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1936 Des einen Tod – des anderen Leben

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„Lasst vergehen, was vergeht! / Es vergeht, um wiederzukehren, / es altert, um sich zu verjüngen, / es trennt sich, um sich inniger zu vereinigen, / es stirbt, um lebendiger zu werden“

(Friedrich Hölderlin)

Auf dem Grab ein Marmorkreuz: Klaus Seraphim, 1931 – 1935. Die Zunge wandert unkontrolliert über die Oberlippe, während die Kindergießkanne letzte Tropfen über verwelktes Grün verblühter Schneeglöckchen verteilt. Überzeugt von der Wichtigkeit der soeben beendeten Arbeit atmet der kleine Junge tief durch, gewinnt wieder Aufmerksamkeit für sein Umfeld. „Wölfchen, nun komm endlich!“ In der Stimme der Mutter mischt sich aufsteigender Ärger mit Ungeduld. Der ungewohnte Ton lässt den dreijährigen Sohn aufhorchen. Mit kräftigem Ruck wendet er sich der Mutter zu. Die kleinen Beinchen wirbeln über den Friedhofsweg, kommen ins Stolpern. Im Fallen bohrt sich die Tülle der Gießkanne in die Stirn und ritzt ein kleines, spiegelverkehrtes L in seine Haut. Er rappelt sich auf, überwindet die letzten Meter und verbirgt den Kopf im Schoß der Mutter, die zutiefst erschrocken den Arm um ihn legt, als könne sie noch nachträglich Schutz gewähren. Nicht auszudenken, wenn die Spitze um wenige Zentimeter den Kopf in Richtung eines Auges getroffen hätte. Doch derlei Überlegungen berühren ihn nicht. Er fühlt die ganze Wärme der Mutterliebe, eingebettet in ein Urvertrauen, in dem er sich geborgen weiß. Er kennt dieses Gefühl seit jenem 10. September 1936, als ihn sein Vater, Landarzt in Schlesien, in der kleinen Kreisstadt Freystadt, nach von ihm selbst durchgeführter Hausentbindung, seiner Frau Lydia in die Arme legte.

Es war die vierte Entbindung der Mutter. Zuvor kam ihr Sohn Ernst-Johann, kurz darauf die Tochter Margarete zur Welt – beides Hausentbindungen des Vaters. Der Dritte, Kläuschen, wurde – warum auch immer – im November 1931 im 14 km entfernten Krankenhaus in Neusalz entbunden. Er starb am 18.2.35 im Krankenhaus in Grünberg an den Folgen einer tuberkulösen Hirnhautentzündung. Für die Eltern war klar: Sie wollten unbedingt wieder ein drittes Kind. Diesem Wunsch – ausgelöst durch den Tod des kleinen Bruders – verdankt Wolfgang sein Leben.

Schon der Eintritt in das irdische Dasein dokumentiert einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Eltern, der ihn in seiner Kindheit nur selten verlassen sollte: Artig begrüßt er pünktlich um 7:45 Uhr – 15 Minuten ehe einen Stock tiefer die Sprechstunde des Vaters beginnt – mit kräftigem Schrei das Licht der Welt in den fürsorglichen Armen des Vaters. Zuvor hatte dieser gegen 7:30 Uhr mit sorgenvollem Blick registriert, dass der Sprössling noch keine Eile erkennen ließ, den Sprung aus der Wärme mütterlicher Geborgenheit in die kalte Umwelt zu wagen.

Fast alle Märchen beginnen mit einem traumatischen Ereignis. Der märchenhafte Vorgang einer Geburt macht da keine Ausnahme. Neues Leben beginnt mit dem Verlassen der Komfortzone. Mit der Durchtrennung der Nabelschnur beginnt erstmals, was zukünftig permanent auf uns alle zukommt: das Abschiednehmen. Ein Sich-trennen-Können, auch von Dingen, die uns vertraut und lieb geworden sind. Wenn wir genügend Zeit hatten, klug zu werden, fällt uns der letzte Akkord des Lebens, das Sterben, nicht mehr schwer. Seneca: „Das ganze Leben lang muss man lernen zu leben, das ganze Leben lang muss man lernen zu sterben.“

Dem Vater bleibt noch genügend Zeit für eine eingehende Begutachtung des kleinen Bündels quicklebendigen Lebens vor Beginn seiner Praxis. Bei dem neuen Erdenbürger sitzt alles an der richtigen Stelle und erfüllt somit seine göttliche Ordnung. Mit diesem erfreulichen Befund landet der Junge vom stolzen Vater in den Armen einer glücklichen Mutter.

Dieses Kind Wolfgang, das war ich.

Attempto

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