Читать книгу Blutholz - Wolfgang Teltscher - Страница 13
8.
ОглавлениеMarder erinnerte Frau Thann daran, dass er am Nachmittag einen Kaffee brauche, um bis zum Abend durchzuhalten. Nur für Marder erkennbar, rümpfte Iris die Nase, sie war der Ansicht, Kaffee putsche unnötig auf, Kräutertee sei gesünder. Sie ließ sich nicht auf seine Beteuerungen ein, neue wissenschaftliche Untersuchungen hätten bewiesen, dass Kaffee keineswegs so schädlich sei, wie oft behauptet wurde. Erstens würde er dem Körper nicht Wasser entziehen, wie früher immer behauptet wurde, und zweitens wirke er sogar als vorbeugende Medizin gegen eine Reihe von Leiden. Um welche es dabei ging, hatte Marder vergessen. Er lese ohnehin nur |28|medizinische Berichte, die seine Ansichten bestätigten, meinte seine Gattin.
Während Frau Thann die Getränke in der Küche aufbrühte, griff Marder nach der lokalen Zeitung auf dem Tisch. Es war ein spontaner Akt, wie immer, wenn sich eine Zeitung in seiner Reichweite befand. Zeitunglesen war eine Leidenschaft, die er nie ablegen würde, egal wie alt er werden sollte. Seine Frau teilte sie bis zu einem gewissen Grad. Beim Lesen der Morgenzeitung lasen sie die Sektionen gern in unterschiedlicher Reihenfolge, das ließ den Tag in Harmonie beginnen. Er informierte sich zuerst über Politik und Wirtschaft, Iris studierte als Erstes die Seiten mit Kultur und Lokalem. Dann tauschten sie. Den Sportteil las ausschließlich Marder, den vernachlässigte Iris, so wie Marder es mit den Horoskopen tat. Die Klischees über die unterschiedlichen Interessen von Frau und Mann trafen auf das Ehepaar Marder beim Zeitunglesen zum Frühstück hundertprozentig zu.
»Tanken und Heizen wird bald noch teurer«, sagte Marder. »Die OPEC-Länder haben beschlossen, die Fördermengen von Rohöl zu senken und zum Ausgleich die Preise zu erhöhen. Das finde ich völlig logisch.«
»Dann sollten wir öfter mit dem Fahrrad fahren und nicht für jede kleine Besorgung im Ort das Auto nehmen«, antwortete Iris. »Und das Thermostat im Haus um ein paar Grad heruntersetzen.«
»Das mit dem Fahrrad sagen wir schon seit Jahren, tun es aber nur selten, eigentlich nie, und das mit den Temperaturen halte ich für eine schreckliche Idee. Ich will nicht im Alter in einer frostigen Wohnung sitzen.«
|29|Marder schüttelte sich, der Gedanke an ein kaltes Wohnzimmer jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Vielleicht sollten wir uns an der Börse an den Spekulationen ums Erdöl beteiligen – mit unserer Rente könnten wir da jederzeit einsteigen. Wir würden dann jedes Mal ein bisschen Geld verdienen, wenn wir Auto fahren oder die Heizung anmachen. Und je höher wir die Temperatur stellen, umso mehr sahnen wir ab.«
»Schatz, lass das lieber, damit bringst du nur den Weltmarkt durcheinander.«
Die Erörterung der Neuigkeiten aus der großen Welt war damit abgeschlossen. Das Aroma frischen Kaffees wehte aus der Küche und Marders gute Laune bekam einen Schub.
»Guck mal«, meinte Iris, als sie die Überschriften auf der ersten Seite des Regionalteils las. »Das Böse in Barsinghausen schläft nicht. Hier steht, dass ein Mann vorgestern ein blutiges Messer im Wald gefunden hat. Es lag bei einem Parkplatz auf der Erde.«
Marder war sofort bei der Sache. Das hörte sich nach einem Verbrechen an. Kriminalität und deren Aufklärung waren früher der Sinn seines Lebens gewesen. Seit seinem Ruhestand war er nicht länger als Jäger des Bösen unterwegs, den wesentlichen Verbrechen und den damit verbundenen Ermittlungen folgte er in den Medien jedoch mit dem Interesse eines Experten. Gelegentlich behauptete er seiner Frau gegenüber, dass er einen Fall schneller gelöst hätte als die aktive Generation der Kriminalbeamten. Iris lächelte dann nachsichtig und meinte, er könne nur nicht akzeptieren, dass er zum älteren Eisen gehöre, das bei der Bekämpfung der modernen Kriminalität nicht mehr zu gebrauchen sei.
|30|»Gib doch bitte mal her«, sagte er und nahm seiner Frau die Zeitung aus der Hand, bevor sie die Chance hatte, sie ihm freiwillig zu geben.
Die Polizei in Barsinghausen hatte gestern die Presse informiert, dass am Nachmittag zuvor, um circa 16 Uhr, ein Jogger ein blutiges Messer im Wald am Rande eines Parkplatzes bei der Freilichtbühne entdeckt hatte. Der Mann rührte das Messer klugerweise nicht an, sondern hatte die Polizei über sein Handy zu dem Parkplatz gerufen. Er erklärte den Beamten, er habe das Messer gesehen, als er sein Auto ganz am hintersten Ende des Platzes abgestellt hatte und ausgestiegen war. Dabei habe er sofort bemerkt, dass es mit Blut beschmiert war. Der Bericht fuhr fort, dass auch an dem Baumstamm, neben dem das Messer gelegen habe, Spuren von Blut gefunden worden seien. Eine erste vorläufige Untersuchung habe ergeben, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um menschliches Blut handele, was man nach dem Abschluss der Tests noch einmal endgültig bestätigen würde. Oder notfalls dementieren, das sei jedoch eher unwahrscheinlich. Die Polizei habe nach den ersten Überprüfungen in der Nähe des Fundortes keine weiteren Spuren finden können, und man hoffe, dass sich die Frage, woher das Messer stamme und wie es in den Wald gelangt war, schnell und undramatisch aufklären würde. Ein Verbrechen lasse sich jedoch nicht ausschließen, und deswegen wende sich die Polizei zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen an die Öffentlichkeit. Wenn jemand eine sachdienliche Mitteilung in dieser Angelegenheit machen könne, solle er sich umgehend bei der Polizei melden.
Frau Thann erschien mit einem Tablett, auf dem sie eine |31|Kaffeekanne und eine Teekanne balancierte. Beide Gefäße sowie die dazugehörenden Tassen sahen wie wertvolle Museumsstücke aus. Als Iris darauf hinwies, erklärte Frau Thann, sie hätte das Geschirr auf dem Flohmarkt an der Leine in Hannover gekauft, wohin sie, wenn sie keine Gäste habe, am Sonnabendmorgen manchmal gehe, um überflüssige, aber schöne Dinge zu suchen und meistens auch zu finden.
Marders Gedanken blieben bei dem blutigen Messer hängen. Durch die Erwähnung eines möglichen Verbrechens kehrten seine Erinnerungen zu den Ereignissen um die Familie Matuschek zurück. Der tote Körper seines ehemaligen Kollegen Alfred Matuschek in einem Teich am Rande der Innenstadt hatte ihn vor vier Jahren zum ersten Mal nach Barsinghausen gebracht, das Verschwinden von dessen Ehefrau zwei Jahre später noch einmal. Das Schicksal der Kinder hatte ihn damals bewegt, obwohl sie schon erwachsen waren und seine Hilfe oder seinen Zuspruch offensichtlich nicht wollten. Darüber hatte er sich zuerst gewundert, später verstanden.
Frau Thann begann, über ihre Sehnsucht nach ihren Kindern und Enkeln zu sprechen. Sie plane, das Haus im nächsten Frühjahr zu verkaufen, um nach Süddeutschland zu ziehen, wo ihre Familie inzwischen zum größten Teil lebe. Außerdem liebe sie die Alpen, wo sie früher oft mit ihrem Mann gewandert sei. Marder unterbrach sie, trotz eines tadelnden Blicks seiner Frau. Seine Gedanken kreisten noch um die Familie Matuschek. Er fragte Frau Thann, was sie über das jetzige Leben von Bertram und Anja, den Kindern der Matuscheks, wisse. Die gleiche Frage hatte er Frau Thann schon einmal vor zwei Jahren gestellt. Damals war er von |32|Erich Falkenberg beauftragt worden, herauszufinden, warum Vera Matuschek plötzlich aus Barsinghausen verschwunden war. Frau Thann ließ eine weitere Mitteilung über ihre eigene Familie unausgesprochen. Sie schaute ihren Gast irritiert an, verzieh ihm jedoch die Unhöflichkeit, da sie sich daran erinnerte, dass Marder in die Geschehen um die Matuscheks und deren Aufklärung dienstlich verwickelt war.
»Eigentlich weiß ich kaum etwas über die Matuscheks. Beide Kinder leben wohl noch in Barsinghausen. Bei Bertram bin ich mir ganz sicher, den habe ich erst in der letzten Woche bei einem Spaziergang getroffen. Er wohnt ja am Ende dieser Straße, ganz oben beim Wald. Wir haben uns aber nicht unterhalten, weil wir uns nicht persönlich kennen. Mir fiel trotzdem auf, dass seine Haare sehr schütter geworden sind und er ein unglückliches Gesicht machte. Aber das ist wohl der Normalzustand bei ihm, wenn ich mich korrekt daran erinnere, was Sie mir einmal erzählt haben.«
Sydney hatte sich an seine Herrin herangeschmust, war auf ihren Schoß gesprungen und hatte sich schnurrend eingerichtet. Frau Thann streichelte ihn geistesabwesend.
»Und was ist mit Anja?«, fasste Marder nach.
»Keine Ahnung. Soweit ich mich entsinne, war sie Krankenschwester in Gehrden, das wird sie wohl noch sein, aber garantieren kann ich das nicht. Sie wohnt wahrscheinlich nach wie vor in Barsinghausen. Vor ungefähr einem halben Jahr habe ich ihr Bild in der Zeitung gesehen. Da war ein Open House bei der Polizei und die Presse hat davon Fotos gemacht. Auf einem dieser Bilder war Anja. War sie nicht mit einem der Beamten von der Kripo befreundet?«
»Ja, ja, das war Kommissar Brenner. Ich glaube, sein Vorname |33|ist Burt, aber ich kann mich auch täuschen. Jedenfalls war er früher Assistent von Matuschek und wurde später sein Nachfolger. Aber das sind alte Geschichten. Wo, sagten Sie, möchten Sie gern hinziehen, wenn Sie die Pension geschlossen haben?«
Frau Thann nutzte die Gelegenheit, ausführlich über ihre Pläne für die Zeit nach der Schließung von Marianne zu berichten. Nachdem sie mehr darüber erzählt hatte, als Marder sich merken konnte, sagte sie, dass sie nun zum Einkaufen in die Stadt müsse, selbstverständlich seien die Marders heute ihre Gäste beim Abendessen.
»Inzwischen können Sie ein bisschen im Ort oder im Wald spazieren gehen. Schauen Sie sich einmal die Verwüstungen an, die der große Orkan angerichtet hat. Den werde ich nie vergessen, ich habe an dem Abend und in der Nacht voller Angst im Wohnzimmer gesessen, während draußen ein Höllenlärm tobte. Wie durch ein Wunder war am Haus und im Garten alles heil geblieben, aber nur wenige Meter dahinter im Wald hat der Orkan alles flachgelegt. Sie brauchen nicht weit zu gehen, die größten Schäden gab es direkt am Ortsrand.«
Marder überlegte.
»Ach ja, das war doch dieser riesige Sturm mit dem russischen Namen, irgendwas mit B… Bertil, oder so.«
»Nicht mit B, sondern mit K. K wie Kyrill«, korrigierte Frau Thann nachsichtig.
»Wenn sich dieser Sturm vor 20 Jahren ereignet hätte, wüsstest du heute noch genau, wie er geheißen hat«, meinte Iris, als sie die Pension verließen. »Komm, wir machen mal Katastrophentourismus.«
|34|Viele Wege führen in Barsinghausen in den Wald, jedenfalls alle, die aufwärts gehen. Marder und seine Frau kamen wieder am Ziegenteich vorbei. Jedes Mal, wenn er hier vorbeischaute, hatte Marder das Gefühl, dass er seinem toten Kollegen Referenz erwies. Sie setzten sich auf eine Bank und blickten schweigend auf das dunkle Wasser. In der Mitte des kleinen Sees war eine winzige Insel mit einem Holzverschlag, in dem Enten und ein einsamer Schwan ihr Zuhause hatten. Ein Hund, halb Schäferhund, halb Collie, stand mit seinen Vorderpfoten im Wasser und bellte die Enten an, die sich dadurch nicht bei ihrer Suche nach Grünzeug stören ließen. Die Sträucher an den Ufern spiegelten sich auf der Wasserfläche, sie zeigten die ersten Knospen des Frühlings, trugen aber noch keine Blätter. Der kleine See lag offen, vom Rathaus auf der anderen Seite der Straße hatten der Bürgermeister und seine Mitarbeiter einen freien Blick auf die Idylle.
»Weißt du«, sagte Marder nach einer Weile zu seiner Frau »wenn ich hier bin, muss ich immer wieder über den tragischen Tod von Alfred Matuschek nachgrübeln. Ich frage mich, ob seine Kinder gelegentlich an diesen Teich kommen, um an ihn zu denken. Ich bin mir fast sicher, dass sie das nicht tun.«
»Das vermute ich auch«, sagte Iris leise. Auch sie wurde offensichtlich von diesem Ort bewegt. Sie fuhr fort:
»Trotzdem bin ich überzeugt, dass sein Tod die Kinder nicht unberührt gelassen hat, wenn man dann noch bedenkt, dass sich ihre Mutter zwei Jahre danach ebenfalls das Leben genommen hat, nur weil sie sich mit dem falschen Mann eingelassen hatte. Das muss Bertram und Anja tief getroffen haben. Vor allem Anja. Sie wird für den Rest ihres Lebens schwer daran zu tragen haben. Die Beziehungen zwischen Müttern |35|und Töchtern sind eine höchst komplizierte Sache. Ich bin überzeugt, dass Mütter einen größeren Einfluss auf das Leben ihrer Töchter haben als die es jemals zugeben. Ich würde mich nicht wundern, wenn Anja eines Tages daran zerbricht.«
»Wir wissen das nicht, und ich hoffe, wir werden es nie erfahren«, antwortete Marder und stand abrupt auf. »Komm, lass uns in den Wald gehen. Vielleicht kommen wir dort auf schönere Gedanken.«
Ein Irrtum. Große Bereiche des Waldes befanden sich im Zustand absurder Verwüstung. Kyrill hatte breite Schneisen der Zerstörung in den Wald gerissen. Es gab kaum Übergänge zwischen den Flächen, wo der Wald gnadenlos abrasiert worden war und denen, wo er beinahe unberührt stehen geblieben war. Vor allem Nadelbäume mit ihren flachen Wurzeln hatten der Gewalt des Windes nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Bäume waren aus der Erde gerissen und lagen ineinander verkeilt auf dem Boden. Andere waren abgebrochen, entweder auf halber Höhe oder unterhalb ihrer Krone, ihre bizarren Stümpfe zeigten in den Himmel wie verhöhnend erhobene Finger. Marder musste an die Stahlträger des World Trade Centers in New York denken, die aus den Ruinen der beiden in sich gesunkenen Türme empor ragten. Aus den Wunden der Bäume floss der Saft, der sie am Leben gehalten hatte. Marder musste unwillkürlich an die toten Menschen denken, die er zu oft in seinen Berufsjahren als Kriminalist betrachten musste. Auch aus ihren Wunden war oft der Saft des Lebens geflossen, nur war es nicht Harz, sondern Blut gewesen.
Den wenigen Laubbäumen, die in diesem Bereich des Waldes gestanden hatten, war es nur wenig besser ergangen. Einige |36|von ihnen waren ebenfalls unter der ungeheuren Wucht des Windes umgestürzt. Die noch standen, hatten zerrissene Kronen, ihre Äste hingen wie Fetzen an den Stämmen herunter. Über allem lag die Stille eines Friedhofs, Geräusche, die das Leben im Wald bezeugten, fehlten. Vögel, die hier gebrütet hatten, mussten woanders neu anfangen, ebenso die Tiere, die auf dem Boden lebten. Seit dem Sturm waren mehrere Wochen vergangen, aber die Forstverwaltung hatte es noch nicht geschafft, die Waldwege freizuräumen, nur der Hauptweg war notdürftig freigemacht. Man hatte die Baumstämme, die darübergefallen waren, durchgesägt, an den Seiten notdürftig gestapelt und dadurch einen Pfad durch das Chaos geschnitten.
Ein leichter Wind wehte über den Hang. Er brachte den Geruch von frischem Holz mit sich. Der Wald war hier zwar gestorben, aber er hatte noch nicht angefangen zu vermodern. In der Luft schwebte ein Raubvogel, der den Wirrwarr unter sich beobachtete, vielleicht hoffte er auf eine mühelose Mahlzeit – ein verendetes Kleintier, das ein Opfer der umstürzenden Bäume geworden war.
Während Manfred und Iris Marder dieses Chaos betrachteten, erfüllte ein leises Geräusch die Luft, ein Knistern, als ob sich Elektrizität entlud. Der Ton wurde eindringlicher, aggressiver, ging in ein Krachen über. Er kam vom Rand des zerstörten Gebietes, dort wo der Wald begann, der überlebt hatte. Die Krone einer Fichte neigte sich zur Seite, brach ab und fiel auf den Waldboden. Kyrill hatte den Baum offensichtlich beschädigt, das Werk der Zerstörung aber nicht vollenden können. Das hatte die Natur nun nachgeholt. Marder erschauderte, es hätte ebenso der Baum sein können, in dessen |37|Nähe sie gerade standen. Sie gingen wenige hundert Meter bergauf, dort war die Welt wieder in Ordnung, der Wald friedlich und voller Hoffnung, wie es zu Beginn des Frühlings in jedem Jahr war – so als hätte es den Orkan nie gegeben. Kyrill hatte trotz seiner Wut nur Schneisen von mehreren hundert Metern Breite durch den Deister geschlagen, dort seinen Zorn und Furor ausgetobt und den Rest der Hügel weitgehend verschont.
Auf dem Weg in die Stadt zurück kam ihnen eine riesige Holzerntemaschine vom Typ »Harvester« entgegen. Die Menschen waren dabei, wieder Ordnung in den deutschen Wald zu bringen.