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3 Wie die Menschen in der Zeit zwischen 1945 und 1961 in der SBZ/DDR lebten

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war für viele Deutsche, egal ob sie in der West- oder in der Ostzone lebten, geprägt von großen Entbehrungen. Es war eine Zeit, in der es um das nackte Überleben ging, es viele Umbrüche gab und in der Hoffnungen aufkeimten. Für die Trauer um die Toten in der Familie und in der Verwandtschaft sowie um die verlorene Heimat blieb da oft wenig Zeit …

Mein Augenmerk richtet sich in diesem Kapitel auf das Leben in der SBZ/DDR. Aus der Zeit Mitte der 1930er-Jahre bis 1953 liegen mir im Einzelnen Erinnerungspuzzleteile meiner Eltern vor. Da ein großer Teil der Verwandtschaft meiner Mutter in Schlesien lebte, komme ich nicht umhin, auch über die Vertriebenen zu berichten.

3.1 Geschichtsrelevante Erlebnisse meines Vaters

Mein Vater, Jahrgang 1929, lebte in seiner Kindheit im Spreewald, im preußischen Teil der Lausitz. Er erinnerte sich sehr genau daran, wie Ende der 1930er-/Anfang der 1940er-Jahre unter Androhung der Prügelstrafe das Sprechen der sorbischen Sprache verboten wurde. (Solche Verbote gab es nicht einmal zur Kaiserzeit.) Diese Erfahrung musste er selbst sammeln, als er einmal auf dem Schulhof lauthals Sorbisch sprach.

Er erinnerte sich auch an die Nächte, als im Februar 1945 Dresden von der britischen Luftwaffe bombardiert wurde. Obwohl sein Heimatort 100 km Luftstrecke von Dresden entfernt war, sah er, wie sich bei Nacht der Himmel blutrot färbte. Der Bevölkerung in der Lausitz war bekannt, dass zu diesem Zeitpunkt Abertausende Flüchtlinge aus Schlesien in diese wunderschöne Stadt geströmt waren. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Wut und Angst vor dem, was noch kommen mochte, so könnte man die Stimmungslage der Lausitzer beschreiben.

Im Frühjahr 1945 überschritt die sowjetische Armee die Oder. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch das Dorf erreichte. Eilig wurde die Hitlerjugend, bestehend aus einem Dutzend von Jungen im Alter unter 17 Jahren, bewaffnet. Sie mussten Schützengräben ausheben. Auch mein Vater gehörte zum letzten Aufgebot Hitlers. Der Befehlshaber dieser Gruppe muss wohl ziemlich sprachlos gewesen sein, als meine wendische Großmutter vor ihm stand und meinen Vater mitnahm. Im Nachhinein gesehen, war das schon eine sehr mutige Tat, die Gott sei Dank folgenlos blieb. Kurz bevor die Russen kamen, türmten der Bürgermeister und der Befehlshaber dieser Hitlerjugendtruppe. Die Familie versteckte sich auf dem Heuboden des Bauerngehöfts …

Spätestens mit der Bodenreform im Jahre 1946, als viele Flüchtlinge und andere Landlose sich in der Lausitz niederließen, war es mit der sorbischen Sprachhoheit vorbei.

Mein Vater erzählte auch von einer öffentlichen Veranstaltung in Cottbus im Jahre 1946. Diese muss es wohl in vielen Orten der Lausitz gegeben haben. Dort wurde von der Möglichkeit gesprochen, dass eventuell ein großer Teil der Lausitz der Tschechoslowakei zugeschlagen werden sollte. Er erinnerte sich, dass sich dort tumultartige Szenen abgespielt haben. Es mag sein, dass zumindest einige Oberlausitzer Sorben, deren Sprache der tschechischen ähnelt, für diese Idee Sympathie hatten. Die Mehrheit aller in der Lausitz lebenden Menschen lehnte diese Idee aber kategorisch ab. Der endgültige Status quo des Gebietes Nachkriegsdeutschlands war bis 1947 nicht klar. Auch der Ruhrpott wurde erst dann endgültig Deutschland zugeschlagen …

In der SBZ/DDR wurde die Entnazifizierung, insbesondere im öffentlichen Dienst, rigoros durchgeführt. Zuweilen wurde über das Ziel hinausgeschossen und nicht selten sogar Sippenhaft betrieben, was der Vergangenheit hätte angehören sollen. Viele Lehrer, Rechtsanwälte, Bürgermeister und Angestellte in den kommunalen Verwaltungen vom Bürgerhaus bis zur Landesverwaltung usw., die Mitglied der NSDAP gewesen waren oder sich anderweitig für das Dritte Reich hervorgetan hatten, wurden entlassen. Hunderttausende waren davon betroffen. Arbeiter und Bauern sollten diese Funktionen übernehmen. Um schnell voranzukommen und diese zu befähigen, entstanden sogenannte „Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten“ (ABF). Dort wurden Arbeiter und Bauern an die Hochschulreife herangeführt. Damit sollte auch das Bildungsmonopol bestimmter Gesellschaftsschichten gebrochen werden. Mein Vater arbeitete als Maurer. Er nahm diese Gelegenheit wahr, absolvierte erfolgreich das Abitur, studierte an der Brandenburgischen Landeshochschule Potsdam und nahm Anfang der 1960er-Jahre die Arbeit als Deutsch- und Russischlehrer auf.

Die Entlassung Tausender zu Recht oder Unrecht Beschuldigter bot vielen jungen Menschen die Möglichkeit, in der DDR eine Karriere zu machen. Insofern war die Stimmungslage in der DDR sehr gespalten. Es gab nicht wenige, die mit der Gründung der DDR die Möglichkeit sahen, einen deutschen Staat zu gestalten, der sich nur das „Beste“ aus der langen deutschen Geschichte herausfischte und weiterentwickelte. Die Spaltung der Gesellschaft zeigte sich sehr deutlich im Jahre 1953: Am 5. März starb Stalin. Wie mir meine Eltern berichteten, gab es schon einige Zeitgenossen, die seinen Tod beweinten. Am 17. Juni desselben Jahres streikten Arbeiter, anfangs gegen zu hohe Arbeitsnormen und gegen das Missmanagement durch SED-Funktionäre, dann prinzipiell gegen die SED und die sowjetische Besatzungsmacht.

Nur mit harter Hand und dem Erlass der Reparationsschulden konnte dieser Staat noch gerettet werden und weiterexistieren. Wie fragil die gesellschaftlichen Verhältnisse in den 1950er-Jahren waren, zeigte sich auch darin, dass die ab Mai 1945 herausgegebenen Lebensmittelmarken in der DDR bis 1958 ihre Anwendung fanden. Noch über die 1960er-Jahre hinaus gab es eine Bezugsberechtigung für Speisekartoffeln und für Braunkohlebriketts. In der BRD endete die Ausgabe von Lebensmittelkarten bereits 1950.

Die Aufteilung der Lebensmittelkarten in fünf Kategorien und die Ausgabe von Zusatzkarten für schwere und sehr schwere Arbeit sowie für die Intelligenz führten dazu, dass sich die Menschen eine Arbeit suchten. Denn Nichterwerbstätige, Kinder, Schwerbehinderte, Rentner und ehemalige NSDAP-Mitglieder erhielten auf ihre Lebensmittelkarte so wenig, dass diese im Volksmund als „Friedhofskarte“ bezeichnet wurde. Es war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

3.2 Die Erlebnisse meiner Mutter

Die Familie meiner Mutter kam aus Oberschlesien. Ende der 1930er-Jahre zogen sie nach Berlin um. Berlin musste wohl in dieser Zeit eine unglaubliche Sogwirkung auf die Menschen gehabt haben. Die Einwohnerzahl Berlins war 1942 mit knapp 4,5 Millionen Menschen so hoch wie noch nie in der Vergangenheit und in der Zukunft. Meine Großmutter erzählte mir immer wieder mit leuchtenden Augen, wie toll sie die Besuche im Kino und im Friedrichstadt-Palast fand …

1940 erlebte Berlin seine ersten Bombardierungen. Jedoch seit Januar 1943 wurde Berlin von US-amerikanischen und britischen Flugverbänden regelmäßig und massiv bombardiert. Braunschweig lag in der Einflugschneise für Flüge in Richtung Berlin. Wenn über Braunschweig solche Bombenflugzeuge erschienen, kam diese Nachricht über das Radio. Dann hatten die Berliner eine halbe bis eine Stunde Zeit, sich in die Luftschutzräume zu begeben.

Um wenigsten meine Mutter, Jahrgang 1931, nicht der ständigen Gefahr durch die Bombardierungen auszusetzen, sorgten meine Großeltern dafür, dass sie durch die sogenannte Kinderlandverschickung weit weg vom Kriegsgeschehen kam und dort auch weiter am Schulunterricht teilnehmen konnte. Meine Mutter gelangte dadurch nach Königshütte (Schlesien, Regierungskreis Oppeln), nach Kärnten an den Millstätter See und nach Dänemark.

Zwischen dem 18. und 26. November 1943 in der Nacht wurde das Nachbarhaus in der Bergstraße, wo meine Urgroßmutter, meine Großeltern, meine Mutter und meine Tante wohnten, durch eine Brandbombe mit Zeitzünder getroffen. Da sich in der betroffenen Wohnung zu dieser Zeit keiner aufhielt, wurde die Bombe erst sehr spät bemerkt. Bevor es im 4. Stock des Nachbarhauses eine Familie bemerkte, brannte die Treppe im Hausflur bereits lichterloh, sodass ihnen der Fluchtweg abgeschnitten war. Ein Mann und zwei Frauen standen an den Fenstern und schrien vor Verzweiflung. Unten standen zwei Männer mit einem Sprungtuch und riefen, dass sie herunterspringen mögen. Sie zögerten. Doch dann sprang einer nach dem anderen … in den Tod. Keiner überlebte den Sprung. Meine Mutter sah, wie die drei Leichen am gegenüberliegenden Friedhof abgelegt wurden. Bei den Wirren der Ausräumaktion wäre meine Tante, damals ein Kleinkind, um Haaresbreite zwischen den Decken erstickt worden. Während die Familie meiner Mutter glimpflich mit dem Leben davongekommen war, kam ihre beste Schulfreundin mit ihrer Familie in jener Nacht durch eine britische Phosphorbombe ums Leben. Meine Mutter, die es gar nicht fassen konnte, stand vor dem ehemaligen Haus ihrer Freundin, das bis zum Kellergeschoss zerstört war und wo es noch schwelte und bläulich glomm … Nachdem die Familie meiner Mutter eine Nacht im nahe gelegenen U-Bahn-Tunnel Stettiner Bahnhof und danach in einem stillgelegten S-Bahn-Tunnel einige Tage verbracht hatte, bekam sie ein Quartier bei einem Großbauern in Protzen, einem Dorf bei Neuruppin, zugewiesen. Mein Großvater blieb in Berlin, da er als Elektriker bei der Polizei eine Arbeit hatte. Meine Großmutter musste somit allein für die Familie sorgen. Das war wohl das Schicksal vieler deutscher Frauen.

Neuruppin war seit der Regierungszeit des Vaters Friedrichs des Großen eine Garnisonsstadt. Die sowjetische Armee hatte die Kasernen und das Übungsgelände nahtlos von der Wehrmacht übernommen. Sie war in der SBZ für die Zeit, als die Betriebe noch nicht richtig arbeiteten, einer der wenigen Arbeitgeber. Da Protzen ein sehr großes Dorf war, wurde auch dort eine sowjetische Kommandantur eingerichtet. Eines Tages hielt ein Lkw der Sowjetarmee vor dem Bauernhaus, wo meine Großmutter mit ihrer Mutter und den Kindern untergebracht war, an. Es stieg ein älterer russischer Offizier aus und ließ mehrere deutsche Frauen antreten. Er gab zu verstehen, dass sie kaputte sowjetische Armeekleidung, die bereits gewaschen sei, zu reparieren hätten. Hierzu ließ er Säcke voller Kleidung und Nähmaschinen vom Lkw holen. Ehe sich meine Großmutter dessen versah, bekam sie bei den Russen eine zeitlich befristete Verdienstmöglichkeit. Mit dieser Art von Referenz für zuverlässige und gute Arbeit erhielt sie die Möglichkeit, in einer der sowjetischen Kasernen in Neuruppin zu arbeiten. Als Lohn gab es immer Lebensmittel. Ein anderes Mal wurde der Bürgermeister des Dorfes vom sowjetischen Militär angerufen, er solle eine bestimmte Anzahl Männer und Frauen für eine Arbeit für sie bereitstellen. Gesagt, getan. Mein Großvater und meine Mutter wurden auch dem noch unbekannten Arbeitseinsatz zugeteilt. Sowjetische Soldaten holten sie mit Lkws ab und brachten sie nach Neuruppin. Dort mussten sie aus bereits ausgehobenen Gräben Telefonleitungen bergen, die auf einer großen Rolle aufgerollt wurden. Die Arbeit zog sich wochenlang hin. Da zu dieser Zeit nur Reiche, wichtige Leute der Gesellschaft, Handwerksbetriebe und die staatlichen Verwaltungen ein Telefon hatten, nehme ich an, dass das Telefonleitungen waren, die zum großen Teil für das deutsche Militär bestimmt gewesen waren. Diese Aktion gehörte zweifellos zu den Reparationsleistungen, die Nachkriegsdeutschland zu erbringen hatte.

Da das, was man oftmals für die Lebensmittelkarte bekam, nicht satt machte, ging die Familie in der Nacht auf die Felder, um ein paar Kartoffeln zu stoppeln. Immer wieder hörte ich von meinen Großeltern mütterlicherseits die Geschichte, wie sie bei einer solchen Aktion das mitgenommene Fahrrad so gut getarnt hätten, dass sie stundenlang gesucht und es erst im Morgengrauen gefunden hätten. Ich denke, so hat jede deutsche Familie ihre eigene unvergessliche Nachkriegsgeschichte.

Ende der 1950er-Jahre kehrten die Eltern meiner Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion der DDR den Rücken und nahmen sich eine Wohnung in Westberlin. Ich nehme an, meine Großmutter vermisste zu sehr das Flair einer Großstadt. Der Wegzug war für meine Familie zwar schmerzlich, aber zu dieser Zeit insofern nicht so tragisch, als ein Besuch jederzeit möglich war. Über die Irrungen und Wirrungen sowie die politische Situation kurz vor und nach dem Bau der Berliner Mauer habe ich ein gesondertes Kapitel geschrieben …

3.3 Die SBZ/die DDR und die Vertriebenen/‌‌Spätaussiedler

Ein Teil der Verwandtschaft meiner Mutter blieb in Oberschlesien, auch nachdem es Polen zugeschlagen worden war. Allerdings fanden viele von ihnen das Leben unter polnischer Herrschaft unerträglich. Einige von ihnen starben vor Kummer, andere versuchten, auf legalem oder illegalem Wege ihre Heimat für immer zu verlassen. Es blieben nur ganz wenige Deutsche in Schlesien, die bereit waren, ihre Identität weitgehend zu verleugnen. Eine Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits wurde bei dem Versuch, das jetzige Polen illegal zu verlassen, vom polnischen Militär aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt. Sie wurde von der BRD freigekauft. Der DDR-Führung war das Schicksal der Deutschen, die nach 1945 in den ehemaligen Ostgebieten lebten, vollkommen egal. Sie machte für diese Menschen keinen Finger krumm.

Ende der 1960er-Jahre kam in meine Klasse ein sogenannter Spätaussiedler aus Schlesien. Nach langer Zeit hörte ich wieder den schwer klingenden schlesischen Dialekt …

Während die Vertriebenen in Westdeutschland eine Entschädigung für ihre in den Ostgebieten verlorenen Güter bekamen, erhielten sie in der DDR nichts, nicht einmal einen symbolischen Geldbetrag.

In der DDR konnte sich die Allgemeinheit keine Reichtümer anhäufen. Da es eine Arbeitsplatzsicherheit und nichts zu verteilen/zu verteidigen gab, gelang die Eingliederung der Vertriebenen und Spätaussiedler wesentlich unproblematischer als in Westdeutschland. Diese haben sich im Osten wie im Westen sehr verdient gemacht im Aufbau des Landes. Die Schattenseite ist, dass die Kultur und die Sprache der Pommeraner, der Ostpreußen und der Schlesier immer mehr verloren ging. Sie hatten einst die deutsche Kultur ungemein bereichert.

Die SED-Führung hatte zu Preußen und zu den Ostgebieten ein schon recht krankhaft distanziertes Verhältnis. Ich kann mich nicht entsinnen, dass im Geschichtsunterricht auf die Ostgebiete näher eingegangen worden wäre. Ich übertreibe an dieser Stelle etwas: Hätte es nicht die Flucht König Wilhelms III. und der Königin Luise vor Napoleon im Jahre 1807 nach Memel gegeben, dann wäre Ostpreußen nicht erwähnt worden. Und hätte der schlesischer Weberaufstand von 1844 nicht stattgefunden, dann wäre Schlesien mit keiner Silbe erwähnt worden. Folglich wurde im Geschichtsunterricht auch nicht über die Flüchtlingstrecks und das Leiden und Sterben der Vertriebenen berichtet. Kein Wort über die Beschießung der Flüchtlingsströme durch britische und russische Jagdflugzeuge! Und plötzlich war die Oder-Neiße-Grenze da! In diesem Sinne ist also das Verhältnis der SED-Führung zu den Vertriebenen und Spätaussiedlern zu verstehen.

Übrigens: Die punktuelle Geschichtsdarstellung findet heutzutage in der öffentlichen Meinungsbildung eine unglaubliche Renaissance. Denn dadurch kann die Bevölkerung gut politisch manipuliert werden …

3.4 Lebte in der DDR wirklich nur „der dumme Rest“?

Die Zeit zwischen 1945 und 1961 war in der SBZ/DDR keineswegs einfach. Die Zahl der Menschen, die die DDR verließen, stieg in dem Moment, als es erneut Repressionen durch den Machtapparat gab. Die Grenze zu Westdeutschland war bereits seit den 1950er-Jahren nahezu unüberwindbar. Bis zum 13. August 1961, dem Tag des Baus der Berliner Mauer, war zumindest die Flucht über Westberlin noch möglich. Erst als am 1. August 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki von 35 europäischen Staaten unterschrieben und die DDR als eigenständiger Staat anerkannt wurde, ging es den Menschen in der DDR, rechtlich gesehen, wesentlich besser.

Die meisten arrangierten sich mit dem System insoweit, als sie sich noch nicht mit der Sache der sozialistischen Gesellschaft gemein machten. Aber wo ist die Grenze dafür? Als Schüler wurde man regelrecht gezwungen, in die Pionierorganisation und in die FDJ einzutreten. Allerdings habe ich noch nie gehört, dass jemand Funktionär für Agitation und Propaganda (Agitprop) werden musste, wie es Angela Merkel der Öffentlichkeit weismachen will.

Immer wieder wurde im Westen abschätzig angemerkt, die DDR sei die Abkürzung für „der dumme Rest“. Der Vorwurf, ob er berechtigt sei oder nicht, kann sich nur auf den Zeitraum von 1949 bis 1961 beziehen, denn mit dem Bau der Berliner Mauer wurde den DDR-Bürgern die letzte Fluchtmöglichkeit genommen. Die Kritiker machen es sich hierbei etwas zu einfach. Ihre Kritik resultiert meines Erachtens aus einer gewissen Lebensfremdheit, denn die Gründe des Bleibens waren vielfältig. Die einen blieben, weil

• sie in der DDR einen Menschen liebten und ihn nicht verlieren wollten,

• ihre ganze Verwandtschaft im Osten lebte,

• sie überzeugt waren vom sozialistischen Gesellschaftssystem,

• sie die Erfahrung gesammelt hatten, dass Politiker gehen, aber das Volk bleibt,

• sie sich vollkommen aus der Politik heraushielten und sich ganz und gar der Kunst/Kultur oder anderen Interessengebieten verschrieben haben oder

• sie eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Heimat und der Natur entwickelt hatten.

Des Öfteren hatte ich von anderen gehört, dass Westverwandte, wenn sie in den Osten zu Besuch kamen, einerseits damit prahlten, wo sie überall im Ausland Urlaub machten. Andererseits kannten diese ihre eigene Heimat wenig. Es lag wohl daran, dass der Auslandsurlaub billiger war als der Urlaub in Westdeutschland. Im Osten war die Situation vollkommen anders: Die DDR-Bürger hatten nur eine sehr begrenzte Auswahl von Urlaubsplätzen im Ausland. Die Ausflugsziele lagen in erster Linie in der ČSSR, in Ungarn und in Bulgarien. Diese Länder waren trotz günstigem Wechselkurs relativ teuer bzw. der DDR-Bürger durfte nicht beliebig viel Geld umtauschen. Deshalb blieb er oft im eigenen Land und kannte zwangsläufig nahezu jeden Winkel seiner Heimat. Dadurch entstand ein gewisser Patriotismus, eine Heimatverbundenheit, die bei den Westdeutschen, außer bei den Bayern, in dieser Intensität oft nicht feststellbar war und ist. Hinzu kommt in Westdeutschland der Umstand, dass viele Ausländer die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, ohne sich wirklich mit Deutschland zu identifizieren (Parallelgesellschaften) …

Im nachfolgenden Kapitel stelle ich DDR-weite Gesprächsthemen vor.

Der Ostdeutsche, das unbekannte Wesen

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