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Ferien auf dem Bauernhof

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„Zur rechten Zeit am rechten Ort, das schützt vor Hunger, Kälte, Mord“

Alte Spruchweisheit

Es war ein florierender Hof mit Kühen, Ochsen, Schweinen, Hühnern, Gänsen und sogar einer bescheidenen Nutriazucht in einem kleinen See hinter dem Wohnhaus. Technische Gerätschaften beschränkten sich ausschließlich neben Pflug und Egge auf einen Traktor, der sich aber gut in Schuss präsentierte – in damaliger Zeit eher ungewöhnlich. Dennoch verließ man sich bei der Fahrt auf die nicht weit voneinander entfernten Felder lieber auf die biologische Zugmaschine in Gestalt des Ochsens Herrmann. Ein Prachtexemplar von einem Tier, der alle anderen Vierbeiner im Stall an Größe deutlich überragte und gleichermaßen bedächtig, gutmütig sowie zuverlässig alle ihm gestellten Aufgaben erledigte. Herrmann hatte im Laufe seines Ochsendaseins gelernt mitzudenken. Er war in der Lage, ohne besondere Dienstanweisung aus seinem Erfahrungsschatz abzurufen, was von ihm erwartet wurde. Klapperten zum Beispiel die Milchkannen beim Aufladen hinter ihm auf dem Wagen, setzte er sich automatisch nach einem kurzen „Hüscht!“ in Richtung Murrhardt in Bewegung. Es bedurfte dann keiner weiteren Anweisungen. Er trottete quasi im Alleingang zielsicher rechts oder links abbiegend bis vor die ca. drei Kilometer entfernte Milchsammelstelle, wo er an der Rampe stehen blieb, um geduldig das Abladen der Kannen abzuwarten. Nach erneutem „Hüscht!“ trat er ebenso gewissenhaft wieder gemächlich den Heimweg an. Das war eine Beschäftigung so recht nach meinem Herzen: Hinten auf dem Wagen sitzen, still vor sich hin träumend mit dem Gefühl, zu etwas nutze zu sein. In diesen Zeiten aufregender Veränderungen ein Hort der Ruhe und Entspannung – die unverhoffte Win-Win-Situation schlechthin.

Insgesamt war aber für Erwachsene die Arbeit hart und anstrengend. Die Bäuerin heizte spätestens morgens um fünf Uhr den Herd in der Küche an, setzte einen Topf mit Kartoffeln auf und begab sich zum Melken der Kühe in den Stall. Wenn sie mit einem Eimer frischer, noch warmer Milch zurückkam, waren die Kartoffeln gekocht, alle anderen hatten mittlerweile um den Küchentisch Platz genommen. Eine Prise Salz auf dem Teller verhalf der ungeschälten Kartoffel in der Hand zu zusätzlichem Geschmack. Dazu trank man die noch warme Milch aus großen Bechern. Es ging meist sehr schweigsam zu, in dieser Morgenstunde. Ich empfand das tägliche Ritual als ausgesprochen wohltuend. Vergleichbar mit einer Art Morgenandacht, als Einstimmung auf die vor mir liegende Arbeit. Eine schweigende Gemeinschaft, in der sich alle noch einmal darauf besannen, was der Bauer am Abend zuvor beim Nachtmahl für den kommenden Tag an Arbeit vorgegeben hatte.

Nach dem Melken und Füttern der Kühe ging es mit dem Wagen hinaus zur Feldarbeit. Im Morgentau lässt sich das Gras besser mähen als in den Mittagsstunden. Ich lernte schnell den Umgang mit der Sense, war aber doch vorwiegend dafür verantwortlich, dass der vergorene Most in den mitgeführten Zinnkannen immer schön im kühlen Schatten lag. Das Vesper in Form von Speck, selbst gemachter Butter, Käse und im Holzofen gebackenem Brot, stand stets zur allgemeinen Verfügung. Man könnte auch sagen: Ich war für die Futterage zuständig. Essen wie Trinken und Wolfgang, eine lebenslänglich verlässliche Liaison. Garant für eine sichere Bank, die Leib und Seele zusammenhält. Die orale Phase, kein auf kindliches Daumenlutschen begrenztes Event. Bedenkt man, dass die Schule auf unbestimmte Zeit ihre Tore geschlossen hatte, wird nachvollziehbar, warum ich mich im Gras auf dem Rücken liegend und den blauen Himmel betrachtend, wie im Paradies fühlte. Genieße froh die Tage, des Lebens holde Gunst – auch wohldosierte Faulheit ist ein Stück Lebenskunst. Was für eine Insel der Seligen inmitten eines Ozeans von Zerstörung, Mangel, Leid und Verzweiflung! Getreu dem Motto, die Dosis macht das Gift, griff ich auch dann und wann zum Rechen, um das Gras zu wenden, oder mich sonst nützlich zu machen. Am späten Vormittag verließ die Bäuerin das Feld, um das Mittagessen vorzubereiten: Häufig mit Gurken angereicherter Kartoffelsalat, kaltem Braten, selbst gemachter Wurst oder Fleisch in Dosen aus eigener Schlachtung; manchmal aber auch nur eine Rinderbrühe mit abgeschmälzten Zwiebeln, Kartoffeln oder altbackenem Brot. Obligatorisch aber der sonntägliche Hühnerbraten mit Spätzle, der für Schwaben unvermeidlichen Soße und grünem Salat. Letzterer ebenso wie Bohnen, Tomaten, Kohl, Kartoffeln und Küchenkräuter aus eigenem Anbau. Es war das reinste Schlaraffenland ohne Lebensmittelkarten. Obendrein lieferten die zahlreichen Streuobstwiesen nicht nur Obst für den täglichen Gebrauch und zum Einmachen. Viel wurde zu Obstschnaps gebrannt, der dem Bauern zu einem schwunghaften Tauschhandel mit den französischen Besatzern verhalf. Im Gegenzug gab es Bohnenkaffee, Schokolade, Orangen, Bananen. Dinge, die ich bisher vorwiegend aus Bilderbüchern kannte.

Immer wieder klopften ausgehungerte Gestalten an die Tür; sie hofften – leider oft vergeblich – auch einen Zipfel von diesem Paradies zu erhaschen. Bevorzugtes Tauschangebot waren Teppiche, von denen der Bauer schon in kurzer Zeit so viel entgegengenommen hatte, dass er mit ihnen auch noch den Kuhstall hätte auslegen können. Erstaunlich früh dämmerte dem Achtjährigen: Zur rechten Zeit am rechten Ort, das schützt vor Hunger, Kälte, Mord.

Trotz des längeren Weges bestand die Mutter auf regelmäßig sonntäglichem Kirchgang. Anschließend trieb ich mich gerne noch ein bisschen in Murrhardt herum, während der Rest der Familie den Geschwistern Horn einen kurzen Besuch abstattete. Der Rückweg nach Waltersberg wurde deshalb oft getrennt angetreten. Dabei benutzte man einen abkürzenden Fußweg durch den Wald. So auch ich an einem sonnigen Spätvormittag, als rechts von mir, hinter dichtem Gebüsch, unvermittelt lautes Stöhnen drang, das in seufzendes Röcheln überging. Vor Schreck gelähmt blieb ich wie angewurzelt stehen. In meiner Phantasie sah ich einen von mörderischer Hand dahingestreckten, bedauernswerten Menschen in seinem Blute schwimmen. Alles gleichermaßen überraschend wie Furcht einflößend. Der erste Reflex stellte das Signal auf sofortige Flucht – doch es überwog die kindliche Neugier. Auf Zehenspitzen näherte ich mich dem Gebüsch und schob so geräuschlos wie möglich die Zweige auseinander. Da stand in all seiner Pracht, nackt wie Gott ihn schuf, ein Mann mittleren Alters inmitten eines riesigen Ameisenhaufens. Er machte Anstalten, auch noch sein Gesäß nebst Zubehör ungeschützt in den Bau der in ihrer Ruhe aufgescheuchten Tierchen zu versenken. Ich hatte genug gesehen. Es konnte sich nur um einen Geisteskranken handeln, der allerdings einem anderen Bauern aus Waltersberg sehr ähnlich sah. So schnell meine Füße trugen, hastete ich nach Hause und berichtete von meinem Abenteuer im Walde. „Des ka bloß der Anton von gegaüber gwä sei. Der jommert doch älleweil wega seim Rheuma,“ wurde ich beschieden. So wandelte sich der Geisteskranke in einen vom Schmerz geplagten Naturheilkundigen, der sich seine Ameisensäure direkt vom Erzeuger abholte. Die Schwierigkeiten beim Erwerb von Linderung versprechenden Substanzen standen damals denen der Lebensmittelbeschaffung in nichts nach….

Der enge Kontakt mit der Natur und ihren Produkten, bot noch viel Abenteuer mit bisher Unbekanntem. Beim Schlachttag im Herbst tat mir das dafür auserkorene Schwein leid und bei seiner Tötung wollte ich keinesfalls zusehen. Die anschließende Verarbeitung verschaffte neue Eindrücke in die Anatomie. Staunend lernte ich, dass es beinahe nichts gab, was an diesem nützlichen Tier nicht zu verwerten war. Bauchspeck und Würste nahmen sich auf dem frisch gekochten Sauerkraut ganz allerliebst aus und schmeichelten dem Gaumen ungemein. In unbewachtem Augenblick gelang mir ein kräftiger Schluck aus der mit Obstler gefüllten Flasche. Ein erster Einblick in die verdauungsfördernde Eigenschaft dieses Wässerchens, das zusätzlich rote Bäckchen und allgemeine Fröhlichkeit schenkend, mir wie eine Allzweckwaffe vom lieben Gott erschien. Tage zuvor war bei der Kartoffelernte die geschmackliche Qualität der ersten, in der Glut auf freiem Feld gegarten Kartoffeln getestet worden. Eine völlig neue Welt! In ihrer Unbekümmertheit noch einmal vergleichbar mit einem Blick zurück, auf die für mich gleichermaßen glückliche Freystädter Kindheit.

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