution. Die Verhörprotokolle wurden für den sowjetischen Staatsanwalt zur Grundlage seiner Anklageschrift. Die Urteile wurden geheim und ohne Öffentlichkeit gefällt. Verteidiger und Entlastungszeugen wurden nicht zugelassen. Dem Sowjetischen Militärtribunal kam es nicht auf die Ermittlung der Schwere der Schuld an, sondern darauf, ein Exempel zu statuieren. Für Nichtigkeiten wurden drakonische Strafen verhängt. Zum Beispiel wurde der 18-jährige Eduard Lindhammer zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt, weil er Flugblätter der in der SBZ zugelassenen Liberaldemokratischen Partei (LDP) verteilt hatte.52 Als Außenstehender habe ich den Eindruck, dass dieses Tribunal nur zwischen den beiden Strafen „25 Jahre Arbeitslager“ und „Todesstrafe“ tendierte. Paragraf 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches bot viel Spielraum, um eine Tat als „antisowjetische Handlung“, „Hochverrat“ oder „Spionage“ zu interpretieren. Es war ein sogenannter „Gummiparagraf“, dessen Auslegung zwischen Leben und Tod entschied. Einige Todesurteile wurden in den vorrangig für SMT-Verurteilte reservierten Speziallagern Bautzen, Sachsenhausen und Torgau, einige in Brest und rund 1 000 in Moskau, im Butyrka-Gefängnis, vollstreckt. Die Todeskandidaten hatten die Möglichkeit, ein Gnadengesuch zu schreiben.

Wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde, ist in der Literatur umstritten. Das liegt möglicherweise daran, weil es mehrere Sowjetische Militärtribunale gab und ihre Dokumente nicht zusammengeführt wurden, weil in den Kriegswirren amtliche Papiere verloren gegangen waren oder die russische Staatsführung kein Interesse daran hatte, der Nachwelt ein komplettes Bild des Grauens zu offenbaren. Die Unklarheit bezieht sich auf den gesamten Zeitraum des Wirkens des SMT (1944‒1955). Das Hannah-Ahrendt-Institut für Totalitarismusforschung hatte 2015 eine historisch-biografische Studie herausgebracht mit dem Titel „Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944–1947)“. Dort werden 2 469 Kurzbiografien von Menschen zusammengetragen, die vom SMT zum Tode verurteilt wurden. 759 Todeskandidaten wurden in diesem Zeitraum begnadigt.53 Der Leiter der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dr. Pampel, schrieb mir, dass nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zwischen 1944 und 1955 „mindestens 4 438 Deutsche von SMTs zum Tode verurteilt, 3 498 Todesurteile“ vollstreckt wurden. Sowohl in der SBZ als auch in der Sowjetunion wurden die Exekutierten namenlos in Massengräbern verscharrt.

Die Situation der in den Speziallagern lebenden Menschen war katastrophal: Die Gefangenen hatten für alle Jahreszeiten nur die Kleidung an, die sie bei der Verhaftung getragen hatten oder die ihnen gelassen wurde. So makaber es auch klingen mag: Die Toten waren die Spender „neuer“ Kleidung für die Lebenden. Die Versorgung mit Essen und die hygienischen Bedingungen waren schlecht. Es gab keine medizinische Versorgung, geschweige eine regelmäßige Betreuung. Hunger, Kälte, Krankheiten und Ungeziefer setzten den Menschen zu. Die körperlich geschwächten Lagerinsassen erkrankten an Dystrophie, an der Ruhr und an TBC. Als von Herbst 1946 bis Juni 1947 die ohnehin schon magere Verpflegungsration halbiert wurde, kam es zu einem Massensterben. Dieses wurde durch den äußerst harten Winter 1946/47 noch begünstigt. Es starben in dieser Zeit 14 450 Häftlinge.

Auch wenn die aus den Speziallagern Entlassenen eine Verpflichtungserklärung unterschreiben mussten, nichts über die dort herrschenden Zustände zu berichten, waren die meisten Westdeutschen darüber sehr gut informiert. Bis zum Ausbruch des Kalten Krieges verboten die Westalliierten, Kritik an die Siegerjustiz der Sowjetunion zu üben. Ab Ende 1946/Anfang 1947 änderte sich das grundlegend: Im Wettstreit um die ökonomische und moralische Überlegenheit der Gesellschaftssysteme war jetzt Kritik sogar erwünscht. Es war auch ein Kampf um die Herzen und Hirne der Menschen. Bei der nun stetig anwachsenden Kritik kam die Sowjetunion immer mehr in Erklärungsnot. In diesem Kontext ist möglicherweise die Aussetzung der Todesstrafe durch ein Moratorium der sowjetischen Regierung zwischen Oktober 1947 und Februar 1950 zu sehen. Bis 1948 reduzierte die Sowjetunion die Anzahl der Speziallager auf drei: Bautzen, KZ Buchenwald und KZ Oranienburg. Viele Lagerinsassen kamen zu dieser Zeit frei. Um die junge DDR nicht mit diesem Nachkriegserbe moralisch zu belasten, wurden 1950 die letzten Speziallager geschlossen. 45 261 Gefangene wurden in die Freiheit entlassen, 12 770 Lagerinsassen wurden in die Sowjetunion in Gulags deportiert, 6 680 Personen erhielten nun den Status eines Kriegsgefangenen, 756 wurden in diesen letzten Jahren noch zum Tode verurteilt und 14 202 Gefangene auf die DDR-Gefängnisse verteilt. 3 442 Personen kamen auf diese Weise in das Zuchthaus in Waldheim. Ihnen wurde vom 21. April bis zum 29. Juni 1950 vor dem Landgericht Chemnitz im Schnellverfahren und ohne Anklage der Prozess gemacht. Unter ihnen gab es in der Tat Personen, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten. Allerdings fehlten bei der Prozessführung jegliche rechtsstaatlichen Prinzipien. Diese strafrechtliche Aktion der DDR ist unter dem Namen „Waldheimer Prozesse“ bekannt. Spätestens jetzt hatte die frisch gegründete DDR ihre Unschuld verloren …

Das traurige Resultat der sowjetischen Speziallager ist, dass von den 189 000 Lagerinsassen 43 000 ums Leben kamen.54 Das Sowjetische Militärtribunal bestand bis Ende 1955 weiter. Ab März 1950 wurden wieder Todesurteile gefällt. Es war eine Paralleljustiz zur DDR-Justiz. In der Zeit von 1945 bis 1955 fällte das SMT nach Angaben des Leiters der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dr. Pampel, 35 000 bis 40 000 Urteile gegen deutsche Zivilisten sowie ungefähr 32 000 Urteile gegen deutsche Kriegsgefangene. Nach den bis 2015 gesichteten Dokumenten wurden laut der Studie des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung ungefähr 3 300 Todesurteile ausgesprochen.55 Dr. Pampel geht aktuell (Stand: Oktober 2019) von 3 498 Todesurteilen aus.

Wie bereits erwähnt, wurden noch in den 1950er-Jahren Deutsche zu Zwangsarbeiten in die Sowjetunion verschleppt, obwohl es in der DDR-Verfassung einen Passus zum Auslieferungsverbot gab. Diese Zustände zeigen eindeutig, dass die 1953 von der Sowjetunion offiziell zugestandene staatliche Souveränität der DDR real nicht existierte. Die Existenz der Speziallager und des Sowjetischen Militärtribunals schüchterte in der SBZ/DDR die Bevölkerung ein.

Die Themen „Sowjetische Speziallager“ und „Sowjetische Militärtribunale“ waren in der DDR weitgehend tabu. Dass viele Lagerinsassen in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre von der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert wurden, ist begrüßenswert, es kann ihnen aber nicht das unbeschwerte Leben zurückgeben. Viele unschuldig Eingesperrte leben nicht mehr. Mehr als 10 000 Anträge auf Rehabilitation sind bisher in Moskau eingegangen. Rund 95 Prozent der Antragsteller wurden rehabilitiert. Das verdeutlicht, wie haltlos viele Urteile der SMTs waren. Die Quote der Rehabilitation war deshalb so hoch, weil viele der Lagerinsassen der Spionage für die Westalliierten bezichtigt wurden, ohne einen Beweis dafür zu erbringen. Die zweite große Gruppe der Rehabilitierten bildeten ehemalige Jugendliche, denen Aktivitäten bei den Werwölfen vorgeworfen wurden. In den letzten Kriegsmonaten hatte die Reichsführung die Jugendlichen aufgerufen, im Hinterland der Alliierten militärisch zu attackieren. Davor fürchteten sich insbesondere die „Russen“ selbst nach der offiziellen Kapitulation so sehr, dass sie schon prophylaktisch Jugendliche von der Straße weg aufgriffen und in die Sonderlager steckten.

Ich weiß, Vergleiche hinken sehr oft. Dennoch wage ich, einen anzustellen: Hinter den nationalsozialistischen KZ stand die Absicht des vorsätzlichen Mordes, und bei den sowjetischen Speziallagern war es fahrlässiger Mord. In beiden Fällen wurde der Tod vieler Menschen billigend in Kauf genommen. Die Arbeitsweise der Sowjetischen Militärtribunale hatte nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Die Sowjetunion hatte in der Tat die größten Opfer im Zweiten Weltkrieg gebracht. Allerdings hatte sie sich durch ihre Praxis moralisch nahezu auf das gleiche Niveau begeben wie ihr ehemaliger Kriegsgegner.

Angesichts dieser bedrückenden Situation in der DDR ist der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 schon ein Wunder.

2.7 Meine Erlebnisse mit der Sowjetunion und der sowjetischen Besatzungsmacht

Neuruppin war, wie schon erwähnt, bereits seit 1740 Garnisonsstadt. In den 1930er-Jahre wurden die bestehenden Kasernen noch durch Panzerkasernen zwischen Neuruppin und Altruppin und durch einen Flugplatz, der nach modernsten technischen Erkenntnissen gebaut wurde, ergänzt. Als 1945 die Rote Armee die Armeeanlagen der Wehrmacht übernahm und sich für Neuruppin als den wichtigsten Standort im nördlichen Brandenburg entschied, wurden sich die schönsten Villen (für die Offiziersfamilien) angeeignet, nördlich von Neuruppin ein großer Panzerübungsplatz und in der Ruppiner Heide ein Bombenabwurfplatz eingerichtet. Den damals etwa 25 000 Neuruppinern dürfte wohl die gleiche Anzahl an „Russen“ gegenübergestanden haben.

Die sowjetischen Truppen hatten ihr Gelände, das kein Deutscher betreten durfte, durch Mauern oder Bretterzäune blickdicht gemacht. Außer bei Manövern oder Aufmärschen aus bestimmten feierlichen Anlässen waren die einfachen Soldaten kaum zu sehen. Sie waren nicht zu beneiden. Einerseits bekamen sie im Monat nur 30 DDR-Mark, was gerade einmal für ein paar Schachteln Papirossa-Zigaretten reichte. Andererseits, da sie die Kaserne so gut wie nie verlassen durften, waren sie ständig dem Drill durch die Offiziere ausgesetzt. Es drehten auch einige Soldaten durch und versuchten zu desertieren. Oft endete die Flucht tödlich …

Die Präsenz der sowjetischen Armee war in Neuruppin schon bedrückend. Selbst bei jemandem wie mir, der mit diesem Zustand groß geworden ist und es auch zeitweise ausblenden konnte, war spätestens, wenn ich an einer Kaserne der Sowjetarmee vorbeikam oder einem sowjetischen Armeeangehörigen begegnete, ein leichtes Gefühl des Unwohlseins vorhanden. Bereits als Kind verspürte ich, dass ihre Anwesenheit kein Normalzustand sein konnte. Nicht selten hörte ich von älteren Westdeutschen, sie hätten als Kind von den Engländern oder Amerikanern ein Stück Schokolade bekommen, und seitdem seien sie absolute (kritiklose) Anhänger Großbritanniens oder der USA geworden, und die Stationierung ihrer Truppen in der alten und neuen BRD fanden sie in Ordnung. Im Nachhinein hätte ich von diesen gern gewusst, ob sie sich zumindest als Erwachsene einmal die Frage gestellt haben, welche Interessen diese Staaten in Wirklichkeit verfolgten und inwiefern sie ihre persönlichen Erlebnisse mit den alliierten Soldaten in die große Weltpolitik eingeordnet haben. Mich erschreckt schon, dass der Freiheitsgedanke bei sehr vielen Westdeutschen überhaupt nicht vorhanden ist. Denn frei ist man nur, wenn man souverän ist. Wenn man von eventuell vorhandenen Geheimverträgen absieht, so ist Deutschland zwar auf dem Papier souverän, aber die Politiker und die Vertreter der Leitmedien verhalten sich wie Vasallen: Gegenüber den USA verhalten sie sich oft demütig und im vorauseilenden Gehorsam. Dabei sollte man sich nicht von ihrer Oppositionshaltung gegenüber Trump irritieren lassen. Die Stationierung von US-amerikanischen Truppen, die Existenz von Drohnenleitzentralen und eines Spionagezentrums auf deutschem Boden, die freiwillige Umrüstung von Flugzeugen der Bundeswehr zur Befähigung des Transportes und Abwurfes US-amerikanischer Atombomben und die starke logistische Unterstützung der Bundeswehr in Osteuropa für die US-Truppen, um Russland zu drohen und zu provozieren, sind nur einige Beispiele der devoten Haltung. Es gibt sie noch in anderen Bereichen, was aber nicht Thema dieses Kapitels sein soll. Unter Freiheit wird von vielen Westdeutschen bedauerlicherweise nur die individuelle, aber nicht die staatsrechtliche verstanden. Oft merken sie nicht: Selbst die persönliche Freiheit hängt vom Geldbeutel ab …

Meine Eltern zogen Anfang der 1950er in Neuruppin in ein Miethaus in die Musikersiedlung. Diese Häuser waren in den 1920er-/1930er-Jahren gebaut worden. Das Haus, in das sie zogen, war von einem idyllischen Garten umgeben. Es hatte aber einen Schönheitsfehler: Es lag in der Einflugschneise für die sowjetischen Flugzeuge, die auf dem nahe gelegenen Flugplatz landen wollten. Die Piloten flogen so niedrig über das Haus, dass ich teilweise sogar ihre Gesichter erkennen konnte. Es mag sein, dass die Flugzeuge in der Wehrmacht noch leiser gewesen waren. Die sowjetischen Jagdflugzeuge, die MIGs, waren dagegen sehr laut und ihre Nachfolgetypen noch lauter. Aus heutiger Sicht ist es mir rätselhaft, wie meine Familie und ich das jahrelang ausgehalten haben. Der Lärm nahm solche Ausmaße an, dass bei ungünstigen Windverhältnissen die Menschen in der Stadt, die draußen standen, sich nicht mehr unterhalten konnten. Sie mussten eine Pause machen. Wenn ein Düsenflugzeug die Schallmauer durchbrach, dann bebten ganz leicht die Hauswände, und die Fenster klirrten leise. Dieser unhaltbare Zustand ging bis in die 1980er-Jahre. Dann einigte sich die sowjetische Kommandantur mit den Kommunalpolitikern Neuruppins, dass die Flüge nur noch montags, mittwochs und freitags durchgeführt werden sollten. Manöver waren von dieser Regelung ausgenommen. Gelegentlich flogen die sowjetischen Düsenjäger dicht über die Stadt, was bei den Neuruppinern schon den Eindruck hinterließ, es werde der Angriff auf Ziele in der Stadt geübt.

Gegen den Fluglärm und die zuletzt genannten fragwürdigen Übungen regte sich auch Widerstand. Von den deutschen Verwaltungsstellen bekam der Beschwerdeführer dann zur Antwort, ob er gegen den Weltfrieden sei. Wer zu penetrant wurde, bekam es dann mit der Staatssicherheit zu tun.

Unabhängig davon gab es auch Panzerschießübungen in der Nähe Neuruppins. Die Schüsse waren auch gut hörbar. Jährlich führten die sowjetischen Panzertruppen, die in der DDR stationiert waren, ein gemeinsames Manöver durch. Dann fuhren die Panzer durch die Stadt zum Güterbahnhof. Dort wurden sie auf Waggons verfrachtet. Auf ihrem Weg durch die Stadt beschädigten sie das Straßenpflaster. An den Kreuzungen, wo die Panzer abbiegen mussten, wurden die Bordsteinkanten einfach weggedrückt. Ich denke, für die Beseitigung der Straßenschäden musste die DDR selbst aufkommen.

Hierzu habe ich eine Episode: In den 1960er-Jahren kam mein Großonkel aus Westberlin zu Besuch nach Neuruppin. Altersbedingt war er nicht mehr so agil. Dass er nun gar nicht aus dem Haus gehen wollte, damit hatte keiner von uns gerechnet. Einmal konnten wir ihn doch überreden. Seine Lieblingstorte wartete auf ihn in unserem Garten. Auf dem Weg dorthin mussten wir den Bahnübergang des Güterbahnhofs passieren. Ausgerechnet an diesem Tag um diese Uhrzeit mussten die Schranken geschlossen sein und die „Russen“ ihre Panzer auf dem Güterbahnhof auf die Waggons verladen. Wir wussten nicht, wann die Schranken wieder geöffnet werden würden. Aber wir dachten uns, eine zu lange Wartezeit würde die Reichsbahn bzw. würden die „Russen“ den Wartenden nicht zumuten. Doch Pustekuchen! Letztendlich standen wir eine Dreiviertelstunde davor. Manchmal sollen die Schranken bei einer solchen Aktion eineinhalb Stunden am Stück geschlossen gewesen sein! Nun kann sich der Leser ausmalen: Zu einem weiteren Spaziergang konnten wir meinen Großonkel nicht mehr motivieren …

Da mein Vater Russischlehrer war, gab es von der Schule aus in regelmäßigen Abständen Veranstaltungen mit Vertretern der sowjetischen Armee. Auf diesem Wege kam er in Kontakt mit einer russischen Offiziersfamilie. Einmal war das Ehepaar sogar in unserer Wohnung. Allerdings hatte diese freundschaftliche Verbindung keinen Bestand. Diese Familie wurden an einen anderen Standort in der DDR versetzt. Private Kontakte zu Deutschen waren aus Angst vor Spionage strikt verboten. So war die von der DDR-Führung gepredigte deutsch-sowjetische Freundschaft eher etwas Theoretisches.

Seit den 1970er-Jahren gab es eine geringfügige Öffnung gegenüber der deutschen Bevölkerung: Die von der sowjetischen Armee betriebenen Lebensmittelgeschäfte, die sogenannten Russenmagazine, wurden auch für Deutsche zugänglich. Dort konnte man auch russische Produkte kaufen. Dadurch lernte ich russisches Konfekt kennen, das so verpackt wurde, als wären es Bonbons, und das sehr gut schmeckte. Die sowjetische Sektsorte „Krimskoje“ erlangte über die Russenmagazine in der DDR einen großen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad. Anstatt einer Ladenkasse verwendeten die russischen Verkäuferinnen zur Ermittlung der Verkaufsendsumme immer einen Abakus, was den Deutschen etwas exotisch vorkam …

Ab der 5. Klasse lernten die Schüler in der DDR die russische Sprache, und ab der 7. Klasse bestand die Möglichkeit, am Englischunterricht teilzunehmen. Die Teilnahme am Russischunterricht war Pflicht, die am Englischunterricht freiwillig. Russisch wurde als ein Hauptfach angesehen, sodass der Schüler bei der Note „5“ nicht in die nächsthöhere Klasse versetzt werden durfte. Im Gegensatz zu vielen meiner Mitschüler fiel mir das Erlernen der russischen Sprache wesentlich leichter. Das lag daran, dass mein Vater Russischlehrer war, aber auch, weil er Sorbe war.

Ab der 5. Klasse erhielten die Kinder Briefadressen von russischen Schülern gleichen Alters. Dadurch sollten die deutschen Kinder besser Russisch lernen und die russischen besser Deutsch. Es war zweifellos ein kleiner Beitrag zur Völkerverständigung. Mancher Schriftwechsel währte nur einige Monate, viele mehrere Jahre. Ganz selten hielten die Brieffreundschaften ein Leben lang. Spätestens wenn eine Lehre begonnen wurde, zudem noch an einem anderen Ort, oder die erste große Liebe das Leben bestimmte, wurde der Briefkontakt abgebrochen. Ich hielt eine Brieffreundschaft mit einem Mädchen, das „unweit“ von Moskau lebte. In der Sowjetunion galt ein Ort als vom anderen „unweit“ (russisch: ne dalekó) gelegen, wenn er 100, 200, oder 300 km entfernt war. Das sind die Entfernungsempfindungen eines in der Sowjetunion lebenden Menschen. Ich hatte natürlich den Vorteil, jederzeit meinen Vater fragen zu können. Die Brieffreundschaft hielt bis zur 10. Klasse … Ich denke, dass diese Brieffreundschaften schon eine Wirkung auf die Menschen in der DDR und in der Sowjetunion ausgeübt hatten. Denn bemerkenswert ist: Obwohl die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen Deutschland mehr als 20 Millionen Menschen verloren hatte, schlug (schlägt) den Deutschen in den Ländern der (ehemaligen) Sowjetunion kein Hass entgegen, sondern Höflichkeit und Herzlichkeit.

Hierzu gibt es auch eine Episode zum Schmunzeln: Eines Tages schrieb mir meine russische Brieffreundin, ob ich sie für ein paar Tage besuchen könnte. Ich weiß nicht, ob sie sich dessen bewusst war, dass das nicht so einfach ging. Ihre Familie hätte eine Einladung schreiben müssen. Ob ich in dem Alter allein dorthin hätte fahren dürfen, war auch nicht so klar. Ich war jedenfalls sehr begeistert. Mein Vater hatte schon längere Zeit zuvor gesagt, dass er wenigstens einmal im Leben in die Sowjetunion fahren möchte. (Er war Russischlehrer, aber auch überzeugter Kommunist. Er hatte eine solche Reise nie angetreten …) Umso erstaunter war ich, dass er es nicht wollte, dass ich führe. Warum nur? Ich denke, er wollte nicht, dass ich sähe, dass es den Menschen in der Sowjetunion wesentlich schlechter ging als den Menschen in der DDR. Da hätte ich mir vielleicht die Frage stellen können, ob der Kommunismus/Sozialismus wirklich so toll sei. Hatte er wirklich gedacht, dass ich das nicht wüsste? In den Schulen in der DDR wurde das Leben in der Sowjetunion glorifiziert. Allerdings gab es Menschen aus der DDR, die geschäftlich oder durch Bauarbeiten in der Sowjetunion unterwegs waren und ungeschminkt ihre teils deprimierenden Eindrücke wiedergaben. Solche Informationen gingen trotz Propaganda, Meinungsdiktat und Stasi wie ein Lauffeuer von einer zur anderen Ecke des Landes. Schlussendlich war bald keine Rede mehr von dem Besuch. Je erwachsener ich wurde, desto heftiger wurden die Diskussionen mit meinem Vater darüber, ob der von der Sowjetunion vorgelebte Sozialismus/Kommunismus wirklich ein erstrebenswertes Ziel sei.

Als ich als Jugendlicher in das Arbeitsleben eintrat, wurde ich damit konfrontiert, in die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) einzutreten. Der Druck kam nicht direkt und offen vom Staat. Hier wurde viel raffinierter vorgegangen: Die Kollegen bedrängten mich, in diese Organisation einzutreten. Denn wenn alle Kollegen des Kollektivs Mitglied der DSF sein sollten und einige weitere Bedingungen erfüllen würden, dann könnten sie als „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet werden und eine hohe Geldprämie bekommen. Wer wollte da als neuer Kollege Spielverderber sein? Auf diesem Wege bin ich wie viele Jugendliche Mitglied der DSF geworden. Diese Mitgliedschaft bestand nur auf dem Papier und zog für mich keine Verpflichtungen nach sich. In die SED einzutreten, wäre hingegen etwas gewesen, was nach außen hin und bis in die Familie hineingewirkt hätte … 1994 sind die letzten Truppen der Sowjetarmee aus der DDR und somit auch aus Neuruppin abgezogen. Große Gebiete der ehemaligen Übungsgebiete sind noch heute gesperrt, weil dort russische Munition herumliegt. Am ehemaligen Militärflugplatz und in einem Neubaugebiet am See Neuruppins ist das Grundwasser wegen des katastrophalen Umweltbewusstseins des sowjetischen Militärs mit Halogenkohlenwasserstoffen (krebserregenden Giftstoffen) verseucht, weshalb die Nutzung dieses Wassers offiziell verboten wurde.

Auch wenn ich gegen die Besatzung der DDR durch die Sowjetarmee war und übrigens gegen jede Besatzung einer fremden Militärmacht auf deutschem Boden, so konnte ich stets das eine und das andere auseinanderhalten. Es ist lobenswert, wenn man Soldaten, egal in welcher Armee sie dienten, ehrt, weil sie im Krieg und danach menschliche Größe und Mitgefühl gegenüber der Bevölkerung des unterlegenden Volkes zeigten. Trotzdem sollte man sich fragen, welche Agenda die Führungsschicht eines Landes verfolgt, aus dem der Soldat kommt.

Dieses Abstraktionsvermögen vermisse ich bei vielen westdeutschen Zeitgenossen.

Es macht mich schon sehr traurig, wenn ich sehe, dass deutsche Soldaten erneut an der Grenze zu Russland stehen und dass sich die deutsche Bundesregierung von den USA und den Scharfmachern in Polen und den baltischen Staaten gegen Russland aufhetzen lässt. Seit Ende der 1990er-Jahre haben sich bei den Grünen unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung Kräfte durchgesetzt, die einen proamerikanischen und zutiefst antirussischen Kurs eingeschlagen haben.

Die Außenpolitik der angloamerikanischen Finanzelite und des US-amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes, Deutschland und Russland gegeneinander aufzuhetzen, trägt bei den Bundespolitikern und bei den Vertretern der westdeutsch geprägten Leitmedien zweifellos Früchte. Zur Erinnerung: Am 4. Februar 2015 sagte der US-amerikanische Geostratege, Politiker und Sicherheitsexperte George Friedman vor dem Chicago Council on Global Affairs in Chicago unverblümt: „Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Weil vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptziel galt sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.“56 Zu dieser Äußerung gab es weder von Merkel noch von den anderen Bundespolitikern, außer von den Linken, und auch nicht von den Mainstream-Medien eine Reaktion …

11 Augstein, Rudolf (07.01.1985): "Auf die schiefe Ebene zur Republik". Rudolf Augstein über das zu mächtig aufgeblähte Reich. In: Der Spiegel, Nr. 2/1985, S. 22‒32, hier: 30.

12 Keller, Thorsten (04.11.2019): "Als Gorbatschow die sowjetischen Soldaten heimholte". In: Märkische Allgemeine Zeitung vom 04.11.2019. Online verfügbar unter https://www.maz-online.de/Brandenburg/Wendejahr-19‌89-‌Als-Gorbatschow-die-sowjetischen-Soldaten-heimholte (zuletzt abgerufen am 19.09.2020).

13 Krauel, Torsten (09.08.2019): Warum der Abzug aus Deutschland auch für die USA gefährlich wäre. In: Welt.de vom 09.08.2019. Online verfügbar unter https://www.welt.de/politik/ausland/article198274947/Grenell-Warum‌-der-Truppenabzug-fuer-die-USA-gefaehrlich-waere.html (zuletzt abgerufen am 07.10.2020).

14 Volkmann, Hans-Erich (1995): "Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau", herausgegeben im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München: Piper, 1995, S. 32.

15 Windisch, Elke (21.06.2013): Merkel fordert Beutekunst von Moskau zurück. In: Der Tagesspiegel vom 21.06.2013. Online verfügbar unter https: ‌//www.tagesspiegel.de/politik/eroeffnung-von-ausstellung-in-st-petersburg-merkel-fordert-beutekunst-von-moskau-zurueck/8388712.html (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

16 Latour, Conrad Franchot/Vogelsang, Thilo (1973): Okkupation und Wiederaufbau. Die Tätigkeit der Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands 1944‒1947, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1973, S. 159.

17 Karlsch, Rainer/Laufer, Jochen (2002): Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944‒1949. Hintergründe, Ziele und Wirkungen (Zeitgeschichtliche Forschungen [ZGF], Band 17), Berlin: Duncker & Humblodt, 2002, S. 62.

18 Karlsch, Rainer (2004): Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945‒1953, Mockrehna: Elbe-Dnepr-Verlag, Reprint 2004, S. 233.

19 Wenzke, Rüdiger/Diedrich, Torsten (2003): Die getarnte Armee: Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952‒1956, 2. Auflage, Berlin: Ch. Links, 2003, S. 311‒312.

20 Althaus, Johann (09.07.2015): US-Herrschaft über Leipzig verunsicherte die DDR. In: Welt.de vom 09.07.2015. Online verfügbar unter https:// ‌www.welt.de/geschichte/article‌143763148/US-Herrschaft-ueber-Leipzig-verunsicherte-die-DDR.html (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

21 Adenauer, Konrad (1983): Memoirs 1945‒1953, United Kingdom: Gateway Books, März 1983, S. 148.

22 Naimark, Norman M. (1997): The Russians in Germany: A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945‒1949, Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press, Reprint 1997, S. 206.

23 O. V. (15.11.2020): USA gewährten Nazis Unterschlupf. In: Zeit-Online.de vom 15.11.2020. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/wissen/geschich‌te/2010-11/nazis-USA-unter‌schlupf (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

24 Gimbel, John (1986): U.S. Policy and German Scientists: The Early Cold War. In: Political Science Quarterly, Vol. 101, No. 3, 1986, S. 433‒451.

25 Sapinski, Hellin (22.10.2016): Als die Sowjets deutsche Techniker "erbeuteten". In: Die Presse vom 22.10.2016. Online verfügbar unter https://‌www. ‌diepresse.com/5104265/als-die-sowjets-deutsche-techniker-erbeuteten (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

26 Karlsch/Laufer (2002), S. 134‒140.

27 Kellerhoff, Sven Felix (28.09.2020): Deutschlands Reparationszahlungen laufen aus. In: Welt.de vom 28.09.2020. Online verfügbar unter https://‌www.welt.de/wirtschaft/article‌9923669/Deutschlands-Reparationszahlungen-laufen-aus.html (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

28 Karlsch, Rainer (2004), S. 85; Karlsch/Laufer (2002), S. 66.

29 Farquharson, John (1998): Grossbritannien und die deutschen Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 46 (1998), Heft 1, S. 43‒67, hier: 56; aus dem Englischen übersetzt von Hermann Graml. Online verfügbar unter https://‌www.ifz-muenchen.de/‌heftarchiv/1998_1_3_farquharson.pdf (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

30 Schreiben des Abwicklers der Deutschen Reichsbank im Bundesministerium für Wirtschaft, Dr. Heinze, vom 14. Februar 1963, Geschäfts-Nr. ZA2-101033, S. 2, Abschnitt II. Online verfügbar unter https://peter-koppen. ‌de/Reichsbankgold/3_Reichsbankgold_Inhaltsverzeich‌‌nis/‌‌Reichsbankgold_3_inhalt_dokumente/3_S_354.htm (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

31 Wenzel, Siegfried (2006): Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben?, 7. Auflage, Berlin: Das Neue Berlin, 2006, S. 43.

32 Behling, Klaus (2018): Leben in der DDR: Alles, was man wissen muss, Berlin: Bild und Heimat Verlag, 2018, S. 18.

33 Karlsch (2004), S. 230.

34 Rudnicka, J. (30.06.2020): Entwicklung der Gesamtbevölkerung Deutschlands von 1871 bis 2019. In: Statista GmbH. Online verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/‌studie/1358/umfrage/entwicklung-der-gesamtbevoelkerung-deutschlands/ (zuletzt abgerufen am 08.10.2020); Statista Research Department (01.06.1990): Wohnbevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) von 1949 bis 1989. In: Statista GmbH. Online verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/249217/umfrage/bevoelkerung-der-ddr/ (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).

35 Karlsch (2004), S. 228.

36 Karlsch, Rainer (02.12.1995): Der Selbstmord des Chefs der Staatlichen Plankommission und das Ende der Wirtschaftsreformen 1965 in der DDR: Warum ging Erich Apel in den Tod?. In: Berliner Zeitung vom 02.12.1995. Online verfügbar unter https://www.berliner-zeitung.‌de/der-selbstmord-des-chefs-der-staatlichen-plankommission-und-das-ende-der-wirtschafts‌‌reformen-1965-in-der-ddr-warum-ging-erich-apel-in-den-tod-li.54615 (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

37 Ritschl, Albrecht/Vonyó, Tamás (2014): The roots of economic failure: what explains East Germany's falling behind between 1945 and 1950?. In: European Review of Economic History, Volume 18, Issue 2, May 2014, S. 166-184, hier: 169. Online verfügbar unter https:‌//‌academic.oup.com/ereh/article-abstract/18/2/‌166/40‌5398?redirectedFrom=fulltext (zuletzt abgerufen am 11.10.2020).

38 Ritschl/Vonyó (2014), S. 170.

39 Ritschl/Vonyó (2014), S. 171.

40 Ritschl/Vonyó (2014), S. 172.

41 Ritschl/Vonyó (2014), S. 173.

42 Karlsch (2004), S. 237.

43 Karlsch (2004), S. 234.

44 Karlsch/Laufer (2002), S. 495.

45 Karlsch/Laufer (2002), S. 489.

46 Karlsch/Laufer (2002), S. 506.

47 Sontheimer, Michael (22.02.2018): Erst vergewaltigt, dann vergessen. In: Spiegel Geschichte vom 22.02.2018. Online verfügbar unter https://‌www. ‌spiegel.de/spiegelgeschichte/‌deutsch‌land-nach-dem-zweiten-weltkrieg-das-leid-vergewaltigter-frauen-a-1190761.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2020).

48 Kratzer, Hans (20.05.2010): Vergewaltigt, verschwiegen, verdrängt. In: Süddetsche.de vom 20.05.2010. Online verfügbar unter https://www.sueddeut‌sche.de/bayern/nach-kriegsende-vergewaltigt-verschwiegen-verdraengt-1.944243 (zuletzt abgerufen am 19.09.2020).

49 Langels, Otto (04.05.2015): Massenhafte Vergewaltigungen durch Siegermächte. In: Deutschlandfunk vom 04.05.2020. Online verfügbar unter https://www.deutschlandfunk.‌de/zweiter-weltkrieg-massenhafte-vergewaltigungen-durch.1310.de.html?dram: article_id=318892 (zuletzt abgerufen am 17.10.2020). Siehe auch Satjukow, Silke; Gries, Rainer (22.03.2015): Schweigen und schmerzhafte Fragen. In: Die Zeit vom 22.03.2015. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/01/vergewalti‌gung-soldaten-besatzungszone-hilfe (zuletzt abgerufen am 22.03.2015).

50 Steinmeier, Frank-Walter (08.05.2020): 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Online verfügbar unter https://www.bundespraesident.‌de/‌SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/05/‌200‌508-75-Jahre-Ende-WKII.html (zuletzt abgerufen am 06.11.2020).

51 Würz, Markus (19.02.2016): Internierungs- und Speziallager. In: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Online verfügbar unter https://‌‌www.hdg.de/‌lemgo/kapitel/‌nachkriegsjahre/entnazifizierung-und-antifaschismus/internierungs-und-speziallager.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2020).

52 Tagesschau.de (Hrsg.) (25.08.2007): "Die Verkündung des Urteils war irrwitzig". Online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/‌mel‌dung131382.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2020).

53 Weigelt, Andreas; Müller, Klaus-Dieter; Schaarschmidt, Thomas; Schmeitzer, Mike (2015): Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944-1947), Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Band 56, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S. 5.

54 MDR.de (Hrsg.) (10.08.2020): Sowjetische Speziallager in der DDR. Online verfügbar unter https://www.mdr.de/zeitreise/sowjetische-speziallager-104.html (zuletzt abgerufen am 17.10.2020).

55 Weigelt et al. (2015), S. 72.

56 Friedman, George (Chicago Council on Global Affairs) (04.02.2015): Europe: Destined for Conflict?, ab Minute 53:50. Online verfügbar unter https://‌www.youtube.‌com/‌watch‌?v=‌QeLu_yyz3tc (zuletzt abgerufen am 17.10.2020).

Der Ostdeutsche, das unbekannte Wesen

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