Читать книгу Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war - Wolfgang Teltscher - Страница 11
ОглавлениеEndlich wollte Olaf die alten Sachen aufräumen. Den wertlosen Krempel entsorgen, der seit eh und je in der leeren Wohnung herumlag, der nur noch Spinnen dazu diente, Netze zwischen ihm zu weben. Jetzt, wo sein Vater seit zwei Jahren tot war, brauchte er keine Hemmungen mehr zu haben. Der alte Mann war auf tragische Weise umgekommen, ein Raser hatte ihn auf einer kurvenreichen Landstraße bei Wachtberg im falschen Moment überholt. Beide konnten einem entgegenkommenden Lastwagen nicht mehr ausweichen. Im Krankenhaus hatte man ihn drei Tage am Leben halten können, dann war alles sehr schnell gegangen. Dass der Raser dabei auch zu Tode gekommen war, war nur gerecht. Alles sehr traurig, aber das Leben musste weitergehen.
Das Haus war fast noch in dem Zustand, wie es sein Großvater Engelbert Bergmeister kurz nach dem Krieg hinterlassen hatte. Olafs Vater hatte nie Anstalten gemacht, es zu renovieren, er lebte in dem Haus bis zu seinem Ende und hob alles auf, was vom Großvater darin geblieben war, und zusätzlich das, was in seinem eigenen Leben dazugekommen war. Nachdem der Vater gestorben war, war Olaf durch das Haus gegangen und hatte alles herausgeholt, was ihm Wert zu haben schien. Das war nicht viel, antike Möbel oder Schmuck erst recht nicht. Wenn es etwas von Wert darin gegeben hätte, hätte der Vater es längst verscherbelt, um seine Rechnungen in den Gastwirtschaften von Remagen zu bezahlen.
Das Haus war ein kleines, altes Gebäude, eingeklemmt zwischen ebenso kleine und unansehnliche Gebäude im ältesten Teil der Stadt. Von hier war es nicht weit zum Rhein und zu den Kneipen, wo der Vater den größten Teil seiner Freizeit verbracht hatte. Olaf war lange vor dem Tod seines Vaters aus dem Haus ausgezogen und hatte sich in der Nachbarschaft eine kleine Wohnung gemietet. Nun stand das Haus leer und verfiel immer mehr und damit auch sein Wert. Die Leute in der Straße behaupteten, das Haus sei ein Schandfleck in der Nachbarschaft, es sei an der Zeit, dass etwas damit passiere. Das müssen die gerade sagen, hatte Olaf sich beruhigt, ihre Häuser sehen auch nicht viel besser aus.
Die Mutter hatte den Vater vor Jahren verlassen, sie war mit einem jüngeren Mann durchgebrannt. Olaf hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in seiner eigenen Wohnung gewohnt und sich längst daran gewöhnt, ohne ihre Fürsorge auszukommen. Sie lebte jetzt, soweit er wusste, irgendwo im Süden Europas. In den ersten Jahren nach der Trennung war wenigstens zu Weihnachten eine Postkarte von ihr gekommen, aber das hatte inzwischen aufgehört. Dass sie noch lebte, war alles, was er von ihr wusste, er hatte ihre Anschrift und E-Mail-Adresse in einem Verzeichnis im Internet gefunden. Er hatte sich kurz überlegt, ob er ihr eine Mail schicken sollte, den Gedanken aber wieder fallen gelassen. Er konnte heute verstehen, dass die Mutter das Weite gesucht hatte, als sich die Gelegenheit durch einen anderen Mann geboten hatte. Sie hatte es wohl satt, jeden Abend in der Wohnung auf ihren Mann zu warten, bis er von seinen Kneipentouren zurückkam. Kneipen hatte es damals in Remagen in Hülle und Fülle gegeben, es sollen vor dreißig, vierzig Jahren an die hundert gewesen sein. Kein Wunder, dass der Vater schwer den Weg nach Hause gefunden hatte. Die Mutter jedenfalls hatte ihre Familie in Remagen hinter sich gelassen, als ob sie nie Teil ihres Lebens gewesen war. Olaf hatte sich damit arrangiert und sich daran gewöhnt, keine Mutter mehr zu haben.
Nachdem er das Haus geerbt hatte, war es nie seine Absicht gewesen, dort einzuziehen. Dafür waren die Erinnerungen an seine Kindheit nicht schön genug. Um es zu verkaufen, hatte er sich an einen Makler gewandt, der ihm klar machte, wie wenig Geld er für dieses Haus in seinem vernachlässigtem Zustand erwarten konnte. Daraufhin hatte er das Haus vom Markt genommen und gehofft, dass steigende Immobilienpreise das Problem lösen würden. Das war nicht geschehen, ganz im Gegenteil, es wurden in der Nachbarschaft ständig ähnlich renovierungsbedürftige Häuser zum Verkauf angeboten, die nur schwer Käufer fanden.
Das war ihm mittlerweile gleichgültig, er war das Warten auf steigende Immobilienwerte leid. Er wollte das Haus um jeden Preis loswerden, denn in Anbetracht seiner finanziellen Lage war ein bisschen Geld besser als überhaupt kein Geld. Sein Großvater war früh gestorben, als er beinahe noch ein junger Mann gewesen war. Welch eine traurige Geschichte. Er überlebte den Krieg und die Gefangenschaft und heiratete kurz nach dem Krieg seine Gerlinde. Das hatten sie sich schließlich versprochen, bevor er zur Armee eingezogen wurde. So waren die Menschen damals eben, vor allem wenn sie gute Katholiken waren wie die Großmutter. Ein Eheversprechen war ein Versprechen für die Ewigkeit, selbst wenn ein Weltkrieg dazwischenkam. Es soll für die Zeit kurz nach dem Krieg eine prunkvolle Hochzeit gewesen sein. Die geladenen Gäste hatten sich wohl über den Glanz des Festes gewundert, aber es war nicht überliefert, dass sich jemand über die großzügige Bewirtung beschwert hatte. Die alten Leute in der Stadt, die dabei gewesen waren und noch lebten, schwärmten davon, wenn sie über die guten alten Zeiten sprachen. Zeiten, die nach heutigem Maßstab alles andere als gut gewesen waren.
Es war eine Zeit der Dürftigkeit und Bescheidenheit am Rhein gewesen, wie überall in Deutschland. Die Menschen hatten im Krieg gelitten, einige hatten alles verloren. Am schlimmsten waren die betroffen, deren Söhne nicht aus dem Krieg zurückkamen. Das Wirtschaftswunder hatte noch nicht angefangen und die Menschen lebten oft von der Hand in den Mund. Wer es sich leisten konnte, holte sich ein bisschen Luxus vom Schwarzmarkt. Vielleicht hing die Hochzeitfeier von Engelbert Bergmeister und seiner Braut Gerlinde deswegen so lange in den Gedächtnissen nach. Man fragte sich damals, woher Engelbert das Geld hatte, um all die Speisen und Getränke zu besorgen.
Das alles wusste Olaf von seiner Großmutter. Sie meinte, auch sie hätte sich über den Wohlstand ihres Bräutigams gewundert, aber als glückliche Braut hätte sie natürlich nicht nachgefragt, wo das Geld herkam, und von sich aus hätte Engelbert nie darüber gesprochen. Er habe nur gesagt, dass er vor dem Krieg genug gespart hatte, um sich diese Hochzeit zu leisten, es sollte schließlich der schönste Tag in ihrem Leben werden.
Leider hatte der Großvater das Eheleben mit seiner Frau nicht lange genießen können, er ließ sie schon am Ende des gleichen Jahres als Witwe zurück. Eine Lungenentzündung, die er sich während der Zeit in dem Gefangenenlager auf den Rheinwiesen zwischen Remagen und Sinzig zugezogen hatte, war nicht in den Griff zu kriegen. Sie machte seinem Leben ein plötzliches und trauriges Ende. Die Kraft des Großvaters reichte noch, um einen Sohn zu zeugen, aber danach ging es mit ihm rapide bergab. Dieser Sohn war Olafs Vater Johannes gewesen, der nun auch nicht mehr auf der Erde war. Was für ein Segen, dass das mit der Zeugung noch geklappt hat, dachte Olaf Bergmeister, wenn das dem Großvater nicht gelungen wäre, gäbe es mich nicht. Manchmal fragte er sich, ob es Leute gab, die ihn vermissen würden. Viele wollten ihm nicht einfallen.
Die Großmutter hatte nie wieder geheiratet und nur selten über ihren Engelbert gesprochen. Wenn sie es tat, bestand sie stets darauf, dass sie ihn über alles geliebt habe und sich keinen anderen Mann an ihrer Seite vorstellen konnte. Erst spät in ihrem Leben, als sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte, hatte sie Olaf die Wahrheit anvertraut, die ihr seit ihrer Hochzeit zu schaffen gemacht hatte. Sie sagte, sie wolle sich etwas von der Seele reden, wovon niemand ahne, dass es dort schlummere. Sie würde sich nicht einmal trauen, mit einem Priester in der Beichte darüber zu sprechen. Denn was würde der dann von ihr denken? Selbst die Angst vor einem unendlich langen Aufenthalt im Fegefeuer oder in der Hölle konnte sie nicht dazu bewegen.
Sie hatte Olaf erzählt, dass sie sich ihr Leben lang geschämt hatte, keine echte Trauer empfunden zu haben, als ihr Mann weniger als ein Jahr nach der Hochzeit an den Folgen der Krankheit starb, an der er seit der Kriegsgefangenschaft gelitten hatte. Zum Glück habe sie als Ergebnis der Ehe mit Engelbert wenigstens einen Sohn auf die Welt gebracht, der sei ihr Ein und Alles gewesen und habe ihr Trost für ihr Versagen als Ehefrau gegeben.
Sie sagte, sie hätte den Großvater eigentlich nicht heiraten dürfen, wenn sie auf ihr Gefühl gehört hätte. Als er aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkam, sei er eine andere Person geworden, als er es vorher gewesen war. Manchmal machte er einen verwirrten Eindruck und sagte Dinge, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Er war nicht mehr der offene und liebenswerte Mann, der um sie geworben hatte. Sie hatte in ihrem Herzen gemerkt, dass ihre Liebe für ihn längst nicht so mehr bedingungslos war wie vor seiner Einberufung zum Militär. Aber weil er so viel Schlimmes durchgemacht hatte, tat er ihr leid und sie hatte nicht die Kraft gefunden, ihn mit ihren wahren Gefühlen zu konfrontieren. Sie hatte geglaubt, die Liebe würde sich mit der Zeit wieder einstellen. Außerdem war es für ihre ganze Familie selbstverständlich, dass sie Engelbert heiratete, als er nach all den Leiden wieder zuhause war. Er habe ein Recht darauf, nun die schönen Seiten des Lebens zu genießen. Dazu gehörten eine Ehefrau und die Freuden, die sie mit sich brachte. Sie habe ihm schließlich versprochen, ihn zu lieben, zu achten und zu ehren in guten und in schlechten Tagen.
Wenige Wochen, nachdem sie Olaf in dieses Geheimnis eingeweiht hatte, starb sie einen ruhigen Tod.
Olaf hatte inzwischen den Unrat seines Vaters aussortiert, den er in den Müll schmeißen wollte. Für die alten Möbel würde mit Sicherheit niemand etwas bezahlen wollen, die würde er einem karitativen Verein in der Stadt kostenlos anbieten. Was die nicht wollten, würden sie hoffentlich als Gegenleistung für seine Großzügigkeit kostenlos zur Deponie für Sperrmüll in Niederzissen bringen.
Im Schlafzimmer herrschte ein muffiger Geruch, damit unterschied es sich nur wenig von den anderen Räumen des Hauses. Die Matratzen waren feucht und wiesen unübersehbar Flecken von Schimmel auf, in einer Ecke lagen noch alte Bettlaken, in denen Generationen von Motten Hochzeit gefeiert und ihre Jungen großgezogen hatten. An den Wänden befanden sich Wasserflecken, die Nässe hatte über die Zeit ihren Weg durch das Dach und die Mauern gefunden. Überall Dreck. Egal, was er anfasste oder wohin er sich bewegte, alles verursachte unerträgliche Staubwolken.
Olaf wollte schnell wieder aus dem Haus, hier hielt ihn nichts, keine schönen Erinnerungen an Kindertage, vor allem nicht an liebevolle Eltern. Nur den Papierkram, den er in einer Schublade in dem Wrack des Küchenschranks findet, blätterte er schnell durch, um sicherzugehen, dass auch hier nichts Wertvolles darunter war. Das konnte er sich ohnehin bei bestem Willen nicht vorstellen. Alte Bücher, vergilbte Postkarten von vergessenen Ferien, Briefe aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts von Absendern, die ihm nichts bedeuteten, dazu jede Menge belanglose Zettel. Weg damit. Offizielle Dokumente wie zum Beispiel den Entlassungsschein des Großvaters aus der Kriegsgefangenschaft oder die Geburtsurkunde von seinem Vater aus dem Jahr 1946 wollte er lieber aufheben, man wusste ja nie, wofür.
Als er die gefalteten Urkunden zur Seite legen wollte, fiel ein loses Blatt heraus. Das Material des Papiers war grob und grau, wie Papier nach dem Krieg wohl gewesen war. An den Rändern hatte es kleine Einrisse. Es handelte sich um ein Schriftstück in altmodischer, verwaschener und verwackelter Schrift, als sei es dem Autor nur mit Mühe gelungen, den Text zu verfassen. Die Worte waren schwer lesbar. Am oberen Rand des Blattes konnte Olaf die Worte Wichtige Notiz entziffern, die im Gegensatz zum Rest des Textes in säuberlicher Druckschrift geschrieben waren.
Er fragte sich, ob es die Mühe wert war, das alte Ding zu lesen. Wahrscheinlich ein Schriftstück, das vielleicht vor sechzig Jahren oder mehr wichtig gewesen war, aber heute mit Sicherheit irrelevant und wertlos war. Er wollte es zerknittern, aber dann erwachte doch noch seine Neugier. Er drehte das Papier um und sah, dass es auf beiden Seiten beschrieben war. Er zog es nahe an seine Augen heran und begann zu lesen, mühsam und langsam, Zeile für Zeile. Nachdem er damit fertig war, ging sein Atem schwer. Er las es noch einmal, Wort für Wort, mit ungläubigem Staunen.