Читать книгу Persönlichkeit und Menschenführung - Wolfgang Schmidbauer - Страница 10
Die Einschätzung des Charismatikers
ОглавлениеWenn ein Mann bisher Verlässlichkeit, kritisches Denken und Respekt vor ökonomischen Zwängen bewies, garantiert das keineswegs, dass er sich weiterhin so verhalten wird, wenn er niemanden mehr über sich hat. Gibt es Möglichkeiten, das vorauszusehen? Zunächst ist es wichtig, die ganze Lebensgeschichte des Betreffenden zu kennen. Hat er sich bereits früher in solchen Situationen merkwürdig verhalten? Weist seine Biografie unerklärte Brüche auf? War er in untergeordneter Position zufrieden und ausgeglichen, oder hat er erkennen lassen, dass er die tieferen Sprossen der Karriereleiter nicht als sinnvoll, sondern nur als lästiges Hindernis betrachtet? Hatte er zu seinen Vorgesetzten eine reife Beziehung, in der Anerkennung und Kritik gleichzeitig möglich waren, oder neigte er dazu, Gruppen zu spalten und »gute« Chefs zu idealisieren, ihnen zu schmeicheln, alle ihre Schwächen zu verleugnen, »böse« Vorgesetzte aber zu verleumden und kein gutes Haar an ihnen zu lassen?
Bei der Unterscheidung zwischen konstruktiven und destruktiven Idealisierungen sollte bewusst bleiben, dass auch hier Mischungen nicht nur möglich sind, sondern sogar überwiegen. Derselbe Mensch kann in einer Situation vernünftig handeln, Zwischentöne wahrnehmen, den Boten und die Botschaft unterscheiden, während er in einer anderen Situation – unter Schock, unter chronischem Stress – nur noch Zustimmung akzeptiert und jeden wie seinen Todfeind behandelt, der etwas sagt, das der eigenen Meinung nicht entspricht.
Das Wissen um narzisstische Störungen kann nicht immer helfen, mit ihnen sogleich angemessen umzugehen. Was die Entscheidung einzugreifen so erschwert, ist die Unsicherheit darüber, ob die Vernunft des Betroffenen nur zeitweise durch seine narzisstische Wut außer Kraft gesetzt ist und sich, wenn wir ihn gewähren lassen, wieder in ihr Recht setzt oder ob die narzisstischen Mechanismen die Oberhand gewonnen haben und die Vernunft allenfalls berechnend eingesetzt wird, um den destruktiven Idealisierungen den Weg zu bahnen.
Im ersten Fall ist es sinnvoll, abzuwarten und Verständnis für die Kränkung anzubieten; im zweiten hilft nur die Demonstration beziehungsweise auch der Einsatz einer Gegenmacht, um den Schaden wenigstens möglichst gering zu halten. Solche Entscheidungen sind gewiss nicht leicht. Es ist einfach, sich später klüger zu dünken, aber sehr schwierig, sich zu einem frühen Zeitpunkt der schmerzlichen Wahrheit über das Ende des Gewährenlassens und der Zugeständnisse in der Diplomatie zu stellen. Auch hier bieten die Erfahrungen mit dem NS-Regime eindrucksvolle Belege. Sie zeigen, wie lange allen Einwänden zum Trotz viele Politiker hofften, dass Hitler, wenn man ihn nur gewähren lasse, schon irgendwann Ruhe geben würde.
Für Journalisten oder Staatsanwälte, die sich mit abgedankten Tyrannen befassen, ist es billig zu fragen, weshalb nicht schon viel früher einer der gebildeten und kritischen Menschen in deren naher Umgebung den blinden Größenwahn erkannte und bekämpfte. Ein selbstkritischer Beobachter aber wird zugestehen, dass es sehr schwierig ist, des Kaisers neue Kleider nicht zu bewundern.
Es fällt dem narzisstisch reifen Menschen schwer zu erkennen, dass der in diesem Punkt Unreife dazu neigt, lieber sich selbst und alles, wozu er Zugriff hat, zu zerstören, als einzulenken und sich einer kränkenden Realität zu beugen. Diese Bereitschaft zur Destruktion wird gerne als Stärke ausgelegt. Selbst in Liebesbeziehungen, wo wir dem Irrationalen großen Spielraum lassen, erschrickt der sozusagen normale Mensch angesichts eines Paares, das lieber den beide treffenden Ruin in Kauf nimmt als die vernünftige Einigung, die als unzumutbare Kränkung erlebt wird.
Während wir die Hoffnung nie aufgeben sollten, dass die Verhandlungsbereitschaft und Vernunft eines Beteiligten den anderen zugänglicher macht, müssen wir immer auch mit der argen Variante rechnen, dass der ursprünglich konziliant und vernünftig auftretende Partner, wenn er seine guten Absichten entwertet und missbraucht findet, sich das destruktive Verhalten eines Gegners zu Eigen macht, den er vor kurzer Zeit noch unmenschlich fand.
Je ausgeprägter die narzisstische Störung eines Leiters, desto anfälliger ist er für Schmeichler. Der Schmeichler manipuliert den Umschmeichelten, indem er dessen Grandiosität als real anerkennt und dann von der so erzeugten Abhängigkeit zu profitieren sucht. Sobald aber deutlich wird, dass von dem Umschmeichelten keine Vorteile mehr zu erwarten sind, lässt ihn der Schmeichler fallen und gibt vor, er hätte ihn nie in den gefährlichen Weg hineingelobt, der jetzt als Irrweg erkannt ist.
Auch hier lassen sich negative Rückkoppelungen aufdecken: Je unsicherer eine Führungskraft über den eingeschlagenen Weg ist, desto mehr ist sie darauf angewiesen, Selbstkritik zu verdrängen und Schwächen nicht wahrzunehmen. Sie braucht daher den Schmeichler ähnlich wie ein Suchtmittel, das kurzfristig zur Euphorie führt, langfristig aber die Lösung der anstehenden Probleme erschwert. Wenn nicht rechtzeitig eine Krise riskiert, die Umkehr gewagt, der Schmerz über den Irrweg abgetrauert wird, kann diese Euphorie nur in eine Katastrophe führen.
Wer leitet, muss zugleich stolz auf sich sein und sich gegen Widerstände behaupten wie kritisch gegen sich sein und den Kampf gegen eine Übermacht rechtzeitig aufgeben. Die Kräfte von Selbstbehauptung und Nachgiebigkeit widersprechen sich so oft, dass es keine perfekte Lösung gibt. Wer als Leiter einen Perfektionsanspruch an sich stellt, sammelt zwangsläufig Eindrücke von sich, nicht gut genug zu sein, zu versagen; er fühlt sich dann entweder selbst schuldig oder braucht Schuldige, Sündenböcke. Die inneren Widersprüche können nur durch einen gesunden Narzissmus, das heißt ein sowohl stabiles wie für Kritik und Einschränkungen offenes Selbstbewusstsein verarbeitet werden.
Gesunder Narzissmus ist aufgabenorientiert und akzeptiert Durchschnittsleistungen als Basis für Spitzenleistung. Kranker Narzissmus ist erfolgsorientiert und lehnt durchschnittliche Leistungen ab. Typisch für eine solche Störung ist ein Leiter, der seine Vorgänger und Wettbewerber entwerten muss, um die eigene Leistung in ein unrealistisch strahlendes Licht zu rücken.
Ein Manager konnte nachts nicht schlafen und meinte, er müsse den Beruf aufgeben und sich in ein Sanatorium zurückziehen. Dieser depressive Zusammenbruch war in dem Moment aufgetreten, als er eine bisher höchst erfolgreiche Arbeit als Berater anderer Unternehmen aufgegeben und selbst ein Vorstandsamt übernommen hatte. In diesem Fall war es noch sehr positiv, dass er nur sich selbst nach Durchschnittstagen entwertete. Er richtete seine Aggression gegen sich und suchte schließlich Hilfe, die ihn recht schnell wieder arbeitsfähig machte.
Problematischer sind Manager, die ihre Aggressionen nach außen richten. Sie suchen dann nach ungesunden Formen der Aufwertung, die sie persönlich und ihre Umgebung noch weiter destabilisieren. Beispiele für narzisstisch gestörtes Verhalten eines Vorgesetzten:
1 Er bügelt Widerspruch nieder, auch wenn der Einwand berechtigt ist und die Produktivität steigern würde.
2 Er entwertet Konkurrenten und redet schlecht über sie, um das eigene Selbstgefühl aufzubessern.
3 Er rivalisiert mit Mitarbeitern, reißt ihnen Arbeit aus der Hand, um ihnen zu zeigen, dass er es besser kann.
4 Er macht sich und anderen unrealistische Versprechungen und verleugnet Schwierigkeiten.
5 Er liefert sich Schmeichlern aus, die ihn auch angesichts seiner Fehler narzisstisch bestätigen.
Da in einer komplexen Organisation Fehler unvermeidlich sind, ist es ein wesentliches Ziel einer neuen Führungskultur, fehlerfreundlich zu sein und immer an der Bewältigung kleiner Störungen die Aufmerksamkeit und die Kompetenz für die Vermeidung gravierender Probleme zu schulen. Die einseitige Orientierung an guten Gefühlen, an positiven Einstellungen, an einem Klima, in dem alle Mitarbeiter glücklich und zufrieden sein müssen, verhindert die Wahrnehmung kleiner Irritationen.