Читать книгу Blutholz - Wolfgang Teltscher - Страница 16
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Оглавление›25km/h max‹ sagte das Schild an der Hinterseite des Anhängers, der von einem Traktor gemächlich über die Landstraße gezogen wurde. Marder hatte die Lehne seines Sitzes auf ›zehn nach‹ gestellt und in den letzten Minuten dreimal sein Gewicht von der linken auf die rechte Seite und wieder zurück umgelagert. Ein unangenehmer Nachschmerz erinnerte ihn daran, dass noch vor wenigen Tagen ein Katheter in seinem Körper gesteckt hatte. Iris hatte darauf bestanden, zu chauffieren. Er blinzelte seine Frau durch halb geöffnete Augen von schräg hinten an, während sie sich auf das Bauerngefährt vor sich konzentrierte. Sie hatte zwei Gelegenheiten verpasst, den Traktor zu überholen, er unterließ es, sie darauf hinzuweisen, es schien, als genieße sie das langsame Tempo, das der Traktor ihr aufzwang. Sie überholte ungern auf Landstraßen, was ihr den gelegentlichen »Scheibenwischer« eines ungeduldigen Fahrers einbrachte. Sie sagte dann eher belustigt als verärgert: »Lieber langsam auf der Erde als schnell in den Himmel – oder in die Hölle.«
Er stellte mit Stolz fest, dass seine Frau für ihr Alter jugendlich und unverbraucht aussah. Andere Männer schätzten sie sicherlich zehn Jahre jünger ein, als sie es tatsächlich war, und beneideten ihn um seine jugendliche Frau. Sie hatte in der letzten halben Stunde geschwiegen und über etwas nachgedacht, ohne ihre Gedanken mit Marder zu teilen.
Sie fuhren hinter Nienburg durch eine Allee aus ehrwürdigen Bäumen. Eichen, Buchen, Kastanien oder Linden – die Bäume trugen keine Blätter, an denen er sie erkannt hätte. Außerdem blendete ihn die Sonne. Links und rechts der Straße |52|erstreckten sich sandige Ackerflächen, auf denen das erste Grün aus der Erde schaute, aus dem sich im Sommer Weizen, Kartoffeln oder Mais entwickeln würde. Dazwischen Spargelfelder mit schnurgeraden Furchen, wie Wellpappe unter einem Vergrößerungsglas. Zwischen den Feldern Kiefern und Fichten in Zweierreihen, die den Wind brachen.
»Iris, weißt du eigentlich, dass im alten China die Ärzte nicht dafür bezahlt wurden, dass sie ihre Patienten von Krankheiten heilten, sondern dafür, dass sie gar nicht erst krank wurden?«
»Das hast du mir neulich schon mal erzählt.«
»Tut mir leid, das hatte ich ganz vergessen.«
»Das macht nix, obwohl ich mir langsam Sorgen mache, dass du immer öfter Sachen vergisst. Aber abgesehen von deinen Problemen mit dem Gedächtnis kann ich mir das mit den chinesischen Ärzten nicht vorstellen. Wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»Wenn man so nutzlos im Krankenhaus herumliegt, kommen einem seltsame Gedanken. Man muss sich ja irgendwie beschäftigen, während man wartet, bis wieder ein Tag rum ist. Übrigens glaube ich genau wie du, dass die Sache mit den chinesischen Ärzten nur eine Geschichte ist, die sich jemand ausgedacht hat, um die fernöstliche Medizin zu romantisieren.«
»Du kannst dich doch nicht die ganze Zeit im Krankenhaus solchen Grübeleien hingeben. Es gibt bestimmt schönere Dinge, mit denen man sich beschäftigen kann.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts Besonderes. Aber da sind zum Beispiel die Krankenschwestern, die euch Männer ablenken. Manche von den Schwestern sahen richtig gut aus, fand ich.«
|53|»Vergiss nicht, dass in der Urologie für einen Mann alles ein bisschen peinlich ist, vor allem fremden Frauen gegenüber. Aber du hast trotzdem recht. Wenn man da so herumlungert, guckt man sich die Schwestern aus lauter Langeweile ein bisschen näher an. Manchmal freut man sich über das, was man sieht, und Freude soll ja angeblich den Heilungsprozess beschleunigen. Mit einem Katheter in den betroffenen Körperteilen ist das alles aber nicht so auf- oder erregend.«
Im nächsten Dorf bog der Trecker vor ihnen in einen Bauernhof ab, ein typischer Heidehof mit einem massigen Gebäude aus roten Backsteinen. Der imposante Innenhof war zur Straße hin offen, vor einem Seitengebäude waren drei Pferde angeleint, denen ein junger Mann mit einem Wasserschlauch die Beine abspritzte. Als der Traktor sich zur Seite drehte, stellte Marder fest, dass er von einem Mädchen gelenkt wurde, das nicht älter als achtzehn Jahre alt sein konnte. Das imponierte ihm, die jungen Leute auf dem Land waren anderen Anforderungen ausgesetzt als die verweichlichte Jugend in den Städten. Wahrscheinlich wurden sie auch seltener krank, weil sie durch die güllige Landluft und die Bakterien in den Ställen abgehärtet waren.
Iris unterbrach seine Betrachtungen.
»Ich will ja nicht, dass du denkst, ich wäre eifersüchtig auf die Schwestern oder so was … ich gönne dir ja deine kleinen Freuden … ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass du dich vielleicht im Krankenhaus gelangweilt hast.«
»Das verstehe ich, mein Schatz. Übrigens zwei von den Schwestern sind mir tatsächlich aufgefallen.«
|54|»Das waren wahrscheinlich die mit den großen Oberweite. Bei denen hat die Schwesterntracht ganz schön gespannt.«
»Das kann schon sein. Aber darum geht es nicht.«
»Das wundert mich. Bei euch Männer geht es doch immer um den Busen.«
»Das ist überhaupt nicht wahr, manchmal geht es auch um den Hintern.«
Iris verriss das Steuerrad, konnte sich aber wieder korrigieren. Marder versuchte es ebenfalls.
»Hör zu, das war nur ein Scherz, das mit dem Hintern. Du kennst doch meinen Humor.«
Um Iris’ Mund zuckte ein winziges Lächeln.
»Also, was war nun mit den Schwestern?«
»Das waren die Schwestern Sonja und Johanna. Wie gesagt, beide sehen toll aus, das ist nicht nur meine Meinung, auch meine Zimmergenossen haben das mit Freude registriert.«
Nach mehreren Jahrzehnten Ehe konnte sich Marder die Mitteilung einer solchen Beobachtung gegenüber seiner Frau leisten, sie wusste längst, dass ihr Mann, wenn er über Frauen um die zwanzig oder dreißig sprach, über Träume und nicht über Realitäten redete.
»Was mir dabei aufgefallen ist, dass die Sonja immer fröhlich und guter Laune war, während die Johanna immer ganz traurig geguckt hat. Ich bin mir sicher, dass sie eine unglückliche Frau ist. Das sah man ihren Augen an.«
»Bist du ganz sicher, dass du dir das nicht nur einbildest?«
»Es war jedenfalls mein Eindruck, eventuell habe ich mich aber in unsinnige Vorstellungen verrannt, weil ich mich gelangweilt habe, während ich müßig im Bett herumlag. Vielleicht |55|lag es auch daran, dass auf der Station diese Zeitschriften herumlagen, die sich ausschließlich mit – wie soll ich sagen? – zwischenmenschlichen Themen befassen.«
»Ich dachte, ihr Männer seid gegen solche Gefühlsduseleien immun.«
»Das ist nicht korrekt, mein Herz. Wir haben genauso viele Gefühle wie die Frauen, wir reden nur nicht ständig darüber. Aber um auf Schwester Johanna zurückzukommen, bei der bin ich absolut überzeugt, dass sie eine unglückliche Person ist.«
»Ich sage ja immer, dass gutes Aussehen keine Garantie für Glück ist. Vor allem nicht, wenn es um Liebe geht. Wenn sie wirklich so unglücklich ist, wie du sagst, gehe ich jede Wette ein, dass da ein Mann dahintersteckt.«
»Wenn das stimmt, dann muss der ganz schön blöd sein, einer so gutaussehenden Frau einen solchen Kummer zu machen.«
»Manchmal bist du ein richtiger Macho. So als ob Aussehen das Einzige ist, worauf es bei einer Frau ankommt.«
»Entschuldige, aber nicht jeder Mann kann das Glück wie ich haben, eine blendend aussehende Frau zu finden, die obendrein noch einen genau solchen Charakter hat.«
»Hör auf, mir zu schmeicheln, aber du hast in Bezug auf mich natürlich recht. Ich habe ja keine Ahnung, welche Probleme die Schwester Johanna hat, aber wenn es sich um ihr Liebesleben handelt, dann wird es vermutlich so sein wie meistens. Ihr Freund hat sie vielleicht verlassen, weil er sich in eine andere Frau verliebt hat, und sie ist wütend auf ihn. Und jemand der wütend ist, sieht meistens traurig und unglücklich aus.«
|56|Marder nickte zustimmend. Wenn es um Beziehungen zwischen Männern und Frauen ging, war Iris eine richtige Philosophin. Er war stolz darauf, nicht nur mit einer jugendlich aussehenden, sondern auch klugen Frau verheiratet zu sein.
»Übrigens«, sagte sie, »was ich dir immer schon mal sagen wollte. Ich hätte dir auch die Augen ausgekratzt, wenn du auf eins der Mädchen in deiner katholischen Jugendgruppe hereingefallen wärst, die dich immer so liebevoll angeschaut haben.«
»Das war doch völlig harmlos, damals war mein Lebensziel noch, ein Heiliger zu werden, mit Zölibat und so. Aber dieses Projekt hast du ja ruiniert.«
Die Heide, durch die sie fuhren, war wenig abwechslungsreich, sie sah nicht einmal wie Heide aus, vor allem war von typischen Heidepflanzen wie Erika keine Spur. Es war eine baumlose Fläche von rechteckigen, ebenen Feldern. Er ließ seine Gedanken ins Unnütze schweifen, schlief darüber ein und wachte nach einer kleinen Weile erschrocken wieder auf, weil er im ersten Moment nicht wusste, wo er war und warum.
Die Landschaft hatte sich zum Besseren verändert. Am Straßenrand standen Birken, auf beiden Seiten des Weges lagen feuchte Wiesen und Moorflächen, die von Gräben entwässert wurden. Sie fuhren durch ein kleines, ziemlich armseliges Dorf, das Büttenwarder hieß. Marder kam der Name bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, woher. Ein Mofa kam ihnen entgegen, auf dem zwei Bauern in verschlissener Arbeitskleidung saßen und in Schlangenlinien die Dorfstraße entlangfuhren. Iris musste scharf bremsen und |57|rechts an den Straßenrand fahren, um nicht mit dem Mofa zu kollidieren. Dieses leicht vernachlässigte Dorf war zum Glück eher die Ausnahme in einer ansonsten schmucken bäuerlichen Gegend.
Sie überquerten kleine Flüsse, die in westlicher Richtung, vermutlich zur Weser, flossen. In den Orten waren viele Fachwerkhäuser in den letzten Jahren restauriert worden und strahlten ein Gefühl von Tradition und Geborgenheit aus. An den Rändern der meisten Dörfer waren Gewerbegebiete gewachsen, deren nüchterner Anblick im krassen Gegensatz zum Charme der alten Ortskerne stand. In Rotenburg an der Wümme machten sie Halt und fanden ein romantisches Café in der Innenstadt. Marder bestellte sich ein Stück Schokoladentorte mit einem Schlag Sahne. Iris, nach einem missbilligenden Blick auf die Kalorienbombe ihres Mannes, orderte ein Stück Obstkuchen ohne Sahne.
Bei Sittensen nahm Iris das Gespräch wieder auf.
»Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass mich das Schicksal von Schwester Johanna nicht sonderlich interessiert. Aber weißt du, woran ich oft denken muss, seit wir in Barsinghausen waren und an dem Teich gesessen haben, wo Matuschek gestorben ist?«
»Da du den Teich erwähnst, glaube ich, kann ich es mir denken.«
»An die Kinder der Matuscheks. Was die beiden in den letzten Jahren durchgemacht haben, würde man seinem schlimmsten Feind nicht wünschen. Es wäre kein Wunder, wenn sie sich manchmal sonderbar benehmen und auf Leute, die ihren Hintergrund nicht kennen, einen seltsamen Eindruck machen.«
|58|»So was Ähnliches hast du ja schon gesagt, als wir an dem Teich waren, und du hast sicher nicht ganz unrecht«, stimmte Marder vorsichtig zu.
Iris fuhr fort.
»Man muss sich das mal vorstellen. Erst verlieren sie auf tragische Art ihren Vater. Dann stirbt zwei Jahre später ihre Mutter, weil sie in eine hoffnungslose Liebesgeschichte geraten war.«
»Und was schließt du daraus?«
»Wenn ich das bloß wüsste. Bei Bertram mache ich mir keine besonderen Gedanken – nach dem, was du mir von ihm erzählt hast, bringt ihn das nicht unbedingt aus dem Gleichgewicht. Aber ich bin überzeugt, Anja ist traumatisiert und völlig durcheinander und ich kann gut verstehen, wenn sie unter diesem Stress manchmal unberechenbar reagiert. Dabei denke ich an nichts Bestimmtes, weil ich ja keine Ahnung habe, was sie im Moment so treibt«, antwortete Iris, während sie von einem Motorradfahrer in einer unüberschaubaren Kurve überholt wurden. Sie schaute dem Fahrer vorwurfsvoll hinterher.
»Wenn der immer so fährt, kann er sein Motorrad irgendwann gegen einen Rollstuhl eintauschen«, meinte sie.
Marder nickte zustimmend, obwohl er heimlich den Motorradfahrer um das Gefühl der Freiheit beneidete.
»Also, vor zwei Jahren, als ich in Barsinghausen war, war Anja mit Burt Brenner von der Kripo liiert, die haben sogar zusammengelebt. Ob das noch so ist, weiß ich nicht. Frau Thann wusste es auch nicht, als ich sie danach gefragt habe.«
»Na ja! Anja und Bertram müssen mit ihrem Leben selbst zurechtkommen. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns den |59|Kopf darüber zerbrechen, wir können ihnen sowieso nicht helfen.«
»Das stimmt.« Marder sah das genauso. »Ich denke wie du, dass Bertram weniger unter der Situation leidet. Er hatte sich früher bereits von der Familie abgekapselt, als ginge es ihn nichts an, was seine Eltern und seine Schwester machten. Ich habe ihn nie verstehen können. Aber vielleicht kann er gerade deswegen besser mit dem Tod seiner Eltern umgehen. Vielleicht täuschen wir uns aber auch, man kann letztlich in keinen Menschen hineinschauen.«
»Hat er nicht beim Forstamt gearbeitet? Wollte er nicht nach dem Tod seiner Mutter nach Kanada auswandern?«
Iris hatte ein gutes Gedächtnis und kaum etwas vergessen, was ihr Mann vor zwei Jahren über die Matuscheks berichtet hatte. Sie blickte Marder fragend an. Der zeigte mit der Hand auffordernd nach vorn, weil er es nicht gern hatte, wenn seine Frau beim Fahren ihre Blicke von der Straße nahm und ihn anschaute.
»Ja, jetzt wo du mich daran erinnerst, fällt es mir wieder ein. Er wollte auswandern, nach Kanada, Australien oder woandershin, so genau weiß ich das nicht mehr. Auf jeden Fall wollte er weit weg. Aber ich glaube, das hätte an seiner negativen Einstellung nichts geändert, schließlich kann er nicht vor sich selbst weglaufen.«
Stade war nicht mehr weit. Die Gegend war waldig geworden. An manchen Seitenwegen, die in den Wald führten, standen kleine Wohnwagen mit einladenden roten Herzen auf der Karosserie und rosa Gardinen vor den Scheiben. Das waren die Gewerbegebiete von Frauen, die sich mit liebevoller Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten.