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Warum man Leiter wird
ОглавлениеUm den Gefahren der Pathologisierung entgegenzuarbeiten, sollten wir diese Frage eine Weile umgekehrt diskutieren. Warum werden so viele Menschen nicht zu Managern, sondern geben sich mit weniger zufrieden? An sich ist der Wunsch, nach oben zu kommen, eine ebenso allgemein menschliche Neigung wie der Egoismus. Auf der anderen Seite ist die menschliche Kultur darauf angewiesen, dass es Matrosen und Kapitäne gibt, und sie muss Mechanismen ausbilden, zwischen beiden Gruppen zu unterscheiden. Diese Mechanismen sind vielfältig, aber ihr Grundprinzip ist meist, dass uns allen Hemmungen unseres Egoismus und unseres Ehrgeizes anerzogen werden. Gerade behüteten Kindern sozial engagierter Eltern wird vermittelt, dass es nicht gut ist, die eigenen Größenfantasien an die Realität heranzutragen. Das bescheidene Kind wird gelobt, das unbescheidene getadelt. Wer andere nicht durch seine Geltungsbedürfnisse unter Druck setzt und stört, erhält mehr liebevolle Aufmerksamkeit als der lästige Schreier, der möchte, dass sich alles um ihn dreht.
An dieser Stelle ist es auch möglich zu erkennen, wie sehr sich soziale Faktoren in jenen Prozess der scheinbaren »Vererbung« von Führungseigenschaften einmischen, mit dem die traditionelle Gesellschaft erklärte, weshalb es sozusagen von Natur aus Mächtige von »edlem Blut« und Unterworfene gibt. Tatsächlich hat ein Kind, das als Sohn eines Mächtigen heranwächst, viel weniger Anlass, seine ursprüngliche Grandiosität zu mildern und zu mäßigen. So wird es, wie etwa von Alexander »dem Großen« schon in einer Kindheitsanekdote berichtet wird, unbescheiden bleiben und allenfalls fürchten, dass der Vater ihm nichts mehr zum Erobern übrig lässt.
Allerdings gibt es viele Fälle, in denen gerade die Kinder erfolgreicher Unternehmer »missraten«. Genauere Beobachtung enthüllt dann häufig eine mühsam kompensierte Störung bei den Eltern, die dazu führt, dass sie ihre Kinder übermäßig kontrollieren. Die Eltern verlangen, dass die Kinder ein ganz bestimmtes Bild erfüllen, das Unsicherheiten der Eltern ausgleicht. In einer solchen Erziehung gibt es keine kleinen Probleme mehr wie Schulschwänzen, Ungehorsam, eine Lüge, sondern nur Katastrophen, bei denen die Eltern mit ihren Kindern schlechter umgehen als mit jedem Hilfsarbeiter in ihrem Betrieb. Bei diesem würden sie vermutlich, wenn er einen Fehler macht, in ihrer Reaktion abschätzen, wie viel er ihnen trotz dieses Fehlers nutzt, ehe sie ihn vollständig entwerten. Angesichts nahe stehender Menschen können narzisstisch gestörte Personen diese einfache Güterabwägung nicht mehr vollziehen: Wer nicht dem idealisierten Bild entspricht, ist für sie erledigt.
Seit den Entwicklungen der Neuzeit, angestoßen von der Renaissance und vollendet in den bürgerlichen Revolutionen, bestimmen die Individuen nicht mehr durch Geburt, sondern durch Geschick und Leistung ihren Platz in der Gesellschaft. So ist die allseitige Rivalität als Prinzip möglich geworden. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Gegen diesen rufen die Staatstheoretiker der Neuzeit den ›Leviathan‹2 auf den Plan, der diese Neigungen des Einzelnen zur Expansion eingrenzen muss. So wird Führung zu einer doppelten Aufgabe: Wer sie beansprucht, muss einerseits sich selbst verwirklichen, andererseits seinen Platz im sozialen Organismus behaupten. Ohne die erste Qualität bleibt er ein Rädchen im Getriebe; ohne die zweite wird er bestenfalls ein Räuberhauptmann.
Schrankenloser Ehrgeiz, Selbstüberschätzung und die Neigung, alle Mitmenschen, welche dem eigenen Ego nicht huldigen, für entweder töricht oder neidisch zu halten, sind keine späten Entgleisungen eines ursprünglich guten und bescheidenen Menschenkindes. Am Beginn des Lebens steht nicht der bescheidene Bürger, sondern der Großtyrann. Das Kind ist einerseits der kleine Wilde, der am liebsten alles beherrschen und jeden, der ihn einschränkt, sogleich vernichten würde. Andererseits muss es, um die Liebe der nährenden Mitmenschen zu behalten, sich diesen anpassen und sich mit ihnen identifizieren. Bescheidenheit, Rücksichtnahme, Verständnis für andere Positionen als die eigene beruhen auf komplizierten Anpassungs- und Einsichtsprozessen. Als tiefere Schicht bleibt unter ihnen die archaische Grandiosität erhalten. Sie kann, wenn sie unbewusst bleibt und nicht in einer bewussten Auseinandersetzung verarbeitet wird, jederzeit das vernünftige Ich übertölpeln.
Wenn ein Mensch sich mehr Macht und Einfluss wünscht, als das andere tun, dann kann dieses Motiv verschiedene Wurzeln haben. Um die Entgleisungen und die Torheiten der Mächtigen besser zu verstehen, ist es sinnvoll, diese Wurzeln einzeln zu betrachten.
Eine erste ist, wie wir aus dem Vorangehenden ableiten können, die ursprüngliche narzisstische Grandiosität, die unter manchen Familienumständen besser erhalten bleibt als unter anderen. Ein Kind, das Verständnis für seine Machtfantasien erlebt, das nicht durch tiefe Kränkung, sondern behutsam auf die realen Schranken gegen ihre Verwirklichung hingewiesen wird, kann sein Selbstbewusstsein besser aufrechterhalten als ein zur Bescheidenheit beschämtes oder geprügeltes. Ein von grundsätzlich liebevollen, jedoch ängstlichen Eltern zur Bescheidenheit gedrilltes Kind wird Mühe haben, sich später von den Fesseln zu befreien, die seiner Expansion und seinem Selbstbewusstsein angelegt wurden.
Am problematischsten erscheint eine Entwicklung, die sich sehr häufig bei der Analyse seelisch gestörter Führungskräfte ergibt. Hier ist die Grandiosität der kindlichen Allmachtsfantasie nicht durch Einfühlung der Eltern gemildert und schonend in ein realistisches Selbstbewusstsein übergeführt worden, sondern sie musste defensiv ausgebaut und übersteigert werden, um ein durch elterliche Ablehnung, übermäßige Kritik oder auch gesteigerte Bedürftigkeit der Eltern beschädigtes Selbstbewusstsein zu stabilisieren. Statt mit realen Erwachsenen identifiziert sich das Kind in diesem Fall mit einem Idealbild, dem all die Schmerzen und Kränkungen erspart geblieben sind, die es in einem unerträglichen Übermaß erlebte und vor deren Wahrnehmung es sich durch Verdrängungen geschützt hat.
Während das Selbstbewusstsein selbst geschwächt und labil bleibt, wird das Geltungsbedürfnis kompensatorisch übersteigert. Der Wunsch, in jeder Situation Erfolgserlebnisse und narzisstische Bestätigung zu ernten, weckt den Eindruck von Unersättlichkeit, während die realen Erfolge des gestrigen Tages heute schon wieder jeden stabilisierenden Effekt für das Selbstbewusstsein verloren haben. Die defensive Grandiosität gleicht einem aufgeblasenen Ballon: Die kleinste Verletzung der geblähten Haut führt zum Zerplatzen, zu einem völligen Kollaps, nach dem fieberhafte Anstrengungen unternommen werden müssen, den Schaden zu reparieren. Bezeichnenderweise wird die Reparatur nach dem Prinzip »mehr vom Selben« vorgenommen, das heißt in diesem Bild durch ein noch heftigeres Aufblähen eines noch dünnhäutigeren Ballons.
Nun ist die Entwicklung des Menschen nicht abgeschlossen, wenn er die gröbsten Probleme der Frühphase bewältigt hat und bereit ist, Vater und Mutter als getrennt von ihm, als begrenzt, als gleichzeitig gut und böse, gewährend und versagend zu erleben. Manche Entwicklungsmodelle beschreiben das zwar so, aber sie gehorchen dem Wunsch, komplexe Situationen auf einfache Faktoren zu reduzieren, um sie überschaubarer zu machen.
In Wahrheit wird die Entwicklung einer Person ebenso in der Pubertät und Adoleszenz geprägt wie in der frühen Kindheit. Hier werden Haltungen erworben, in denen sich aus den früheren Erfahrungen und der Rezeption äußerer Einflüsse – etwa aus Büchern, Filmen, aus dem Umgang mit Schulkameraden, aus Begegnungen mit Freunden – etwas ganz Neues formt. Der Jugendliche kann sich beispielsweise entscheiden, »ganz anders« zu werden als sein Vater. Er kann sich dabei einen Lehrer oder den Vater eines Klassenkameraden zum Vorbild nehmen.
Hier machen sich die ersten Rückkopplungsvorgänge bemerkbar, welche Störungen des Selbstgefühls verstärken können. Wer sein Bedürfnis, ganz anders (viel besser) als die realen Eltern zu werden, übersteigert, der wird auch unter den realen Menschen seiner adoleszenten Welt niemanden finden, der ihn begeistert. Das heißt, er muss sich mehr und mehr an imaginäre Vorbilder binden, die ihrerseits seine Realitätsorientierung und mit ihr seine Chancen schwächen, in einer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sein Selbstgefühl zu stabilisieren. Der so gestörte Jugendliche schwankt dann zwischen dem grandiosen Empfinden, besser zu sein als alle Menschen, die er kennt, und der depressiven Verzweiflung, dass alle anderen Lob und Freundschaft finden, während er selbst viel weniger Anerkennung erntet als die Dummköpfe und Langweiler um ihn.
Wir können aus diesen Gesichtspunkten eine grobe Einteilung der Ehrgeizthematik treffen: Sie kann entweder durch eine schonende, von Einfühlung und realistischer Selbsteinschätzung bestimmte Umwelt erzeugt worden sein oder aber einen deutlichen Mangel an solchen Erfahrungen kompensieren. Im ersten Fall hat der spätere Manager sowohl Freude an seinen gegenwärtigen Leistungen und der aus ihnen resultierenden Anerkennung wie auch den Wunsch, weiterzukommen, mehr Erfolg, mehr Anerkennung zu haben. Das heißt, er traut sich den Spitzenplatz zu, kämpft um ihn, aber er kämpft nicht mit dem Rücken zur Wand, sondern kann eine Niederlage abtrauern: Er hat Pech gehabt, schade, aber er hat sein Bestes getan und muss sich nicht schuldig fühlen, und er kann auch wahrnehmen, dass er immer noch – verglichen mit Altersgenossen oder gar mit Menschen aus anderen Kulturen – privilegiert ist.
Wer hingegen seine Grandiosität trotzig gegen beschämende Entwertungen und die quälenden Gefühle verteidigen musste, nicht genügend geliebt und anerkannt zu sein, der muss sich immer verbessern und darf sich nie wirklich in der Gegenwart erholen, allenfalls in der Zukunft, wenn ihm die nächste Stufe auf der Karriereleiter endlich das ersehnte Selbstvertrauen, die erhoffte Ruhe bringen. Stillstand ist für ihn Rückschritt, die Brücken hinter ihm sind verbrannt, er kann nur vorwärts gehen oder abstürzen.