Читать книгу Blutholz - Wolfgang Teltscher - Страница 6

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Kyrill war ein Killer. Er hatte sich aus dem Nordwesten auf das Land geworfen, keine Zweifel an seinen zerstörerischen Absichten gelassen, auf seinem Weg Sorgen und Furcht verbreitet. Bevor er sich ausgetobt hatte, raste er durch die Wälder des Deisters und schlug wütend auf die Ortschaften an beiden Seiten dieses Bergzuges ein.

Anja nahm den Orkan kaum wahr. Wenn sie, wie heute Abend, in düsterer Stimmung war, hielt sie die Welt und die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, für bösartig und ungerecht. In diese Stimmung verfiel sie immer öfter seit ihre Eltern tot waren. Ihr Vater war ein schwermütiger und wortkarger Mann gewesen, der nach dem Beginn des Ruhestands |6|keinen Sinn mehr in einem Leben ohne Arbeit sah, und hatte es sich an einem Teich genommen. Seinen Tod hatte sie noch verkraften können, auch wenn es ihr schwergefallen war, seine Entscheidung zu verstehen. Ihre Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes, von dem sie sich innerlich lange vorher losgesagt hatte, eine neue Liebe gesucht. Als sie glaubte, diese gefunden zu haben, wurde sie von dem Mann bitter enttäuscht, außerdem noch verhöhnt. Da schien ihr das Leben ebenfalls nicht mehr lebenswert zu sein, und sie setzte ihm ein gewaltsames Ende. Von dem Zeitpunkt an war es in Anjas Leben bergab gegangen. Ihr Leben geriet aus der Bahn und sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal glücklich gewesen war. Immer öfter überkamen sie depressive Stimmungen. Immer öfter wurde sie einfach wütend und fing an, die Menschen in ihrer Umgebung zu beschimpfen und ihnen Vorwürfe zu machen. Kein Wunder, dass die Beziehungen zu den Menschen, mit denen sie zusammenlebte, eine nach der anderen in die Brüche gegangen waren. Übrig geblieben waren Trostlosigkeit und Verzweiflung.

Sie blickte auf den Bildschirm des Fernsehers. Sie sah Bilder und hörte Worte, die ihr Bewusstsein nicht erreichten. Es gab für sie keine andere Welt, außer der, in der sie lebte, in der sie unglücklich war.

Wie sollte es weitergehen?

Das Telefon klingelte, es riss sie aus ihrer Hoffnungslosigkeit. Sie brauchte eine Weile, bis sie merkte, dass das schrille Geräusch nicht aus dem Fernseher kam. Sie ließ es klingeln, sie war nicht in der Lage mit jemandem zu sprechen. Wahrscheinlich war es ohnehin nur Bertram, ihr Bruder, der wie immer über das Geld reden wollte, das sie ihm angeblich |7|schuldete. Er war ein Schwächling – anders konnte sie ihn nicht sehen, auch wenn er ihr Bruder war. Es wäre besser, überhaupt keinen Bruder zu haben als gerade diesen. Sie war sich bewusst, dass er sie verachtete. Das war okay, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nur, dass er in seinen Anschuldigungen und Forderungen immer aggressiver und rücksichtsloser wurde.

Sie hörte, wie im Treppenhaus die Haustür geöffnet wurde. Der Wind presste sich in das Haus und drängte selbst durch die geschlossene Tür in ihre Wohnung. Mit einem Knall schloss sich die Haustür wieder. Schritte kamen die Treppe herauf und verschwanden hinter der Tür auf der anderen Seite des Flurs. Das war offensichtlich eins der beiden Mädchen, die dort wohnten. Was für ein entsetzlicher Gedanke, die beiden nur eine Wand entfernt ertragen zu müssen. Wie widerlich, sich vorzustellen, was die in ihrem Schlafzimmer oder sonst wo in der Wohnung trieben. Was hätte sie nicht gegeben, wenn sie die beiden Typen aus dem Haus treiben könnte, und was hatte sie nicht alles versucht, um das zu erreichen. Sie war sich sicher, dass die beiden Frauen sie bis aufs Messer hassten, und sie hatte keine Ahnung, wozu die in ihrem Hass fähig waren.

Ihr Blick fiel durch die offene Schlafzimmertür. Das Bett war nicht gemacht. Sie hatte heute Morgen keine Lust und auch keinen Grund gehabt, das Schlafzimmer in einen appetitlichen Zustand zu bringen. Schließlich kam Einhardt schon seit einiger Zeit nicht mehr zu ihren nächtlichen Vergnügungen. Eigentlich war sie froh, ihn los zu sein, aber sie war sich klar, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Sie war dabei, ihn aus ihrem Leben zu löschen, und sie wünschte ihm |8|nichts Gutes für den Rest seines Daseins. Sie wusste etwas über ihn, womit sie ihn in der Hand hatte, und eines Tages würde sie ihn erbarmungslos zerquetschen. Aber sie wusste auch, dass er wusste, dass sie das wusste. Das machte ihr Sorgen. Wer weiß, was der in seiner Angst tun würde, um seine Zukunft vor ihrem Wissen zu schützen? Vermutlich würde Johanna dabei helfen.

Johanna, diese miese Type, die es nicht einsehen wollte, wenn sie verloren hatte. Hatte sich früher als ihre Freundin ausgegeben, später war die Freundschaft in Hass umgeschlagen. Der natürliche Lauf der Dinge war eben gegen Johanna gewesen und es war totaler Unsinn, dass sie ihr die Schuld dafür gab. Jetzt kocht Johanna in ihrem Unglück und überlegt wohl, wie sie ihr die ganze Sache heimzahlen kann. Dabei würde sie vor nichts zurückschrecken, diese hysterische Ziege.

Anja ging in die Küche. Obwohl sie weder Hunger noch Appetit hatte, musste sie endlich essen, sie hatte den ganzen Tag nichts zu sich genommen. Irgendetwas würde sich im Kühlschrank finden lassen, das noch essbar war. Sie entdeckte ein Schälchen mit Spagetti und Tomatensauce, das mit einer Klarsichtfolie abgedeckt war und erst zwei oder drei Tage dort gestanden hatte. Das würde, kurz in der Mikrowelle aufgewärmt, als Mahlzeit reichen.

Als sie die Tür des Kühlschranks schloss, bemerkte sie eine Postkarte, die mit einem Magnet daran befestigt war. Die Karte hing dort seit Jahren. Es war eine Karte aus dem Harz von Burt Brenner, der sie ihr von einer Tagung der Kriminalpolizei aus Bad Harzburg geschickt hatte. Sie nahm die Karte und riss sie in kleine Stücke, die sie wütend in den Papierkorb |9|hinter dem Küchentisch warf. Sie hätte diese Karte längst entsorgen sollen, sie hatte es nur deshalb nicht getan, weil sie sie nicht mehr wahrgenommen hatte. Die Karte war ein Bestandteil des Kühlschranks geworden, so wie das Logo der Firma, die das Gerät hergestellt hatte. Sie wollte nicht an ihre Zeit mit Burt Brenner erinnert werden, dieser Mann war der größte Fehler in ihrem Leben gewesen. Was der jetzt wohl machte? Ob er mit ihr ebenso abgeschlossen hatte wie sie mit ihm? Wahrscheinlich nicht.

Es war elf Uhr, der Wind ums Haus heulte lauter als zuvor und schien nicht nachlassen zu wollen. Anja erinnerte sich nun, dass es eine Orkanwarnung für den heutigen Abend gegeben hatte. Der angekündigte Sturm schien in voller Stärke eingetroffen zu sein.

Anja war erschöpft. Sie nahm sich vor, bald zu einer Entscheidung zu kommen, wie es weitergehen sollte, wenn überhaupt. Aber nicht mehr heute Abend. Sie zwang sich, ihre Kleidung auszuziehen und ein Nachthemd überzustreifen. Burt hatte es ihr vor Jahren geschenkt, und sie fragte sich, warum sie es nicht längst in den Müll geworfen hatte. Sie legte sich ins Bett und versuchte gegen den Sturm anzuschlafen. Als der Wind gegen Morgen nachließ, träumte sie von einer langen Reise, an die sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnerte. Aber in der Nacht war ihr klar geworden, was sie als Nächstes zu tun hatte.

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